Philippe Delelis : Die letzte Kantate

Die letzte Kantate
Originaltitel: La Dernière Cantate Editions J. C. Lattès, Paris 1998 Die letzte Kantate Übersetzung: Eliane Hagedorn und Barbara Reitz Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000 Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004 ISBN 3-423-20688-8, 304 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Bei dem Versuch, zu beweisen, dass ein Computer aus einem vorgegebenen Thema eine meisterhafte Fuge entwickeln könne, stößt ein drittklassiger französischer Komponist auf ein Geheimnis in Johann Sebastian Bachs "Musikalischem Opfer", dessen Aufdeckung offenbar mit allen Mitteln verhindert werden soll, denn drei Menschen werden im Zusammenhang damit ermordet ...
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Kritik

Abgesehen von einem recht unbekümmerten Umgang mit der Plausibilität ist "Die letzte Kantate" ein spannender Kriminalroman und eine vergnügliche kleine Zeitreise durch die Musikgeschichte von Johann Sebastian Bach bis Anton von Webern.
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Laetitia Forzza, die dreiundzwanzigjährige Tochter des Lyoner Bankiers George Picart-Davant und der venezianischen Prinzessin Giovanna Forzza, studiert Musik am Konservatorium in Paris. Bei der schwierigsten Prüfung wird jedem Prüfling von 6.30 bis 23.30 Uhr in der „Cité de la Musique“ im Stadtteil La Villette ein eigenes Zimmer zugewiesen und es gilt, in den siebzehn Stunden aus einem vorgegebenen Thema eine Fuge zu entwickeln. Als Laetitia sich das ausgegebene Blatt mit 21 Noten in 8 Takten ansieht, merkt sie bald, dass es sich um die Umkehrung des königlichen Themas aus Johann Sebastian Bachs „Musikalischem Opfer“ handelt.

Natürlich kennt sie die überlieferte Geschichte vom Besuch Bachs bei Friedrich II. am 7. Mai 1747 in Sanssouci. Im Verlauf der Begegnung spielte der König auf einem Pianoforte ein von ihm selbst komponiertes Thema und forderte seinen Besucher auf, sich an das Hammerklavier zu setzen und aus dem vorgegebenen Thema spontan eine Fuge zu entwickeln. Zurück in Leipzig, komponierte Johann Sebastian Bach aus dem in Potsdam gestellten Thema eine drei- und eine sechsstimmige Fuge, zehn kunstvolle Kanons sowie eine Sonate, die unter der Bezeichnung „Musikalisches Opfer“ in die Musikgeschichte eingingen.

Zwei Tage nach der Prüfung – deren Ergebnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht – lädt Laetitia außer ihrem aus Lyon angereisten Vater Georges Picart-Davant und ihrem Geliebten Pascal de Lissac, dem dreiunddreißig Jahre alten stellvertretenden Direktor des französischen Kulturministeriums, zwei Freunde ein: den fünfzigjährigen Musikkritiker Maurice Perrin und Pierre Farant, der wie ein großer Bruder für sie ist, vor vier Jahren, mit vierundzwanzig, sein Musikstudium abschloss und inzwischen von Auftragskompositionen für zweitklassige Filme lebt. Auch der Musikprofessor Augustin Duparc nimmt an dem Umtrunk teil. Laetitia hält ein Champagnerglas in der linken Hand, schlägt mit der anderen auf dem Flügel das Prüfungsthema an und fragt ihre Gäste, ob sie es erkennen. Professor Duparc hält sich zurück, und die übrigen Herren kommen erst darauf, als Laetitia das Thema rückwärts, also in der Originalversion, spielt. Im weiteren Verlauf des Abends gerät Pierre mit Maurice in Streit, als er behauptet, heutzutage könne ein leistungsstarker Computer mindestens ebenso gute Fugen entwickeln. Mit dem von Friedrich dem Großen vorgegeben und von Bach verwendeten Thema will er es beweisen.

Obwohl Pierre mit der Musik für einen Pornofilm in Verzug ist, lässt ihm die selbst gestellte Aufgabe keine Ruhe, und er bittet seinen Freund Louis, der als Informatiker an dem von Pierre Boulez eingerichteten „Institut de recherche et de coordination acoustique-musique“ im Centre Pompidou arbeitet, den Großrechner benützen zu dürfen.

