Donna Tartt : Der kleine Freund

Der kleine Freund
Originalausgabe: The Little Friend Alfred A. Knopf, New York 2002 Der kleine Freund Übersetzung: Rainer Schmidt Wilhelm Goldmann Verlag, München 2003 ISBN 3-442-30668-X, 768 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Harriet wächst in Alexandria auf, einer Kleinstadt im Süden der USA. Sie war erst wenige Monate alt, als ihr damals neunjähriger Bruder Robin erhängt in einem Baum gefunden wurde. Vermutlich war es Mord, aber der Fall wird nie aufgeklärt, und in der Familie ist Robins Tod ein Tabu. Im Alter von zwölf Jahren beginnt Harriet mit eigenen Nachforschungen ...
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Kritik

"Der kleine Freund" ist eine episch breite Mischung aus Thriller und Familienroman, ein von schrägen Gaunern, exzentrischen alten Damen und anderen sorgfältig gezeichneten Charakteren bevölkertes Panoptikum.
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Harriet Cleve Dufresnes wächst in Alexandria auf, einer Kleinstadt im Süden der USA. Ihr Vater Dixon („Dix“) Dufresnes ist selten zu Hause: Wenn er nicht in der Bank arbeitet, in der er angestellt ist, geht er auf die Jagd. Um seine beiden Töchter Allison und Harriet kümmert er sich wenig. Dix stammt aus einer Familie von Emporkömmlingen – sein Vater besaß ein Geschäft für Installationsbedarf – und ergriff die Gelegenheit, in die angesehene Familie des Richters Cleve einzuheiraten, aber seine Ehe mit Charlotte Cleve war von Anfang an unglücklich, und als sein Schwiegervater starb, stellte sich heraus, dass er durch den Börsenkrach im Jahr 1929 sein Vermögen verloren hatte. Um die geerbten Schulden bezahlen zu können, mussten Cleves vier Töchter Libby, Edith („Edie“), Theodora („Tat“) und Adelaide das 1809 errichtete Elternhaus verkaufen und umziehen. Ihre Mutter war bei Adelaides Geburt gestorben. Harriet, die sechs Wochen vor dem Tod ihres Großvaters geboren wurde, lebt zusammen mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Allison bei ihrer Mutter Charlotte, ihrer Großmutter Edie, den unverheirateten, verwitweten bzw. geschiedenenen Großtanten Libby, Tat und Adelaide, die von den schwarzen Hausmädchen Ida und Odean bedient werden.

Als Harriet noch kein halbes Jahr alt war, wurde ihr damals neunjähriger Bruder Robin tot aufgefunden. Er hing mit dem Hals in einer Schlinge aus einem Faserkabel, dessen anderes Ende um einen Ast des schwarzen Tupelobaums in der wuchernden Ligusterhecke an der Grenze zum Nachbarhaus geknüpft war. Edie schnitt die Leiche ab. Niemand hielt es für möglich, dass der Junge sich selbst aufgehängt hatte. Charlotte wurde nach dem Tod ihres Sohnes lethargisch. Dix wechselte zu einem besser bezahlten Posten bei einer Bank in Nashville, Tennessee.

Zwölf Jahre nach Robin Cleves Tod wusste man darüber, wie es gekommen war, dass er in seinem eigenen Garten an einem Baum erhängt gestorben war, noch genauso wenig wie an dem Tag, als es passiert war. (Seite 31)

Im Alter von zwölf Jahren beginnt Harriet, sich nach dem Tod ihres Bruders zu erkundigen, aber niemand beantwortet ihre Fragen, denn über das traumatische Ereignis wird in der Familie geschwiegen. In der öffentlichen Bibliothek blättert Harriet in den zwölf Jahre alten Ausgaben der Lokalzeitung und liest, was damals über Robins Tod geschrieben wurde.

Bewundert wird Harriet von dem geschwätzigen und ängstlichen Hely Hull, dem Sohn des Direktors der High School. Harriet ist unter ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nicht besonders beliebt, weil sie als rechthaberisch gilt.

Es gab viele Mädchen in der Schule, die hübscher waren als Harriet und vor allem netter. Aber keine war so gescheit oder so tapfer. (Seite 164)

Harriet […] war weder hübsch noch süß. Harriet war schlau.
[…] Obwohl sie eine ausgezeichnete Schülerin war, wurden die Lehrer nicht mit ihr fertig […]
Harriet besaß nichts von der verträumten Fragilität ihrer Schwester […] (Seite 44)

Einmal überredet Harriet ihren Schulfreund Hely, mit ihr in Oak Lawn Estates Schlangen zu jagen. In der erst vor sieben Jahren angelegten Siedlung leben Aufsteiger. Zwar wurden die Bäume gefällt und alles gepflastert, aber in Oak Lawn Estates sirrt es von Moskitos und es wimmelt von Schlangen. Während in der George Street – wo Harriet wohnt – Nachbarinnen und Haushälterinnen aus den Häusern stürzen, wenn ein Kind schreit, wirken die Neubauten in Oak Lawn Estates wie versiegelt.

Die Leute kannten einander nicht. Hier draußen konnte man sich die Lunge aus dem Leib schreien, irgendein Sträfling konnte einen mit einem Stück Stacheldraht erwürgen, und niemand würde herauskommen, um nachzusehen, was los war. (Seite 217)

Einige Mietshäuser in Alexandria gehören Roy Dial, einem Immobilienhai, der sich an gebrechliche ältere Damen heranzumachen pflegt und ihnen seine Dienste als Vermögensverwalter anbietet.

Weil Mr Dial seine Gewinne pflichtschuldig auf die überquellenden Konten der Ersten Baptistenkirche überwies, sah er seine Methoden als gerechtfertigt an. (Seite 233)

In einem seiner Apartments wohnt Eugene, der zweitälteste der Ratliff-Brüder.

Für erbärmliches weißes Volk wie die Ratliffs gab es außer den Negern niemanden, auf den sie herabblicken konnten. Sie ertrugen den Gedanken nicht, dass die Neger jetzt genauso gut waren wie sie – und in vielen Fällen sehr viel wohlhabender und angesehener. (Seite 187)

Eugenes älterer Bruder Farish galt bis vor einigen Jahren als berüchtigster Gangster von Alexandria und Kopf der Ratliff-Familienbande. Aber dann stahl er eines Tages einen Bulldozer, walzte damit einen Stacheldrahtzaun nieder, rumpelte über eine Kuhweide und schoss sich dann mit einer Pistole in den Kopf. Die Ärzte gaben ihn bereits auf, aber Farish erwachte aus dem Koma und erholte sich in der staatlichen Irrenanstalt in Whitfield. Auf einem Auge ist er seither blind. In einem Schuppen hinter dem Wohnwagen seiner Großmutter Gum hat er inzwischen ein Methamphetaminlabor eingerichtet. Er lebt von seiner Behindertenrente und dem Drogenhandel. Eugenes jüngerer Bruder Danny ist einundzwanzig – genauso alt wie Robin jetzt wäre. Solange die Brüder Mike und Ricky Lee im Gefängnis sind, haust er allein in einem alten Wohnwagen. Der jüngste Bruder, Curtis Ratliff, bei dessen Geburt die alkoholabhängige Mutter bereits sechsundvierzig Jahre alt war, ist gutmütig, aber schwachsinnig.

Als Farish und Eugene Ende der Sechzigerjahre im Parchman-Gefängnis saßen, befreundete Farish sich mit dem Erpresser und zweifachen Mörder Dolphus Reese aus Kentucky. Eugene veränderte sich während der Haft und ist seit seiner Entlassung überzeugt, es sei seine Aufgabe, Jesus zu preisen. Jetzt hat er Besuch von Dolphus Reeses jüngerem Bruder Loyal, einem Prediger, der seit seinem zwölften Lebensjahr Schlangen beschwört und zwölf Dynamitkisten voller Giftschlangen mitgebracht hat: Wald- und Diamantklapperschlangen, Wassermokassin- und Kupferkopfschlangen sowie – in einer eigenen Kiste – eine Königskobra aus Indien.

