Arnon Grünberg : Muttermale

Muttermale
Originalausgabe: Moedervlekken, 2016 Muttermale Übersetzung: Andrea Kluitmann, Rainer Kersten Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016 ISBN: 978-3-462-04925-1, 448 Seiten ISBN: 978-3-462-31590-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 42-jährige Psychiater Otto Kadoke arbeitet beim mobilen Krisendienst. Seine verwitwete, pflegebedürftige Mutter wird zu Hause von zwei jungen Nepalesinnen betreut. Als die beiden nach einem sexu­ellen Übergriff fortbleiben, zieht Kadoke zu seiner Mutter, um sie versorgen zu können. Das droht ihn zu überfordern. Im Dienst lernt er eine 27 Jahre alte Selbstmord­ge­fähr­dete kennen. Ihr vertraut er die Pflege seiner Mutter an und hofft auf eine thera­peu­tische Wirkung ...
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Kritik

Vor dem Hintergrund der großen Themen Liebe, Leben, Sterben und Tod dreht sich der tragikomische Roman "Muttermale" von Arnon Grünberg um die Grenzen zwischen Normalität und Krankheit. "Muttermale" ist ein Plädoyer für eine bunte, liberale Gesellschaft.
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Otto Kadoke, der in der Grundschule behauptete, Oscar zu heißen und sich inzwischen fast nur noch mit dem Hauptnamen ansprechen lässt, arbeitet seit Jahren als Psychiater beim mobilen Krisendienst in Amsterdam. Zu den Hauptaufgaben des 42-Jährigen gehört es, Selbstmordgefährdete zu begutachten und über Zwangseinweisungen in die Psychiatrie zu entscheiden.

Er funktioniert in einem System, dem er eigentlich kritisch gegenübersteht: Er trennt das Erwünschte vom Unerwünschten, das Krankhafte vom Kriminellen und umgekehrt.

Seine kinderlose Ehe wurde geschieden. Deborah, die vor der Hochzeit mit ihm zum Judentum übertrat, obwohl er jeder Religion distanziert gegenüber steht, ist inzwischen mit einem jüdischen Mathematiklehrer verheiratet und schwanger. Kadoke hatte zwar einige kurze Affären mit Assistenzärztinnen, aber er geht keine festen Beziehungen ein und pflegt auch keine Freundschaften. Für ihn sind nur zwei Dinge wichtig: seine Arbeit und seine Mutter.

Seine verwitwete und pflegebedürftige Mutter wird seit vier Jahren zu Hause abwechselnd von zwei jungen Frauen aus dem Nepal in Schwarzarbeit betreut: von Montag bis Donnerstag von Rose, übers Wochenende von June. So oft er kann, schaut auch Kadoke nach seiner Mutter. Die deutschstämmige Jüdin, die den Holocaust in Konzentrationslagern überlebte, kritisiert ihn ständig, beklagt sich fortwährend über etwas und hält ihm vor, er sei so schwächlich, dass sie nach wie vor auf ihn aufpassen müsse, statt sterben zu können. Kadoke hält diese Vereinnahmung und scheinbare Verachtung für ihre Art von Liebe.

„Solang du dich nicht wehren kannst“, sagt sie, „solange du dir das letzte Stück Brot stehlen lässt, kann ich nicht sterben. Das ist keine Frage des Wollens. Es ist einfach unmöglich. Ich kann dich doch so nicht alleinlassen. Das wäre unmenschlich.“

„Schon als Knirps konntest du nicht für dich eintreten“, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Kind, „und all die Jahre danach hat sich nichts daran geändert, überhaupt nichts.“

„Bei Frauen hattest du nie guten Geschmack. Weil du dir immer Frauen ausgesucht hast, die dir auf der Nase herumgetanzt und dich ausgenutzt haben. Du hast kein Rückgrat. Du warst ein Junge ohne Rückgrat, und jetzt bist du ein Mann ohne Rückgrat. Und solange du kein Rückgrat hast, kann ich nicht sterben.“

Kadoke fürchtet sich vor ihrem Tod und achtet besorgt darauf, dass sie genügend isst. Den Mädchen ist er überaus dankbar für ihre liebevolle Pflege seiner Mutter, und er hält vor allem Rose für einen Engel.

