Marcel Proust : Eine Liebe Swanns
Inhaltsangabe
Kritik
Bei einem Theaterbesuch wird der Dandy Charles Swann durch einen Freund mit Odette de Crécy bekannt gemacht. Um Swann regelmäßig sehen zu können, schlägt ihm die junge Dame bei einer weiteren Begegnung vor, sich im Salon von Sidonie Verdurin im vornehmen Faubourg Saint-Germain einführen zu lassen. Weil Swanns Großvater nicht bereit ist, dessen „Weibergeschichten“ zu unterstützen, übernimmt Odette es schließlich selbst, ihren neuen Bekannten Madame Verdurin vorzustellen. Eine Sonate von Vinteuil, die ein junger Pianist im Salon der Verdurins vorträgt, wird gewissermaßen zur Erkennungsmelodie für die Beziehung Odettes mit Swann. Der lässt sich zunächst nur widerstrebend darauf ein. In der Kutsche, mit der er nun täglich zu den Verdurins fährt, lässt er sich von einer seiner Geliebten begleiten, einer kleinen Arbeiterin, und er erscheint immer erst nach dem Abendessen, um Odette zu zeigen, dass er auch andere Verabredungen hat. Bei den Verdurins gibt Swann sich bescheiden und prahlt beispielsweise nicht damit, dass der Prince of Wales zu seinen Freunden zählt und er mit dem Polizeipräfekten von Paris zusammen bei Staatspräsident Grévy im Elysée-Palast zum Mittagessen eingeladen ist. Höflich bringt er Odette spätabends nach Hause, aber er verabschiedet sich stets vor ihrer Tür.
Erst als ihm Odettes Ähnlichkeit mit der von Botticelli gemalten „Sephora“ auffällt, beginnt er, sie attraktiv zu finden.
Einmal vergnügt er sich so lang mit der kleinen Arbeiterin, dass Odette bereits aufgebrochen ist, als er zu den Verdurins kommt. Da hat er das Bedürfnis, sie zu suchen und lässt sich von seinem Kutscher zu verschiedenen Pariser Lokalen fahren. Tatsächlich entdeckt er Odette auf der Straße. Sie erzählt ihm, bei „Prévost“ sei kein Tisch mehr frei gewesen und sie habe deshalb im „Maison Dorée“ soupiert. Jetzt sucht sie eine Kutsche. Swann nimmt sie in seinem Wagen mit. Unterwegs scheut das Pferd vor einem Hindernis. Da drückt Swann seine Begleiterin sanft an sich, um sie zu beruhigen und erbittet die Erlaubnis, den Blumenschmuck an ihrem Dekolleté zurechtrücken zu dürfen. Vorsichtig steckt er die Cattleyablüten etwas tiefer in ihren Ausschnitt, damit sie nicht herausfallen. An diesem Abend geht er mit in ihre Wohnung, und Odette gibt sich ihm hin.
Swann verliebt sich leidenschaftlich, und seine Freunde wundern sich darüber, dass er aufgehört hat, sie zu bitten, ihn mit der einen oder anderen jungen Dame bekannt zu machen. Odette fühlt sich dadurch geschmeichelt, aber allmählich verliert sie das Interesse an Swann. Der beobachtet eifersüchtig einen neuen regelmäßigen Gast der neureichen Verdurins – Monsieur de Forcheville –, den er für Odettes neuen Favoriten hält.
Einmal redet Swann bei den Verdurins davon, dass er am nächsten Abend an einem Bankett alter Bekannter teilnehmen werde. Odette sagt daraufhin:
„Ja, ich weiß, Sie haben Ihr Bankett; da sehe ich Sie also erst hinterher bei mir, aber kommen sie nicht zu spät.“
Swann strahlt vor Glück, weil Odette sich vor allen Leuten – und insbesondere im Beisein Forchevilles – dazu bekannt, ihn täglich zu treffen. Als er nach dem Bankett sehr spät zu Odette kommt, behauptet sie, müde zu sein und weigert sich, mit ihm „Cattleya zu spielen“. Zu Hause findet Swann keine Ruhe, denn er argwöhnt, Odette habe die Müdigkeit nur vorgetäuscht, um ungestört einen anderen Liebhaber empfangen zu können. Mitten in der Nacht nimmt Swann eine Mietdroschke und fährt noch einmal zu dem Haus, in dem Odette wohnt. In einem der Fenster brennt Licht, und Swann hört undeutlich eine männliche Stimme. Also doch: ein Liebhaber! Er klopft an die Scheibe, doch es sind zwei fremde Herren, die sich unterhalten haben: Swann hat sich im Fenster geirrt.