Er gibt dem Computer das königliche Thema vor und setzt als Rahmenbedingung, dass die Maschine daraus eine vierstimmige Fuge im Stil des 18. Jahrhunderts entwickeln soll. Als er nach dem Ergebnis schaut, stellt er verblüfft fest, dass auf dem Bildschirm „error“ ausgegeben wird. Johann Sebastian Bach soll sich geirrt haben?! Stundenlang sucht Pierre nach der Ursache der Fehlermeldung. Dann wählt er begeistert Laetitias Telefonnummer. Leider meldet sich nur der Anrufbeantworter, und Pierre kann seiner Freundin nur die Nachricht hinterlassen, er habe etwas Unglaubliches über das „Musikalische Opfer“ herausgefunden. Später versucht er von Zuhause aus noch einmal, Laetitia telefonisch zu erreichen.

Am nächsten Tag findet man seine Leiche. Die tödliche Brustverletzung lässt darauf schließen, dass Pierre mit einem Schwert erstochen wurde.

Gilles Béranger leitet die Ermittlungen. Neben der Aufklärung aktueller Mordfälle beschäftigt sich der dreiunddreißig Jahre alte Kommissar mit dem Tod von Wolfgang Amadeus Mozart. Gilles ist überzeugt, dass Mozart in der Nacht vom 4./5. Dezember 1791 ermordet wurde, denn der Fünfunddreißigjährige war am 3. Dezember, also kurz vor seinem Tod, immerhin noch nicht zu krank für eine anstrengende Probe gewesen. Das Gerücht, Antonio Salieri habe Mozart aus Eifersucht auf dessen geniale Begabung vergiftet, hält der Kommissar für falsch. Constanze hätte ein Motiv gehabt, ihren Ehemann zu töten: seine Untreue, vielleicht sogar ein Verhältnis mit ihrer Schwester Sophie. Dann gab es da noch eine Schülerin Mozarts namens Magdalena Hofdemel. Ihr Ehemann Franz tötete sie am 10. Dezember mit einem Rasiermesser und nahm sich dann selbst das Leben. Magdalena war schwanger. Vielleicht hat sie sich durch ihre Trauer über Mozarts Tod verraten. Als Hauptverdächtigen betrachtet Gilles jedoch den geheimnisvollen Boten des Grafen von Walsegg-Stuppach, der das Requiem in Auftrag gegeben hatte und die von Franz Xaver Süßmayr ergänzte Fassung am 14. Dezember 1793 in Wiener-Neustadt unter seinem eigenen Namen aufführen ließ.

Über die Wahlwiederholung an Pierre Farants Telefon stoßen Kommissar Béranger und sein einige Jahre älterer Mitarbeiter, Hauptmeister Letaillis, auf Laetitia Forzza, die über den Tod ihres Freundes erschüttert ist. Inzwischen weiß die Polizei aufgrund von Untersuchungen, dass die Tatwaffe aus der Zeit stammt, in der Johann Sebastian Bach das „Musikalische Opfer“ komponierte.

Laetitia geht aus der Musikprüfung als Beste hervor und erfährt erst jetzt, dass Professor Augustin Duparc das Thema ausgewählt hatte. Sie wundert sich darüber, dass er bei dem Umtrunk zwei Tage nach der Prüfung nichts davon erwähnte.

Als Maurice Perrin hört, dass Pierre Farant ermordet wurde, nachdem er etwas Wichtiges über das „Musikalische Opfer“ herausbekommen hatte, blättert er verbissen in Büchern und Partituren, um herauszufinden, was es gewesen sein könnte. Er weiß natürlich, dass Johann Sebastian Bach sich intensiv mit der Gematrie beschäftigte, einer von der Kabbala abgeleiteten Ziffernsprache. Auch mit Buchstaben spielte Bach gern. So ergeben beispielsweise die Initialen der Widmung auf der Titelseite des dem König übersandten „Musikalischen Opfers“ – „Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta“ (auf Geheiß des Königs werden das Thema und die Zusätze nach der Kunst des Kanons abgefasst) – die Bezeichnung für eine alte Form der Fuge: Ricercar. Spät am Abend spricht er Laetitia triumphierend eine Nachricht auf den Anrufbeantworter:

„Jetzt ist mir klar, wozu die Fuge gedient haben könnte. Ich habe das Rätsel noch nicht vollständig gelöst, aber es wird nicht mehr lange dauern.“ (Seite 190)

Kurz darauf stirbt Maurice Perrin unter einem Schwertstreich.