Eines Abends muss er mehrere Male klingeln, bevor Rose ihm öffnet. Es irritiert ihn, dass sie nur ein Handtuch um den Körper geschlungen hat. Sie war gerade dabei, zu duschen. Obwohl sie fast nackt ist, zieht er sie in den Garten, zeigt auf verdorrte Stellen im Rasen und mahnt: „The garden needs a shower!“ Rose macht sich los und kehrt ins Bad zurück, das sich nicht abschließen lässt, damit die Mutter sich nicht versehentlich einsperren kann. Kadoke folgt Rose, drückt die Tür auf und sagt: „We need to talk.“ Rose, die zunächst das abgenommene Handtuch wie ein Schild vor sich gehalten hat, lässt die Arme sinken. Er geht auf die Nackte zu, und sie weicht nicht zurück, auch nicht, als er sie küsst.

Ein Wort fährt ihm durch den Kopf wie ein Dolchstoß: Kolonialismus. Das hier ist Kolonial­herren­verhalten oder was davon übrig ist: Postkolonialismus. Er, der die menschliche Schwäche akzeptiert hat, in bescheidenem Rahmen, aber immerhin: danach gestrebt hat, die Gesellschaft zu reformieren, damit die Menschen versagen können, ohne allzu viel Schaden anzurichten, steht jetzt in Mutters Bad wie ein Arzt in den Tropen, ein Kolonialherr im eigenen Land, der sich nimmt, was er braucht – die einzig zutreffende Definition von Kolonialismus vielleicht: sich einfach nehmen, was man braucht.

Er verliert alle Hemmungen, reißt sich das Hemd vom Leib, kniet sich auf den Boden und leckt ihr Geschlecht. Während er die Hose auszieht, sagt er:

„You didn’t water the garden […] You didn’t. But you are taking care of mother. Thank you for keeping mother alive, thank you for everything, Rose.“

Kadoke streift sich ein Kondom über und drängt Rose sanft zur Kommode, auf der sie sich mit den Händen abstützt, während er sie penetriert. Unvermittelt hört er seinen Namen. Seine bleiche Mutter steht im Flur vor der offenen Tür. Er löst sich von Rose, setzt Mutter auf einen vor dem Bad stehenden Stuhl. Als ihm bewusst wird, dass er nicht nur nackt ist, sondern auch noch das Kondom umhat, zieht er es ab und legt es so unauffällig wie möglich unter den Stuhl.

Am nächsten Abend öffnet ihm ein Mann die Tür. Kadoke kennt ihn, es ist Roses ebenfalls aus dem Nepal stammender Freund Darko, der hin und wieder im Garten arbeitet. Der rammt ihm eine Faust in den Magen, schlägt ihn zu Boden und tritt auf den Wehrlosen ein.

„You think we are your slaves, you think you can do with us whatever you want.“

Rose sitzt mit Mutter in der Küche.

„Rose, give her some tranquillizers“, sagt Kadoke, den Mund voller Blut. „You know this is not good for mother.“ Rose aber bleibt sitzen.

Bevor Darko mit seiner Freundin das Haus verlässt, stellt er klar, dass Rose nicht zurückkommen wird. Kadoke denkt verzweifelt:

Mutter braucht Pflege. Sie kann nicht allein duschen, sie weiß nicht, wann sie ihre Medikamente nehmen soll, sie muss bekocht werden. Sie droht schon mit Selbstmord, sobald jemand die Wörter „betreutes Wohnen“ oder „Seniorenheim“ in ihrer Nähe auch nur in den Mund nimmt.

Er ruft June an und bittet sie, für Rose einzuspringen, aber sie weiß bereits Bescheid und macht ihm klar, dass er von der nepalesischen Gemeinde in Amsterdam nichts mehr erwarten könne.

Endlich findet er eine niederländische Altenpflegerin, die nach dem Tod ihrer letzten Schutzbefohlenen eine neue Stelle sucht. Dass Betty teurer als die Nepalesinnen ist, muss er in Kauf nehmen. Aber nachdem sie Mutter ins Bad begleitet hat, kommt sie kreischend zurück ins Wohnzimmer und stammelt: „Ihre Mutter hat einen Pimmel!“

„Haben Sie etwas gegen Transsexualität?“, fragt Kadoke vorsichtig. Er erklärt Betty, dass sein Vater nach dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren in eine tiefe Depression verfiel, aus der er erst wieder auftauchen konnte, als er nach mehreren Monaten Kleider der Verstorbenen anzog.

[…] er wurde gewissermaßen zu seiner Frau. Er warf seine Anzüge weg, begann, anders zu reden, machte sich ihre Geschichte zu eigen, er verwandelte sich in seine tote Frau.

Kadokes Vater hatte sich von seinem alten Sein, seinem Vater-Sein, seinem Mann-Sein, seinem Witwer-Sein, losgesagt.