Um Odette wenigstens für einige Tage von Forcheville fernzuhalten, reist er mit ihr an die Riviera, aber dort findet er auch keine Ruhe, weil er sich einbildet, dass alle männlichen Gäste Odette nachstellen. Die krankhafte Eifersucht verändert seinen Charakter.
Obwohl Odette bei Ausflügen in seiner Kutsche zu sitzen pflegt, wird sie einmal von den Verdurins aufgefordert, zu ihnen und Forcheville in den Wagen zu steigen. Swann protestiert und tut so, als müsse er Odette etwas Wichtiges mitteilen, aber sie hört nicht auf ihn.
Hast du bemerkt, was Swann sich jetzt uns gegenüber herausnimmt?, sagte Madame Verdurin zu ihrem Mann, als sie zu Hause waren. Als wir Odette mit zu uns in den Wagen genommen haben, sah er aus, als wollte er mich fressen. Er benimmt sich wirklich unerhört! Wir sind ja schließlich nicht dazu da, bei uns Rendezvous zu vermitteln! Ich verstehe nicht, dass Odette sich diese Manieren gefallen lässt. Er tut ihr gegenüber wirklich so, als gehöre sie ihm.
Swann denkt nur noch an Odette. Verzweifelt bringt er Freunde und Bekannte dazu, für ihn unter Vorwänden Begegnungen mit Odette zu arrangieren, aber sie schützt immer häufiger konventionelle Bedenken und andere Verpflichtungen vor, um ihn nicht sehen zu müssen. Mit Forcheville reist sie nach Bayreuth und Ägypten. Swann muss die Hoffnung aufgeben, jemals wieder von Odette geliebt zu werden.
[…] begriff Swann, dass Odettes Gefühle für ihn nicht wiederkehren, dass seine Hoffnungen auf Glück sich niemals erfüllen würden.
Eines Tages erhält er einen anonymen Brief, in dem es heißt, Odette sei nicht nur die Geliebte zahlloser Männer – darunter Forcheville –, sondern sie liebe auch Frauen und suche Stundenhotels auf.
Bei der nächsten Gelegenheit fragt Swann sie wie unter Zwang immer weiter nach lesbischen Neigungen aus, die er für ein Laster hält.
Ich spreche immer nur zu dir von Sachen, die ich weiß, und ich weiß stets mehr, als du glaubst. Du nur kannst durch ein Geständnis mildern, was mich sonst dich zu hassen zwingt, solange ich es nämlich nur von den anderen höre. Mein Groll gegen dich rührt nicht aus deinen Handlungen her – ich verzeihe dir alles, denn ich liebe dich ja –, sondern aus deiner sinnlosen Unaufrichtigkeit, mit der du Dinge abstreitest, die ich mit Sicherheit weiß.
Endlich gibt Odette zu, „zwei- oder dreimal“ mit einer Frau zusammen gewesen zu sein, und sie gesteht, dass sie an dem Abend, als Swann sie in ganz Paris suchte, nicht aus dem „Maison Dorée“, sondern von Forcheville kam, den sie bei „Prévost“ getroffen hatte. Sie war also mit Forcheville zusammen gewesen, unmittelbar bevor sie mit Swann zum ersten Mal „Cattleya“ spielte!
Odettes Gegenwart säte in Swanns Herz abwechselnd neuen Argwohn und neue Zärtlichkeitsgefühle.
Nachdem die Verdurins eine Yacht gekauft haben, nehmen sie Odette auf Seereisen mit. Während ihrer Abwesenheit gelingt es Swann, sich mehr und mehr von Odette zu lösen und die Erinnerung an seine unglückliche Liebe zu verdrängen.
Wenn ich denke, dass ich mir Jahre meines Lebens verdorben habe, dass ich sterben wollte, dass ich meine größte Leidenschaft erlebt habe, alles wegen einer Frau, die mir nicht gefiel, die nicht mein Genre war!