Als Harriet erfährt, dass zwei der Ratliff-Brüder spaßeshalber von einer Brücke aus auf Schwarze geschossen haben, setzt sie sich in den Kopf, dass Danny ihren Bruder Robin ermordete. Als sie und Hely die Ratliff-Brüder beobachten, finden sie heraus, dass in Eugenes Apartment Schlangen sind, und Harriet sieht eine Möglichkeit, den Tod ihres Bruders durch einen Schlangenbiss zu rächen. Sie dringt mit Hely durch das Badfenster in Eugenes Apartment ein. Es gelingt ihnen, unbemerkt die Kiste mit der Kobra auf die Straße zu schleppen, aber dann kehren Danny, Eugene und Loyal Reese zurück. Harriet versteckt sich im Freien, Hely kopflos in dem Apartment. In seiner Angst öffnet er eine der Kisten, ohne daran zu denken, dass die herauskriechenden Schlangen zwar einerseits die Männer davon abhalten könnten, ihn zu fassen, aber andererseits auch eine Bedrohung für ihn darstellen. Um ihren Freund zu retten, zerschlägt Harriet an einem Truck der Ratliffs die Scheinwerfer und Schlusslichter, dann zertrümmert sie die Windschutzscheibe und rammt spitze Glasscherben in die Reifen. Als Loyal und Danny aus dem Haus gelaufen kommen, lügt sie ihnen vor, sie habe die Täter gesehen; es seien Weiße gewesen. Eugene wird von einer der Schlangen gebissen, und seine Hand schwillt wie ein aufgeblasener Gummihandschuh an. In dem Tumult merkt niemand, wie Hely aus dem Apartment flüchtet.

Harriet und Hely fahren die Kiste mit der Kobra auf einer Karre zu einer Brücke und lauern dort Danny auf. Als sie seinen TransAm mit offenem T-Top auf der Straße unter der Brücke kommen sehen, kippen sie im richtigen Augenblick die Kobra aus der Kiste. Die Schlange fällt in den offenen Wagen. Erst jetzt merken die beiden Kinder, dass am Steuer nicht Danny sitzt, sondern dessen Großmutter Gum. Ein Lastwagenfahrer hält neben der auf der Straße herumtaumelnden Greisin, in deren Schulter sich eine eineinhalb Meter lange Königskobra verbissen hat und schlägt auf das Tier ein, bis es loslässt und davonkriecht. Dann bringt er Gum ins Krankenhaus.

Als Farish von Gum erfährt, dass sie unmittelbar vor dem Schlangenbiss Kinder auf einer Brücke über der Straße sah, denkt er an das Mädchen, das neben dem demolierten Truck stand und beauftragt Danny, nach dem Kind zu suchen. Danny entdeckt es ausgerechnet in einem Bestattungswagen, der von dem „Catfish“ genannten Slumlord Alphonse de Bienville gesteuert wird. (Harriets Großtante Libby erlag einem Schlaganfall.) Hat Catfish die Kleine als Spitzel engagiert?

Kurze Zeit später folgt Danny heimlich seinem Bruder Farish, der mit einem Rucksack zu dem alten, früher für das Auffüllen der Dampflokomotiven benutzten Wasserturm am Güterbahnhof geht. Farish klettert hinauf und befestigt im Inneren einen schwarzen Müllsack mit Klebeband an einer Sprosse. Der Müllsack ist mit Methamphetamin-Beuteln im Wert von 5000 bis 10 000 Dollar gefüllt. Sobald Farish verschwunden ist, schaut Danny sich den versteckten Schatz an. Beim Herunterklettern merkt er, dass Harriet ihn beobachtet, aber sie flieht, bevor er auf dem Boden springt.

Am nächsten Tag kehrt Harriet zum Wasserturm zurück und entdeckt den schwarzen Müllsack im Inneren. Sie reißt ihn auf und wirft die mit weißem Pulver gefüllten Beutel in das dunkle Brackwasser. Als sie auf dem Dach wieder ins Freie kommt, steht Danny neben seinem in der Nähe des Turms geparkten Auto.

Farish hatte Verdacht geschöpft, dass Danny ihm nachspionierte und ihm zusammen mit Catfish das Methamphetamin stehlen wollte. Die beiden Brüder gerieten in Streit. Farish setzte sich in den TransAm, pfiff seinen beiden Deutschen Schäferhunden, damit sie auf die Rücksitzbank sprangen und zwang Danny, zum Güterbahnhof zu fahren. Dort hielt Danny, und als Farish sich von ihm wegdrehte, um auszusteigen, erschoss er ihn – unmittelbar bevor Harriet ihn sieht.

Danny rieb sich das Kinn und sah sich gehetzt um. Was immer ihn geritten hatte abzudrücken, war verflogen, aber seine Probleme hatten sich vervielfacht und verfinsterten die Sonne. Warum um alles in der Welt hatte er Farish im Wagen erschossen? (Seite 677)

Ich hab meinen Bruder erschossen, und warum? Weil ich so dringend pinkeln musste, dass ich nicht mehr geradeaus denken konnte. (Seite 679)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Nachdem Danny auch die beiden Hunde seines Bruders erschossen hat, wirft er die Pistole fort, denn er hat keine Patronen mehr. Er klettert am Wasserturm hoch, um sich das Methamphetamin zu holen – und trifft dort auf Harriet. Er stößt das Mädchen ins Innere und taucht es unter Wasser, während er sich an der Leiter festhält, denn er kann nicht schwimmen. Er ahnt nicht, dass Harriet – angeregt durch die Selbstbefreiungskunststücke Houdinis – seit einiger Zeit geübt hat, unter Wasser immer länger die Luft anzuhalten. Als er sie loslässt, lebt sie noch. Auf dem Dach des Wasserturms bricht Danny durch ein morsches Brett und stürzt selbst in das Wasser, während Harriet flieht.

Verzweifelt klammert Danny sich irgendwo fest. Nach zwei Tagen wird er von der Polizei gefunden und gesteht, seinen älteren Bruder umgebracht zu haben.

Erst jetzt erfährt Harriet, dass Danny Ratliff und ihr Bruder befreundet waren. Ist Danny gar nicht Robins Mörder?

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Zehn Jahre nach ihrem sensationellen Romandebüt „The Secret History“ (1992; deutsch: „Die geheime Geschichte“) veröffentlichte Donna Tartt ihren zweiten Roman: „The Little Friend“ (2002; deutsch: „Der kleine Freund“). Es ist eine episch breite Mischung aus Thriller und Familienroman. Die extrem langsam entwickelte Handlung spielt während der Siebzigerjahre in der auf Rassen- und Klassenschranken achtenden Gesellschaft einer Kleinstadt im Süden der USA. Zu Beginn lässt Donna Tartt die Leser glauben, es gehe in „Der kleine Freund“ um die Suche nach dem Mörder eines neunjährigen Jungen. Harriet, die Schwester des Opfers, die zum Zeitpunkt der Tat noch keine sechs Monate alt war, ist inzwischen eine wissbegierige, beharrliche und mutige Zwölfjährige, die sich in den Kopf setzt, ein Mitglied der stadtbekannten Gaunerfamilie Ratliff habe ihren Bruder ermordet. Durch die Rachepläne löst das Kind eine Serie von tragischen Ereignissen aus. Es kommt jedoch weder zu einer Katharsis noch zu einer persönlichen Entwicklung, und die Frage, wie der Junge starb, bleibt ungeklärt. „Der kleine Freund“ ist ein von schrägen Gaunern, exzentrischen alten Damen und anderen sorgfältig gezeichneten Charakteren bevölkertes Panoptikum. Donna Tarrt schildert einige Szenen – wie die gescheiterte Rettung einer auf dem Straßenteer festgekleben Schwarzdrossel oder eine Schlangenjagd – außergewöhnlich präzise, kraftvoll und packend, aber andere Passagen des 763 Seiten langen Romans „Der kleine Freund“ beanspruchen die Geduld des Lesers.

Donna Tartt wurde 1963 in Greenwood, Mississippi, geboren. Während ihres Studiums an der Universität von Mississippi und im Bennington College in Vermont (1981 – 1986) begann sie, an ihrem Debütroman zu arbeiten, der 1992 unter dem Titel „Die geheime Geschichte“ erschien und sie weltberühmt machte.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.