Die Altenpflegerin weigert sich, für Kadoke und seine Mutter zu arbeiten. Als Mutter von der Toilette kommt, fragt ihr Sohn: „Musst du dir nicht die Hände waschen?“ Sie antwortet: „Nein, in meinem Alter ist das nicht mehr nötig.“ Notgedrungen zieht er wieder bei ihr ein und kümmert sich selbst um sie. Weil Mutter sich nicht von ihm duschen lassen will, wendet er sich an seine schwangere Exfrau und bittet sie um Hilfe. Deborah verspricht nach längerem Hin und Her, am nächsten Abend vorbeizukommen und Mutter beim Duschen zu helfen. Aber das werde sie nur einmal machen, fügt sie hinzu.

Während einer Nachtschicht fahren Kadoke und die neue, aus Afrika stammende Assistenzärztin Dekha zu einer 27-Jährigen namens Michette Dubois.

Lange Vorgeschichte. Erst diagnostiziert als Borderlinerin. Dann Depressionen mit schweren Angststörungen. Dann wieder Borderline, zuletzt drei Monate in der Geschlossenen, in der sie schon mehrfach war. Seit vier Monaten wieder draußen. Bekommt zweimal die Woche Besuch vom sozialpsychiatrischen Dienst. Nach drei Monaten stabilen Zustands wieder selbstverletzendes Verhalten, laut ambulanter Pflegekraft auch paranoide Schübe.

Zahlreiche Narben und ein frisches Pflaster an Michettes Körper zeugen von ihrer Autoaggression. Sie trinkt auch Chlorreiniger. Kadoke hielte es für unverantwortlich, sie allein in ihrer Wohnung zu lassen. Mit ein paar Telefongesprächen veranlasst er, dass sie gegen ihren Willen wieder in eine psychiatrische Klinik gebracht wird.

Einige Zeit später erkundigt Kadoke sich nach ihr. Sie wurde an diesem Morgen entlassen, und der behandelnde Arzt, der meint, sie sei zu Hause besser aufgehoben als in der Psychiatrie, sagt am Telefon:

„Ich möchte Ihre Fachkompetenz nicht in Zweifel ziehen, und natürlich war ich nicht bei dem Gespräch dabei, das Sie mit ihr geführt haben, aber ich habe das Gefühl, es war eine falsche Entscheidung.
[…] ich hatte den Eindruck, ihre Selbstschädigung ließe sich auf den Stress zurückführen, dass sie wieder in die Klinik musste. Ganz zu schweigen von der Frage, ob tatsächlich suizidales Verhalten vorlag. Entscheidend ist, dass ich nichts für sie tun konnte, ihr ging es ohne uns besser.“

Obwohl er damit gegen die Regeln verstößt, fährt Kadoke noch einmal zu Michette Dubois. Ob er sie erneut einweisen lassen wolle, fragt sie spöttisch, aber er möchte ihr die Gründe für seine möglicherweise falsche Entscheidung erläutern. Am Ende gibt er ihrem Drängen nach und schreibt ihr seine Telefonnummer auf.

Es dauert nicht lang, da ruft sie an. Sie wolle eingewiesen werden, sagt sie. Kadoke erklärt ihr, sie könne selbst eine psychiatrische Klinik aufsuchen. Aber als sie mit Suizid droht und nicht nachgibt, fährt er zu ihr. In seinem Beisein trinkt sie Chlorreiniger und übergibt sich. Schließlich zieht sie sich aus. Überall am Körper hat sie Narben. Ihre Brustwarzen sind gepierct. Sex sei für sie Ablenkung von der Angst und vom Leben, sagt sie und bekennt sich zu ihrer Promiskuität. Statt sich von ihr verführen zu lassen, sagt der Psychiater:

„Ich habe noch nie jemanden aufgegeben, aber dich gebe ich auf, weil ich glaube, dass es das Beste ist, was ich für dich tun kann.“

Dann überlegt er es sich anders. Er fordert sie auf, sich anzuziehen und nimmt sie mit zu seiner Mutter. Sie soll deren Pflege übernehmen. Kadoke versteht das als alternative Therapie. Die Nacht verbringt Michette auf der Couch. Sie schläft nackt.

Mutter ist entsetzt, als sie am nächsten Morgen die Fremde auf dem Sofa entdeckt.

Mutter beugt sich vor. Sie studiert Michette gründlich. Dann sagt sie leise: „Du liebe Güte, wie hässlich sie ist.“

Kadoke erklärt ihr, die junge Frau sei seine Patientin.

„Ich will keine kranken Menschen um mich haben“, sagt Mutter.

„Woher hat sie all die Narben?“
„Das macht sie selbst. Sie verletzt sich selbst.“
„Hübscher wird sie davon nicht.“

Erst nach längerem Sträuben sagt Mutter zu Michette, die sich inzwischen angezogen hat:

„Eigentlich kann ich alles selbst. Ich brauche keine Hilfe. Aber wenn mein Sohn Sie bestellt hat, können Sie natürlich hier bleiben. Davor hatte ich zwei nepalesische Mädchen. Die waren sehr lieb. Christlich, das schon, vor allem die eine. Aber lieb.“

Während Michette, die freiberuflich als Fotografin arbeitet, einen Termin wahrnimmt, entdeckt Mutter einen gebrauchten Slip unter dem Couchtisch. Als ihr Sohn nach Hause kommt, protestiert sie erneut gegen Michettes Anwesenheit.

„Aber ich will diese Straßenfrau nicht mehr im Haus haben. Ich habe mich heute Nachmittag auch nicht aufs Sofa gelegt. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich hinlege, wo diese Straßenfrau gelegen hat?“

Mit viel Geduld und Mühe erreicht Kadoke, dass seine Patientin bleiben darf. Michette fängt an, ihn ihren Priklopil zu nennen und zu behaupten, er habe sie entführt, so wie es mit Natascha Kampusch geschehen sei.

„Wenn du mich wegschickst“, sagt sie, „wenn du aufhörst, mein Priklopil zu sein, dann bringe ich mich um. Dann habe ich nichts mehr, wofür ich leben kann.“

Weil Kadoke sich nicht von ihr verführen lässt, versucht sie ihn eifersüchtig zu machen. Sie bringt ihn dazu, sie zu einem Mann zu fahren, den sie fotografieren soll und deutet auf das Fenster der Wohnung, in der sie zum Foto-Shooting verabredet ist. Sie werde sich beim Koitus am Fenster zeigen, kündigt sie an.

„Du wirst sehen, was ich anderen gebe und nicht dir. Du wirst sehen, dass du mich nicht auf deine Weise retten wirst. Und dann leidest du. Wenn du leidest, kommst du näher, stehst du nicht mehr über mir, dann kannst du nicht mehr denken, du seist mehr als ich.“

Einige Zeit später gibt Kadoke Michettes Drängen nach und fährt mit ihr nach Zeeland, wo ihre Eltern das Strandhotel „Die Meerjungfrau“ betreiben. Das Gebäude macht einen verwahrlosten Eindruck, und Gäste sind augenscheinlich keine da. Siem Dubois freut sich über den Besuch der Tochter und bewirtet sie und Kadoke mit gebratenen Schollen. Michettes Mutter ist zu ihrer Schwester nach Eindhoven gefahren, weil sie weder einen weiteren Psychiater noch Liebhaber ihrer Tochter sehen möchte. Michette habe noch einen Bruder, erzählt Siem, mit dem sei alles in Ordnung, er arbeite in einer Großgärtnerei. Unbekümmert hebt Michette ihren Pullover hoch, zeigt ihrem Vater, dass eines der Piercings lose ist und bittet ihn, es zu richten. Ebenso selbstverständlich, wie sie ihre Brüste zeigt, holt er eine Kneifzange. Michette führt Kadoke in die Waschküche und erzählt ihm, dass sie dort im Alter von 14 Jahren die ersten männlichen Hotelgäste verführt habe.

Michette befühlt gern Kadokes Muttermale am Rücken. Weil sie größer geworden sind, lässt er sie von dem befreundeten Dermatologen Luca entfernen. Obwohl der Arzt sie für gutartig hält, will er die Gewebeproben ins Labor schicken, aber Kadoke lässt sich vier der fünf in einem Döschen für Michette mitgeben.

Es handelt sich um ein Abschiedsgeschenk. Jedes Mal, wenn er vom Ende der Therapie spricht, ritzt Michette sich erneut oder trinkt Chlorreiniger.

„Du brauchst mich also nicht mehr?“
„Ich wäre ein schlechter Psychiater, wenn ich dich bräuchte.“
„Und ich muss wirklich hier weg? Ich dachte, das hier wär mein Zuhause.“

Kadoke hält es für ratsam, dass Michette nicht sofort in ihre Wohnung zurück­kehrt, sondern erst noch einige Zeit bei ihren Eltern verbringt. „Darf Mutter nicht mit mir nach Zeeland? Kann ich sie dort nicht weiterpflegen?“, fragt sie und erinnert Kadoke an das Angebot ihres Vaters, beide aufzunehmen. Vorsichtig fragt er seine Mutter, ob sie sich vorstellen könne, ein paar Wochen mit Michette in Zeeland zu verbringen.