Das Kapitel „Eine Liebe Swanns“ aus „In Swanns Welt“, dem 1913 in zwei Bänden veröffentlichten ersten Teil des Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust, erschien mehrmals als eigenständiger Roman. Der fünfzehnbändige Zyklus „À la recherche de temps perdu“ besteht aus sieben Teilen:
- Du côté de chez Swann, 1913 (In Swanns Welt)
- À l’ombre des jeunes filles en fleurs, 1918 (Im Schatten junger Mädchenblüten)
- Le côté de Guermantes, 1920/21 (Die Welt der Guermantes)
- Sodome et Gomorrhe, 1921 – 1923 (Sodom und Gomorrha)
- La prisonnière, 1923 (Die Gefangene)
- Albertine desparue, 1925 (Die Entflohene)
- Le temps retrouvé, 1927 (Die wiedergefundene Zeit)
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ spielt um 1900 in Paris, am Fin de Siècle und in der Belle Époque. Erzählt wird elegant und anspruchsvoll von einer Figur mit dem Vornamen Marcel, die jedoch nicht ohne weiteres mit Marcel Proust identifiziert werden darf. Die zahlreichen Figuren gehören vorwiegend dem Adel und dem Großbürgertum an, aber neben Prinzen und Dandys treten auch Künstler, Literaten, Kokotten, Ärzte und Dienstboten auf. Es geht um mondäne Attitüden und soziale Zwänge, Geist und Ungeist, Kunst, Erotik, Liebe und Laster. Hauptthema ist die Zeit: Im Lauf der Zeit verändert sich das Ich aufgrund der Erfahrungen, aber in der Erinnerung können frühere Zustände bewahrt und nachempfunden werden. Beim Duft einer in Lindenblütentee eingetauchten madeleine kehren beispielsweise Erinnerungen des Erzählers an seine Jugend zurück. Falsch wäre es, die mit den Erinnerungen verknüpften Orte wieder aufzusuchen, denn sie entfalten ihre Wirkung nicht in der objektiven, sondern nur in der subjektiven Welt.
Der Binnenroman „Eine Liebe Swanns“ steht nicht in der ersten, sondern in der dritten Person und handelt von leidenschaftlicher Liebe und krankhafter Eifersucht, über die der Protagonist Charles Swann erst allmählich durch Vergessen hinwegkommt. „Eine Liebe Swanns“ besticht – ebenso wie der gesamte Zyklus – durch Marcel Prousts subtile, ausführliche und impressionistische Darstellung psychologischer Entwicklungen.
Eine Ende der Zwanzigerjahre von Rudolf Schottlaender, Franz Hessel und Walter R. Benjamin begonnene deutsche Übersetzung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ blieb unvollendet. 1953 bis 1957 erschien die hoch gelobte Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, die vier Jahrzehnte später von Luzius Keller überarbeitet wurde.
Volker Schlöndorff verfilmte „Eine Liebe von Swann“.
Originaltitel: Un amour de Swann / Eine Liebe von Swann (1984) – Regie: Volker Schlöndorff – Drehbuch: Volker Schlöndorff – Kamera: Sven Nykvist – Darsteller: Jeremy Irons (Charles Swann), Ornella Muti (Odette von Crécy), Fanny Ardant, Alain Delon u.a. – 105 Minuten
An eine filmische Adaptation des letzten Teils – „Le temps retrouvé“ („Die wiedergefundene Zeit“) wagte sich Raúl Ruiz 1999.
Außerdem gibt es eine erfolgreiche Comic-Version von Motiven aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Stéphane Heuet (1998ff).
Marcel Proust wurde am 10. Juli 1871 in Paris als Sohn eines Arztes geboren. Weil er reiche Eltern hatte, konnte er es sich leisten, bis Mitte dreißig das Leben eines Dandys zu führen. Als sich jedoch das Asthma verschlimmerte, an dem er bereits als Kind gelitten hatte, zog er sich in eine schallisolierte Wohnung zurück und arbeitete jahrelang an seinem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dessen erster Teil 1913 veröffentlicht wurde. Der Schluss erschien postum, fünf Jahre nach Marcel Prousts Tod am 18. November 1922.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag