Marente de Moor : Amsterdam und zurück

Amsterdam und zurück
Originalausgabe: De overtreder Em. Querido's Uitgeveri, Amsterdam 2007 Amsterdam und zurück Übersetzung: Waltraud Hüsmert Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 ISBN: 978-3-518-42184-0, 285 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der russische Ingenieur Witali Kirillow reist im Frühjahr 1993 zu seinem Cousin Ilja, der mit anderen Emigranten in einem von Kommunisten besetzten Abbruchhaus in Amsterdam lebt. Witali schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und bleibt nach Ablauf seines Visums in Holland. Er zieht mit einer Holländerin namens Jessie zusammen, die ihn dazu bringt, mit ihr nach Russland zu reisen, um ein Erlebnis aufzuarbeiten, das ihn nachts in seinen Träumen quält ...
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Kritik

Statt mit einer stringenten Handlung unterhält Marente de Moor die Leser in "Amsterdam und zurück" mit skurrilen Charakteren und schräger Komik, hintergründigem Humor und ungewöhnlichen Beobachtungen, die sie pointiert wiedergibt.
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Der russische Ingenieur Witali Kirillow reist im Frühjahr 1993 von Gorki nach Moskau und von dort weiter in die Niederlande. Eigentlich wollte er zu seinem Cousin Ilja nach Amsterdam, aber der Zug fährt nach Hoek van Holland. Dort holt Ilja ihn schimpfend ab. Bei dem Künstler handelt es sich um einen Sohn aus der ersten Ehe von Witalis Tante Ljuda. Ilja fertigt Collagen an, tackert zum Beispiel zwei Pantoffel auf eine Leinwand und nennt das Bild „Der Weg des Sozialismus“. Das abbruchreife Haus, in dem er wohnt, hatten niederländische und spanische Kommunisten besetzt. Als sie ein paar Osteuropäer aufnahmen, ahnten sie nicht, dass diese immer neue Landsleute nachholen würden. Bis auf die Spanierin Maria haben inzwischen alle Kommunisten das Haus entnervt verlassen. Jetzt teilen sich Maria, Ilja, zwei weitere Russen, ein Pole und ein Ukrainer die Räume. Witali gesellt sich zu ihnen.

Weil er sein Geld nach einer Woche aufgebraucht hat, begleitet er Ilja zu Roman Walerjewitsch Popow, einem früheren Lehrer für die Geschichte der KPdSU, der in Amsterdam unter dem Künstlernamen Roman Radinski Stadtansichten aus einem Bildband des Tourismusverbandes abmalt und die Karten auf der Straße an Touristen verkaufen lässt. Seine in Russland zurückgebliebene Ehefrau beschwert sich darüber, dass er ihr nicht mehr Geld schickt und droht damit, nach Holland zu kommen, aber Roman hat selbst nicht genug. Als Ilja und Witali zu ihm kommen, ist gerade das WC im Treppenhaus verstopft, und aus dem Kühlschrank tropft wegen eines länger anhaltenden Stromausfalls stinkendes Wasser.

Witali verkauft Romans Ansichtskarten auf dem Rembrandtplein und im Durchgang unterm Rijksmuseum. Dabei lernt er die Straßenhändlerin Sweta kennen, die mit ihrem geistig behinderten Sohn Oleg unterwegs ist. Sie lädt ihn und Ilja zum Essen ein. Sweta, die noch einen jüngeren Sohn namens Dimka hat, lebt mit einem holländischen Archäologen zusammen, der Hans heißt, unter Osteochondrose leidet und bei ihr nichts zu sagen hat. Sie verkauft nicht nur Bilder, sondern verdient auch noch etwas Geld mit Konversationsstunden für Slawistik-Studenten.