Laetitia glaubt es ihren beiden ermordeten Freunden schuldig zu sein, das im „Musikalischen Opfer“ versteckte Geheimnis aufzudecken, und sie hält sich an Bachs Kommentar zum neunten und zehnten Kanon des „Musikalischen Opfers“: „Quaerendo invenietis“ (suchet, so werdet ihr finden). Sie probiert es mit den verschiedensten Symboliken – Zahlen, Planeten, Farben –, stößt aber auf keine brauchbare Spur. Immerhin kommt sie darauf, warum der Computer auf die von Pierre gestellte Aufgabe mit einer Fehlermeldung reagierte: Das königliche Thema enthält eine verminderte Septime, die zu Bachs Lebzeiten unüblich war. Also war es unmöglich, die Rahmenbedingung – eine Entwicklung der Fuge im Stil des 18. Jahrhunderts – zu erfüllen. Außerdem entdeckt sie, dass auch andere Komponisten das bereits von Bach bearbeitete königliche Thema aufgegriffen haben: Es ist zu Beginn von Mozarts Fantasie für Piano in c-Moll (KV 475) und im 3. Satz des 4. Streichquartetts (op. 18) von Ludwig van Beethoven zu hören, taucht dann im Blickmotiv der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner und in Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ („Der Abschied“) wieder auf, und Anton von Webern entwickelte aus dem Thema eine neue Fuge. Mit der Ausnahme Bach handelte es sich dabei um katholische Komponisten.

Selbst eine als Zitat aus dem Alten Testament verklausulierte Morddrohung hält Laetitia nicht davon ab, weiter nach dem Geheimnis zu suchen.

„Wo will man aber die Weisheit finden? […] Sie wird nicht gefunden im Land der Lebendigen.“ (Buch Hiob, Kapitel 28, Vers 12 und 13; hier: Seiten 200 / 277)

In beiden Mordfällen hat das Opfer auf Laetitias Anrufbeantworter eine Nachricht über eine bevorstehende Entdeckung in Bachs „Musikalischem Opfer“ hinterlassen. Gilles Béranger ist überzeugt, dass der Mörder Laetitias Anrufbeantworter abhört. Er muss also den Code für die Fernabfrage kennen. Die Zahlenkombination steht allerdings gleich auf der ersten Seite in ihrem Notizbuch. Der Verdacht fällt schließlich auf Professor Augustin Duparc, doch als die Polizei ihn in seinem Haus in Enghien verhaften will, findet sie ihn tot auf. Ein Schwert aus dem 18. Jahrhundert steckt in seiner Brust. Es sieht nach einem Suizid aus. Erst die Obduktion ergibt, dass Duparc nicht an der Wunde, sondern an einer Thallium-Vergiftung starb.

Weil die Ziffer 3 im „Musikalischen Opfer“ eine bedeutende Rolle spielte – Bach übersandte es Friedrich II. in drei Teilen, und im Zentrum steht eine Triosonate – probiert Laetitia mehrere Kombinationen aus und bildet aus dreimal drei Wörtern den Satz „Ew. Majestät Befehl: Größe und Stärke in der Musik“. Das war der geheime Auftrag des preußischen Königs an die großen Komponisten des deutschsprachigen Kulturraums! Konnte die drohende Aufdeckung dieses Geheimbefehls das Motiv für drei Morde sein? Laetitia hält das für ausgeschlossen und sucht deshalb im „Musikalischen Opfer“ nach einem weiteren Geheimnis.

Die einzelnen Kompositionen des „Musikalischen Opfers“ kann man um die Triosonate herum folgendermaßen anordnen: Zu Beginn das dreistimmige Ricercar und fünf der zehn Kanons, danach die anderen fünf Kanons und am Schluss das sechsstimmige Ricercar. In den Musikstücken vor der Sonate bildet das von Friedrich II. vorgegebene Thema den Cantus firmus; in der zweiten Hälfte ist dies nicht der Fall. Außerdem zählt Laetitia im sechsten Kanon bis zum Wiederholungszeichen für die Auflösung vierzehn Noten und glaubt, dass Bach die folgenden Teile eigens noch einmal signiert hat, weist sein Name doch eine verblüffende Affinität zur Zahl 14 auf: Die Positionen der Buchstaben seines Namens im Alphabet liefern die Ziffern 2, 1, 3 und 8 und die Quersumme 14. Setzt man seinen kompletten Namen – Johann Sebastian Bach – auf diese Weise in Ziffern um, addiert sie und bildet aus der Summe (158) die Quersumme, lautet das Ergebnis ebenfalls 14. Auf „J. S. Bach“ angewandt, ergibt sich die Zahl 41, also die Umkehrung der „14“.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Nachdem Laetitia aufgrund ihrer Nachforschungen zu der Überzeugung gekommen ist, das Geheimnis könne nur in Leipzig zu finden sein, fliegt sie mit ihrem Vater, Pascal und Kommissar Béranger hin. Birgit Meyer, die sich ihr Musikstudium durch die Mitarbeit beim Bach-Archiv verdient, führt sie durch die Thomaskirche und zeigt ihnen die Grabstätte, in die Bachs Gebeine 1950 aus der im Krieg zerstörten Johanniskirche überführt worden waren. Es handelt sich übrigens um sein drittes Grab. Endlich fällt Gilles Béranger die aus drei Teilen bestehende Grabstele des berühmten Leipziger Ratsherrn Daniel Leicher auf. In der Mitte ist das Jüngste Gericht dargestellt, und die in Zahlen übertragenen Buchstaben der Inschrift „Ratsherr Daniel Leicher“ ergeben die Summe 216, die sich auch so schreiben lässt: 6 x 6 x 6. Bei der „6“ handelt es sich jedoch nicht nur um ein bekanntes Geheimzeichen für den Teufel, sondern auch um einen Hinweis auf die Apokalypse. Unvermittelt läuft Laetitia zur Orgel hinauf und spielt die ersten fünf Noten des königlichen Themas aus dem „Musikalischen Opfer“ gleichzeitig an. Die Tonschwingungen setzen einen versteckten Mechanismus in Gang, und aus der linken Säule der Grabstele fallen zwei Papierrollen heraus. Eine davon enthält die Partitur einer von Johann Sebastian Bach signierten Kantate mit dem Titel „Una Sancta Ecclesia“, deren Text im Gegensatz zu seinen anderen Kantaten nicht in deutscher, sondern in lateinischer Sprache verfasst ist. Das zweite Papier enthält Bachs Bekenntnis, zum Katholizismus übergetreten zu sein. Einer der bedeutendsten Lutheraner war heimlich konvertiert und hatte dafür gesorgt, dass dieses Geheimnis von den genialsten katholischen Komponisten in versteckter Form überliefert wurde. Die Bekanntgabe dieser Sensation würde den Protestanten einen schweren Schlag versetzen. Auch zweihundertfünfzig Jahre nach Bachs Tod gibt es offenbar noch Fanatiker, die bereit sind, zu morden, um eine Aufdeckung des Geheimnisses zu verhindern.

Als Gilles Béranger einen Bluff versucht und behauptet, den Mörder zu kennen, gibt Pascal auf. Entsetzt hört Laetitia sein Geständnis mit an. Er ist Anabaptist wie beispielsweise Bachs Mutter oder auch Professor Augustin Duparc.

Nachdem Johann Sebastian Bach von der lutherischen zur katholischen Konfession übergetreten war, drang am 30. Mai 1729 frühmorgens eine Abordnung des Rats der Stadt Leipzig ihm ein, beschuldigte ihn der Ketzerei und verlangte die Herausgabe seiner rund hundert katholischen Kantaten, die dann neben dem Brunnen im Hof verbrannt wurden. Der Ratsherr Grössner schüchterte Bach mit Drohungen gegen ihn und seine Familie so ein, dass er versprach, seinen Konfessionswechsel vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Nur die letzte Kantate, deren Partitur noch nicht bei den anderen gelegen hatte, blieb erhalten. Sie trägt den Titel „Una Sancta Ecclesia“. Johann Sebastian Bach versteckte sie und verbarg sein Geheimnis im „Musikalischen Opfer“.

Sein ebenfalls zum katholischen Glauben übergetretener Sohn Johann Christian Bach gab am 14. Juni 1764 zusammen mit Karl Friedrich Abel im St. James Palace in London vor König Georg III. und Königin Charlotte ein Konzert. Unter den Gästen befanden sich auch Leopold Mozart, dessen Ehefrau Anna Maria und die beiden Kinder Maria Anna („Nannerl“) und Wolfgang Amadeus. Im Verlauf des Abends forderte Johann Christian Bach die beiden Mozart-Kinder zu einem Trio auf, und weil er sich dabei von dem außergewöhnlichen Können des Wunderknaben überzeugen konnte, setzte er sich noch einmal ans Cembalo, nahm ihn auf den Schoß und gab ihm ein Thema vor, aus dem der Achtjährige sogleich eine Fuge entwickelte. Nach dem Applaus flüsterte Bach dem kleinen Mozart ins Ohr, er werde ihm jetzt ein Geheimnis verraten und spielte das Hauptthema des „Musikalischen Opfers“ an. Ein anglikanischer Bischof am englischen Königshof, der für die Anabaptisten als Geheimagent tätig war, informierte seine Glaubensbrüder über seine Beobachtung während des Konzerts. Und als Wolfgang Amadeus Mozart den Schlüssel zu Johann Sebastian Bachs Geheimnis fand, brachten ihn die Anabaptisten 1791 um.

Mozart hatte jedoch bereits am 16. Mai 1787 seinen damals siebzehn Jahre alten Besucher Ludwig van Beethoven auf das in seiner Fantasie für Piano in c-Moll (KV 475) aufgegriffene königliche Thema aus dem „Musikalischen Opfer“ aufmerksam gemacht.

Am 24. Dezember 1829 reiste der sechzehnjährige Richard Wagner eigens aus Leipzig nach Berlin, um den dort aufbewahrten Beethoven-Fundus zu sichten. Dabei stieß er auf dessen „Heiligenstädter Testament“ vom 6. Oktober 1802, und als er das Dokument gegen das Licht hielt, entdeckte er zufällig, dass es aus zwei Lagen bestand. Das schien den Nachlassverwaltern entgangen zu sein. Auf dem zweiten Papier las Wagner:

„Ich hoffe, derjenige, der diese Zeilen entdecken wird, wird ihrer würdig sein. Leider kann ich mein Geheimnis nicht mündlich weitergeben, möge man es demjenigen zukommen lassen, der nach mir die deutsche Musik verkörpern wird. Opus 18 n°4/14, 10. Quaerendo invenietis.“ (Seite 66)

Heimlich steckte Wagner das Blatt ein und nahm es mit.

Als Gustav Mahler am 30. August 1881 nach Bayreuth kam, um Richard Wagner seine Aufwartung zu machen, lenkte der die Aufmerksamkeit seines Besuchers auf das Blickmotiv in der Oper „Tristan und Isolde“ und vertraute ihm an, es enthalte ein Geheimnis.

Gustav Mahler versteckte es in „Der Abschied“, dem letzten Gesang in „Das Lied der Erde“ und wies am 14. August 1910 Anton von Webern darauf hin. Der bearbeitete das von Friedrich dem Großen vorgegebene Thema neu und entdeckte wie Wolfgang Amadeus Mozart nicht nur den königlichen Befehl, sondern auch Bachs geheime Botschaft, die Beethoven, Wagner und Mahler entgangen war. Deshalb erschossen ihn die Anabaptisten am 15. September 1945 bei Mittersill.

Die Anabaptisten wussten zwar, dass das „Musikalische Opfer“ eine verschlüsselte Botschaft Johann Sebastian Bachs enthielt, aber keinem von ihnen gelang es, sie aufzuspüren. Deshalb kam Augustin Duparc auf die Idee, das königliche Thema als Prüfungsthema zu verwenden, denn er hoffte, durch einen der Prüflinge auf einen entscheidenden Hinweis zu stoßen. Als zuerst Pierre Farant und dann auch Maurice Perrin kurz davor waren, das Geheimnis zu entdecken und in die Öffentlichkeit zu bringen, geriet Duparc in Panik und ermordete sie. Um Duparcs Verhaftung zu verhindern, brachte Pascal de Lissac seinen Glaubensbruder um.

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Johann Sebastian Bachs Übertritt zur katholischen Konfession und die Einmaligkeit der verminderten Septime im „Musikalischen Opfer“ sind reine Fiktionen. Überliefert ist, dass ihm Friedrich der Große am 7. Mai 1747 in Sanssouci ein Thema vorgab, das er für eine drei- und eine sechstimmige Fuge, eine Triosonate und zehn Kanons verwendete, die er in Kupfer stechen ließ und dem preußischen König widmete: „Ew. Majestät weyhe hiermit in tiefster Unterthänigkeit ein Musicalisches Opfer, dessen edelster Theil von Deroselben hoher Hand selbst herrühret.“ (Nachzulesen auch in Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach, ein Endloses Geflochtenes Band und in Dieter Wunderlich: Vernetzte Karrieren. Friedrich der Große, Maria Theresia, Katharina die Große). In der Fantasie für Piano in c-Moll (KV 475) von Wolfgang Amadeus Mozart taucht das Thema erneut auf, und Anton von Webern komponierte dazu tatsächlich eine neue Fuge. Die in Philippe Delelis‘ Roman erwähnten Anklänge in Musikstücken von Ludwig van Beethoven, Richard Wagner und Gustav Mahler sind jedoch ebenso erfunden wie die geschilderten Besuche Mahlers am 30. August 1881 bei Wagner in Bayreuth und von Weberns bei Mahler am 14. August 1910 in Toblach. Über das Zusammentreffen Mozarts und Ludwig van Beethovens am 16. Mai 1787 in Wien gibt es zumindest Anekdoten. Nur die Begegnung von Johann Christian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart am 14. Juni 1764 in London scheint tatsächlich stattgefunden zu haben. Um Mozarts Tod ranken sich zahlreiche Spekulationen. (So stellt Peter Shaffer in seinem von Miloš Forman auch verfilmten Theaterstück „Amadeus“ Antonio Salieri als Mörder dar, ohne allerdings den Anspruch historischer Wahrheit zu erheben.) Anton von Webern starb am 15. September 1945 bei Mittersill durch eine verirrte Kugel, die beim Streit zweier US-Soldaten abgefeuert worden war.

Bei den musikalischen Fachbegriffen bezweifle ich unter anderem, dass der Begriff „Divertimento“ korrekt verwendet wurde. Ob es sich bei dem im Roman verwendeten Begriff „goldene Zahl“ um einen Irrtum des Autors oder der beiden Übersetzerinnen handelt, weiß ich nicht, jedenfalls ist wohl „goldener Schnitt“ gemeint. Eindeutig um einen Übersetzungsfehler handelt es sich bei der durchgängigen Verwendung von „Worte“ als Plural für „Wort“, obwohl nicht Aussprüche, sondern einzelne Wörter gemeint sind.

Abgesehen von diesen kleineren Mängeln und dem doch recht lockeren Umgang mit der Plausibilität ist „Die letzte Kantate“ ein spannender Kriminalroman und eine vergnügliche kleine Zeitreise durch die Musikgeschichte von Johann Sebastian Bach bis Anton von Webern. Insbesondere der fortwährende Wechsel zwischen der Gegenwart in Paris bzw. Leipzig und Szenen, die zwischen dem 20. März 1694 und dem 15. September 1945 spielen, ist Philippe Delelis sehr gut gelungen.

Philippe Delelis (*1960) studierte Musik und Öffentliches Recht, absolvierte die „École Nationale d’Administration“ und ließ sich später als Rechtsanwalt in Paris nieder. „Die letzte Kantate“ ist sein Debütroman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Hoffmann und Campe
Die Seitenangaben beziehen sich auf die dtv-Ausgabe vom Februar 2004

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