„Aber warum? Warum soll ich nach Zeeland in ein Hotel? Ich hab hier doch alles?“
„Es wäre gut für Michette.“
Mutter ist einen Moment still. „War sie sehr krank, das Mädchen?“

Siem Dubois richtet für Michette und Kadokes Mutter zwei benachbarte, mit einer Zwischentür verbundene Zimmer her. Seine Frau ist erneut nach Eindhoven gefahren, aber er versichert, dass sie gegen den Aufenthalt der beiden Frauen nichts einzuwenden habe.

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Im Titel „Muttermale“ schwingt mit, dass der Protagonist Otto Kadoke von seiner Mutter geprägt ist. Das Verhältnis des 42-Jährigen zu seiner zwar pflege­bedürf­tigen aber herrischen (!) Mutter wirkt krank. Was daran autobiografisch ist, wissen wir nicht, aber Vergleiche drängen sich auf: Arnon Grünbergs jüdische, in Berlin aufgewachsene Mutter Hannelore Grünberg-Klein (1927 – 2015) überlebte den Holocaust in Westerbork, Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen. Als sie 87 Jahre alt war, kehrte ihr Sohn aus New York nach Amsterdam zurück und zog zu ihr ins Elternhaus, damit er sich um ihre Versorgung kümmern konnte. Parallel zu Arnon Grünbergs Roman „Muttermale“ veröffentlichte der Verlag Kiepenheuer & Witsch am 30. September 2016 die Memoiren seiner Mutter Hannelore Grünberg-Klein unter dem Titel „Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich keine Zeit dazu“ (Übersetzung: Marianne Holberg).

Es heißt, Arnon Grünberg habe zur Vorbereitung auf seinen Roman „Muttermale“ Praktika in psychiatrischen Einrichtungen absolviert und sich in einer psychiatrischen Klinik wie einen Patienten behandeln lassen. Auf jeden Fall schildert er die Tätigkeit und die Gedanken eines Psychiaters beim mobilen Krisendienst in Amsterdam detailliert und überzeugend wie in einer Reportage.

Die Patientin Michette Dubois steht neben der Hauptfigur im Zentrum des Romans „Muttermale“. Arnon Grünberg erzählt außerdem von einem Mann, der seit 15 Jahren einen Obsthandel in Kolumbien betreibt und – vorübergehend, wie er sagt – nach Amsterdam zurückgekehrt ist. Weil er Selbstmord­gedanken äußert, sucht Kadoke ihn auf, kommt aber zu dem Schluss, dass eine Einweisung in die Psychiatrie nicht erforderlich sei. Drei Tage später nimmt sich der Mann das Leben. Noch erschütternder ist der Fall der 14-jährigen Nelleke, die sich mit Tabletten ihres Vaters zu vergiften versucht, aber rechtzeitig entdeckt wird. Weil vor allem die Jugendpsychiatrie in Amsterdam überfüllt ist, bringt Kadoke sie zum Verdruss ihres Vaters in einer gut hundert Kilometer entfernten Klinik unter.

Arnon Grünberg entwickelt die Geschichte im Präsens und konsequent aus der Sicht des Protagonisten Kadoke. Dabei kommt es ihm weniger auf eine aktionsreiche Handlung an, sondern mehr auf die Reflexionen, Grübeleien und Diskussionen des selbstunsicheren Protagonisten beispielsweise über die unklaren Grenzen zwischen Normalität und psychischer Krankheit. Arnon Grünberg plädiert in „Muttermale“ für eine bunte, liberale Gesellschaft, in der keine Konformität erzwungen wird. Im Mahlstrom gegenseitiger Abhängigkeiten lässt sich kaum noch erkennen, wer hier wen zu therapieren bzw. zu pflegen versucht. Dabei geht es auch um Abnabelungsprozesse und ums Loslassen. Im Hintergrund schwingen die großen Themen Liebe, Leben, Sterben und Tod mit.

Kadoke ist alles andere als ein starker Mann mit klaren Zielen. Die Unsicherheit der Hauptfigur spiegelt sich auch formal in „Muttermale“. Der Aufbau wirkt nicht wie aus einem Guss, und Arnon Grünberg findet auch keine Balance zwischen Tragik, Komik und Klamauk. Lesenswert ist „Muttermale“ vor allem wegen der Denkanstöße zum Thema Krankheit und Gesellschaft.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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