Maurizio Maggiani : Himmelsmechanik
Inhaltsangabe
Kritik
In der Nacht, in der ich meine Frau geschwängert habe, wurde Barack Obama zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Der Vorfall ereignete sich kurz nach Mitternacht, weit bevor die Nachricht verlässlich war, und die Verbindung zwischen den beiden Ereignissen ist nicht nur natürlich, sondern auch mit absoluter Sicherheit ohne jegliche Bedeutung.
So beginnt Maurizio Maggiani seinen Roman „Himmelsmechanik“.
Der Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, hatte zwar Chemie am Rutherford College in Newcastle und Physik am Caius College in Cambridge studiert, jedoch nach seiner Rückkehr in die Heimat am Pania della Groce in der Toskana keinen akademischen Beruf ergriffen, sondern war zum einzigen Sprengmeister in der Gegend geworden.
Ich war geboren, etwas anderes, Einfacheres zu sein.
Obwohl seine Lebensgefährtin Nita bereits hochschwanger ist, setzt sie sich nach dem Johannistag 2009 in ihr Karmann-Coupé aus dem Jahr 1965, um mit Giannoni Bresci, dem „Omo Nudo“, nach Valençay zu fahren. Sie wollen dort im Schloss die Gedenkstätte für William Grover-Williamsden und andere Kämpfer der Résistance besuchen.
Den Spitznamen „Omo Nudo“ trägt Giannoni Bresci, weil er nach dem Zweiten Weltkrieg nackt und zu Fuß aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen in sein Heimatdorf zurückgekehrt war.
Drei Jahre zuvor hatten Schwarze Brigaden den damals 16- oder 17-Jährigen auf der Straße festgenommen und an die Deutschen verkauft, die ihn nach Sachsenhausen deportierten und als politischen Häftling im KZ einsperrten.
Seinen Vater Otello hatten die Schwarzhemden schon vor ihm aufgreifen wollen, aber er war im letzten Augenblick von Iside gewarnt worden, der Ehefrau des Truppführers, mit der er eine Affäre hatte. Otello setzte sich über Livorno nach Genua ab und schiffte sich von dort nach Argentinien ein. Sechs Jahre lang ließ er nichts von sich hören, dann schickte er seiner Frau Melina Geld und schrieb ihr aus der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, wo er inzwischen als Schokoladenhersteller lebte. 1945 erhielt Melina das letzte Lebenszeichen von ihm: einen Brief aus Panama. Dort gehörten ihm angeblich alle Konditoreien des Landes. Zwei Jahre später war Melina überzeugt, dass er gestorben war, und sie gab eine Totenmesse in Auftrag. Offiziell für tot erklären ließ sie ihn jedoch nicht.
Als der Omo Nudo wieder nach Hause kam, wusste er nicht, ob seine Mutter ihn noch erkannte. Sie hatte gerade einmal vier Schafe über den Krieg hinwegretten können und war nicht mehr klar im Kopf. Jedenfalls schickte sie ihn nicht weg und ließ es zu, dass er den Bauernhof neu in Betrieb nahm.
Im Konzentrationslager war William Grover-Williams sein Freund geworden. Der Sohn eines Engländers und einer Französin hatte im Alter von 17 Jahren angefangen, für die Reichen an der Côte d’Azur Autos einzufahren. Ein zwielichtiger reicher Aristokrat kaufte ihm einen Bugatti und stellte ihm eine Villa am Meer in der Gascogne zur Verfügung. In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre begann William Grover-Williams eine erfolgreiche Karriere als Rennfahrer. Vor den deutschen Besatzern in Frankreich floh er nach England und meldete sich dort zum Militär. Wegen seiner Zweisprachigkeit wurde er der Special Operations Executive zugeteilt und im Winter 1941 mit dem Fallschirm über Paris abgesetzt, um sich in der Résistance zu engagieren. Am 2. August 1943 ergriff ihn die Gestapo. Er wurde ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Als sich die Front näherte, befahlen die Bewacher den Häftlingen am 20. April 1945 den Abmarsch. Bei diesem Todesmarsch brach William Grover-Williams schließlich vor Erschöpfung zusammen und wurde erschossen.
Inzwischen ist Giannoni Bresci über 80 Jahre alt. Er besitzt noch immer ein Foto, das seinen Freund William Grover-Williams neben einem Bugatti-Rennwagen zeigt, mit dem er den Großen Preis von Monaco gewonnen hatte. Nita bekommt es als Entlohnung für die Fahrt nach Valençay.
Während die beiden unterwegs sind, sucht Nitas Lebensgefährte bei dem über 70 Jahre alten Steineklopfer Vittorio Ecksteine für einen Anbau aus, in dem das Kinderzimmer eingerichtet werden soll. Der aus Moldawien stammende Maurer Vlad führt den Umbau aus.
Von Vittorios zwei Töchtern hat keine die berufliche Tradition des Vaters fortgesetzt. Marinella promovierte in Archivkunde und ist Literatur-Professorin, ihre jüngere Schwester Miranda praktiziert als Kardiologin.
Am ersten Sonntag im August kommen Nita und der Omo Nudo aus Frankreich zurück.
Nita rechnete von Anfang an damit, dass sie das Kind an Mariä Himmelfahrt, also am 15. August 2009, zur Welt bringen werde. Am Tag davor fährt sie mit ihrer Freundin Malvina ruhig ins Krankenhaus. Der Vater des noch ungeborenen Kindes bleibt zurück.
Ich werde warten, morgen gibt es keinen anderen Platz für mich. Das ist eine einfache Sache, die man nicht verkomplizieren soll, sagt Nita. Einfach, mathematisch und vorhersehbar wie der Himmel heute Nacht, präzisierte Malvina, als hätte sie in ihrem kurzen Leben nie etwas anderes getan, als zu gebären. Nur ein winzig kleines Rädchen mehr am Himmelsgewölbe, erklärte sie feierlich, eine kaum berechenbare Komplikation in der allgemeinen Bewegung des Universums, der Raum eines Quantenkorns, der der Unendlichkeit des Sternenvakuums genommen wird.
Der Erzähler wurde 1945 geboren. Seine Mutter Duse war die Tochter von Wirtsleuten. Den Vater hatte es nach der Schlacht von Vittorio Veneto im November 1918 in die Gegend verschlagen. Er und die Tochter der Ghetti verliebten sich, und sie heirateten rasch. Weil der Vater Eleonora Duse bewunderte, brachte er den sich sträubenden Pfarrer dazu, Duse als Vornamen der Tochter einzutragen. Das Mädchen wurde in Lucca eingeschult und studierte später Musik. Als der Vater das Klavier verkaufen musste, erhielt Duse von ihrer Mutter ein Akkordeon aus der Osteria del Ponte, der Gaststätte ihrer Eltern.
Als die 17-Jährige während des Kriegs einen Fieseler Storch der Deutschen sah und sich in den Straßengraben warf, kam sie neben der ein Jahr älteren Santarellina zu liegen, die es ebenso gemacht hatte. Die beiden wurden enge Freundinnen.
Santarellina war ein Findelkind, das die Nonnen von Sassi auf dem Altar von San Lazzaro in ihrer Kapelle gefunden hatten. Als das Mädchen acht Jahre alt war, kauften Bauern es, die eine zusätzliche Arbeitskraft gebrauchen konnten. Schließlich arbeitete Santarellina die meiste Zeit des Jahres auf einer Alm oberhalb der Rocchette. Als dort jedoch die Gotenlinie verlief und im Dorf wegen der Zwangsrekrutierungen Männer für die grobe Arbeit fehlten, holten die Dienstherren sie herunter. Schließlich wurde sie auch zum Steineschleppen eingesetzt. Dazu meint sie:
Eine italienische Frau kann alles, wenn sie der Schwäche nicht nachgibt.
Im Herbst 1944 erwarteten Duse und Santarellina die Alliierten auf der Brücke, die eine trug ihr Akkordeon, die andere war mit einer Sichel bewaffnet. Sobald die Motoren zu hören waren, sang und spielte Duse Tango. Die Männer blieben stehen. Unter ihnen befand sich auch ein 18-Jähriger, der kurz darauf mit Duse einen Sohn zeugte. Es handelte sich um einen Brasilianer, dessen Familie ursprünglich aus Vicenza gekommen war. Am Heiligen Abend 1944 begann die Weihnachtsoffensive der Deutschen, die Operation „Wintergewitter“. Duses Geliebtem gelang es, sich rechtzeitig abzusetzen. Er und seine überlebenden Kameraden versuchten am Neujahrstag 1945, die Front am Monte Castello zu durchbrechen. Im zweiten Anlauf gelang das Vorhaben. Der Vater des Erzählers wurde verwundet nach Pistoia gebracht. Gerüchten zufolge soll er danach geistig verwirrt gewesen sein und 30 Jahre lang als Friedhofswärter in Pistoia gearbeitet haben.
Duse wurde 1949 Lehrerin. Das Schulhaus in den Bergen teilte sie sich mit dem Käser. Je nach Jahreszeit und Arbeitsanfall auf den Feldern hatte sie zwischen fünf und 20 Schülern. Nach Hause kam sie nur übers Wochenende. Um am Montag rechtzeitig wieder in der Schule zu sein, musste sie um 4 Uhr morgens aufbrechen. An den Wochentagen kümmerte sich ihre Freundin Santarellina um den Sohn.
Als dieser seine Pflegemutter einmal fragte, warum sie nie geheiratet habe, antwortete sie fröhlich, sie sei als Witwe geboren worden.
Duse starb im April 2008.
Santarellina ließ sich inzwischen auch einen Grabstein anfertigen. Irrtümlich meißelte der Steinmetz allerdings den Tag, an dem er die Quittung für den Vorschuss ausstellte, als Todestag ein.
Diese Geschichten bewahrt der Erzähler für das noch ungeborene Kind. Er hält auch noch andere fest, zum Beispiel die über Marta und die Familie von Aristo.
Marta brach die Schule nach der sechsten Klasse ab und arbeitete dann als Näherin. Sie war noch keine 18, als ihr gleichaltriger Freund Falco von der Miliz rücklings erschossen wurde. Trotz des Risikos, von einer Patrouille entdeckt zu werden, suchte sie den Toten, lud ihn sich auf die Schulter und trug ihn zum Friedhof von Trasilico.
Am 25. April 2009 fand man ihre Leiche in ihrer Wohnung. Gestorben war sie bereits einige Tage zuvor.
Aristo stammt aus der adeligen Familie der Borgioni. Sein Vater wurde in Roggio geboren, in der Villa, in der Papst Gregor VII. 1077 auf dem Weg zu Mathilde von Tuszien und später noch einige Bischöfe übernachtet hatten. Aristos Großvater Menotti hatte sich an Ausgrabungen am Euphrat beteiligt. Die Großmutter war während der Abwesenheit ihres Mannes in den Festungsgraben gesprungen und ertrunken. Verwandte in Lyon hatten daraufhin den Sohn Xerxes, Aristos Vater, zu sich genommen. In der Villa in Roggio richteten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ein Hauptquartier ein. Danach ließ Aristo sie verfallen. Er zog mit seiner französischen Frau in ein anderes Haus der Familie. Sie bekamen einen Sohn: Ulisse. Als dessen Mutter starb, interessierte sich der Witwer für nichts mehr.
Ulisse erbte von seinem Vater ein Haus in Careggine und einen Weinberg. Seine Tochter Malva („Malvina“) schickte er zum Studium ins Ausland. Als Professorin der Astrophysik, also für Himmelsmechanik, kehrte sie zurück. Drei Monate später fing sie als Selekteurin in einer Blumenzucht bei Metello zu arbeiten an. Die inzwischen 30 Jahre alte Frau wohnt bei ihrem Großvater Aristo.
Vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte, vor allem des Zweiten Weltkriegs, erzählt Maurizio Maggiani in seinem Roman „Himmelsmechanik“ von Menschen in der Garfagnana, einer Bergregion in der norditalienischen Provinz Lucca.
Einen Plot im Sinne einer das gesamte Buch durchziehenden Handlungsentwicklung gibt es nicht. Stattdessen setzt „Himmelsmechanik“ sich aus Miniaturen zusammen. Der namenlose Erzähler tritt wie ein mündlicher Plauderer auf, lässt sich von Erinnerungen und Assoziationen treiben, schweift ab und greift den Faden wieder auf. Zusammengehalten wird alles durch eine Rahmengeschichte: „Himmelsmechanik“ beginnt mit der Zeugung eines Kindes durch den Erzähler im November 2008 und endet am Tag vor der Geburt (15. August 2009). Was der Namenlose für das noch ungeborene Kind festzuhalten versucht, sind die mündlich überlieferten Geschichten seiner Heimat und Porträts der dort lebenden Menschen.
Das Buch enthält zwar ein Glossar. Mindestens ebenso hilfreich wären Erläuterungen zu den Orten gewesen, die sich kaum auf einer Karte finden lassen.
Maurizio Maggiani wurde 1951 in Castelnuovo Magra bei La Spezia geboren. Bevor er zu schreiben anfing, hatte er u. a. als Gefängnislehrer, Erzieher blinder Kinder, Fotograf, Kameramann und Regieassistent gearbeitet.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Edition Nautilus