In einem von dem ehemaligen Schiffskoch Germanowitsch kürzlich eröffneten russischen Teehaus lernt Witali Polina kennen. Sie ist betrunken und meint, er müsse sie begleiten, denn allein würde sie nicht mehr nach Hause finden. Am anderen Morgen wacht er in ihrem Bett auf. Ihr niederländischer Ehemann Ronald ist geschäftlich unterwegs. Er hält ihren Sohn Egor, der bei Verwandten in Russland aufwächst, für ihren Neffen. Zwei Jahre, glaubt Polina, müsse sie noch durchhalten, dann könne sie Egor nachholen und Ronald verlassen.

Serjoschka, der ihr Lebensmittel vorbeibringt, hält Witali für einen Denunzianten und ist überzeugt, dass über das russische Satellitenfernsehen Signale gesendet werden, die das Unterbewusstsein der Emigranten beeinflussen.

Vorübergehend hilft Witali bei einer Umzugsfirma aus.

Nach drei Monaten läuft sein Visum ab, aber er bleibt in Amsterdam.

Im Winter 1993/94 prallt Roman Walerjewitsch Popow mit seinem Fahrrad gegen eine Straßenbahn und bricht sich die Nase. Zwei Tage später erfährt Witali, dass sich einer seiner neuen Bekannten, der Ukrainer Stas, hinter der Station Muiderpoort aufs Bahngleis setzte und überfahren ließ [Suizid].

Der angeblich koschere Bäcker Ruslan stellt Ilja und Witali als Hilfskräfte ein. Ihre Arbeitszeit dauert von 4 Uhr morgens bis 11 Uhr.

Um acht klingelte die Ladenglocke. Es war Ruslans Frau. In ihrer quietschgelben Pelzjacke sah sie wie eine überdimensionierte Kohlmeise aus. Sie bewegte sich mit der Selbstironie einer gekauften Frau, bei jedem ihrer kleinen Schritte öffnete sie einen Knopf, als verberge sie unter dem Federkleid einen Schatz – und ob, alles an ihr war ein Schatz, von der parfümierten lila Frisur bis zum pedikürten kleinen Zeh, jede Woche waren drei Konservatoren nötig, um den Zustand zu erhalten! Die Farbe hieß übrigens nicht Lila, sondern Aubergine, sie hatte ihre Lippen im gleichen Ton angemalt. Keine Faser an diesem Körper war dem Zufall überlassen, selbst jetzt, um acht Uhr morgens. Sie klatschte in die Hände. „Jungs, ich bin so begeistert. Ihr sollt es alle sehen!“ Dann geschah etwas Unglaubliches. Die Kohlmeise zog ihr T-Shirt hoch und zeigte ihnen ihre Brüste. Witali wäre fast in den Backofen gestolpert.
„Ein Ostergeschenk von Ruslan!“, erklärte sie. „Ihr dürft ruhig mal anfassen. Dann seht ihr, dass sie von echten nicht zu unterscheiden sind.“
[…] Diese Frau würde nie mehr nackt sein, sie hatte ihre sekundären Geschlechtsmerkmale in einen Teil ihrer Garderobe verwandelt. (Seite 186f)

Während Witali sich auf einer Anlagenbank ausruht, setzt sich eine junge Inline-Skaterin neben ihn. Jessie, so heißt sie, kann ein wenig Russisch, weil sie es zwei Jahre lang in der Schule lernte. Inzwischen hat sie angefangen, Kunstgeschichte zu studieren, verdient ihr Geld mit Wandmalereien zum Beispiel in Kinderzimmern und passt auf das Haus eines reichen Holländers auf, der längere Zeit im Ausland zu tun hat. Sie meint, Witali könne sich in dem zum Anwesen gehörenden Gartenhaus einrichten.

Jessie und Witali werden ein Paar.

Sie meldet ihn zum kostenlosen Sprachunterricht an der Joke-Smit-Schule an. Einmal geht die Lehrerin Hetteke Riemers mit ihren aus verschiedenen Erdteilen stammenden Schülern in den Zoo. Vor dem Lama-Gehege meint ein Sudanese:

„Die Tiere müssen geschossen werden […] Jetzt lassen sie das Fleisch alt werden. Die haben keine Ahnung.“ (Seite 208)

Jessie fällt auf, dass Witali unruhig schläft. Tatsächlich träumt er immer wieder von einem Zwischenfall in seiner Militärzeit. Er kam als russischer Wehrpflichtiger an die finnische Grenze, zuerst an die Unteroffiziersschule bei Alakurtti, dann an die Grenze nordöstlich von Kowdor. Vor acht Jahren sah er zu, wie ein Kamerad über die Grenze desertierte, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Deshalb wurde er degradiert.

Sobald Jessie erfährt, was Witali bewegt, will sie mit ihm nach Osten und nach dem desertierten russischen Soldaten suchen, um zu erfahren, was aus ihm geworden ist. Weil Witali nicht mit einem abgelaufenen Visum erwischt werden möchte, fragt er einen aus Moskau stammenden afrorussischen Emigranten um Rat.

Aleksej lebte ein Jahr lang mit einem abgelaufenen Visum als Straßenhändler in Amsterdam, bis ihn ein holländischer Konkurrent bei der Polizei anschwärzte. Die schob ihn nach Russland ab. In Moskau verstand Aleksej plötzlich kein Wort Russisch, beschwerte sich in irgendeinem Kauderwelsch über die Abschiebung und behauptete, aus Sierra Leone zu stammen. Den Pass hätten ihm die Holländer abgenommen. Daraufhin schickten ihn die Russen nach Amsterdam zurück.

Aleksej erklärt Witali, es gebe zwei Möglichkeiten, ohne Pass nach Russland zu reisen und dennoch nicht auf eine schwarze Liste der EU gesetzt zu werden. Entweder man fahre als blinder Passagier auf einem Frachtschiff mit, oder man besorge sich ein als Laissez-passer bezeichnetes Reisedokument. Das bekomme Witali vom russischen Konsulat, wenn er dort das polizeiliche Protokoll einer Anzeige über seinen verlorenen bzw. gestohlenen Pass vorweise.

Für 500 Gulden Schmiergeld kriegt Witali das Laissez-passer. Sicherheitshalber lässt er sich außerdem einen Platz als blinder Passagier auf einem von Rotterdam nach Sankt Petersburg auslaufenden Frachter vermitteln. Jessie besteht darauf, ihn zu begleiten und bucht eine Touristenkabine. Sweta und andere, die von Witalis Reiseplänen erfahren, geben ihm Pakete für Angehörige in Russland mit.

Während der Schiffsreise fällt ihm auch der Name des desertierten Soldaten wieder ein: Kirill.

Der russische Maschinist Leonid Lwowitsch Teleschnikow erzählt Witali von zwei Bekannten, die vor der Auflösung des Warschauer Pakts auf einem umgebauten alten Gaffelkutter über die russisch-finnische Grenze geflohen waren. Bei Utö wurden sie allerdings von der finnischen Küstenwache aufgebracht. Die Finnen übergaben die beiden Männer den Russen, und die schickten sie in ein sibirisches Arbeitslager. Finnland habe noch vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg jeden illegal über die Grenze gekommenen Russen, der aufgegriffen wurde, an die UdSSR ausgeliefert, erklärt Leonid.

Daher weiß Witali bei der Ankunft in Sankt Petersburg, dass wahrscheinlich auch Kirills Flucht scheiterte.

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Viel Handlung gibt es in dem Roman „Amsterdam und zurück“ nicht. Marente de Moor (* 1972) unterhält die Leser stattdessen mit skurrilen Charakteren und schräger Komik, hintergründigem Humor und ungewöhnlichen Beobachtungen, die sie pointiert wiedergibt. Man gewinnt den Eindruck, dass die mit einem Russen verheiratete niederländische Slawistin, die mehrere Jahre als Korrespondentin in Sankt Petersburg lebte, sehr genau weiß, von was sie schreibt. Die Darstellung wirkt authentisch, und Marente de Moors Sprache zeichnet sich durch witzige und originelle Formulierungen aus.

Übrigens handelt es sich bei Marente de Moor um die Tochter der Schriftstellerin Margriet de Moor.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.