Stephan Thome : Fliehkräfte

Fliehkräfte
Fliehkräfte Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin 2012 ISBN: 978-3-518-42325-7, 474 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hartmut Hainbach ist Ende 50 und lehrt als Philosoph in Bonn. Weil seine Ehefrau Maria in einem Berliner Theaterensemble mitwirkt, führen sie eine Wochenendehe. Hartmut überlegt, ob er die Professur aufgeben und zu seiner Frau nach Berlin ziehen soll. Aber er weiß nicht, ob sie das überhaupt will. Auf einer Reise durch halb Europa grübelt er darüber nach. Er erinnert sich an Stationen seines Lebens und sucht Klarheit über sich, seine Ehe und die Beziehung zu seiner erwachsenen Tochter ...
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Kritik

Stephan Thome erzählt konsequent aus der Perspektive des Protagonisten und wechselt dabei elegant zwischen den Zeitebenen. Die Sprache ist unaufgeregt, und "Fliehkräfte" besticht nicht zuletzt durch lebensnahe Dialoge.
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Hartmut Hainbach ist Ende 50 und lehrt seit 15 Jahren als Professor für sprachanalytische Philosophie in Bonn. Vor 20 Jahren heiratete er die Portugiesin Maria Antonia Pereira aus dem Dorf Rapa in der Serra da Estrela. Sie arbeitet als Mädchen für alles im Ensemble des Theaterregisseurs Falk Merlinger in Berlin. Seit zwei Jahren führen sie deshalb eine Wochenendehe. Die 20-jährige Tochter studiert in Hamburg Ernährungswissenschaften und verbringt gerade die Sommerferien in Santiago de Compostela – um ihre Spanisch-Kenntnisse weiter zu verbessern, wie sie sagt.

Hartmut bewirbt sich in Berlin bei Peter Karow, einem guten Bekannten auch seiner Frau, als Programmleiter des kleinen Fachverlags Karow & Krieger. Das wäre zwar beruflich und finanziell ein Rückschritt, aber er möchte nicht länger allein in Bonn leben, sondern sein Haus dort verkaufen, die Professur abgeben und zu seiner Frau nach Berlin ziehen. Allerdings hat er ihr noch nichts davon gesagt und er weiß auch nicht, ob sie damit einverstanden wäre.

Erst kürzlich, bei der Autofahrt nach Heidelberg zur Hochzeit seines Neffen Florian Brunner, eines Juniorprofessors für Physik, mit der koreanischen Theologiestudentin Mi Sun, stritt er sich so heftig mit Maria, dass sie auf die linke Straßenseite gerieten und beinahe mit einem entgegenkommenden Wagen zusammengestoßen wären. Danach ließ er sich von Maria überreden, seinen ersten und bisher einzigen Joint zu rauchen. Während der Trauung saßen sie bekifft in der Kirche.

Zurück in Bonn, trifft er sich mit der attraktiven Juristin Katharina Müller-Graf in einem Restaurant und bittet sie herauszufinden, welche finanziellen Konsequenzen eine Aufgabe der Professur für ihn hätte. Auf dem Parkplatz im Hinterhof lässt sie die Handtasche fallen und küsst ihn. Seine Hand fährt unter ihren Büstenhalter, ihre in seine Hose. Aber dann besinnen sie sich und lassen voneinander ab.

Um mit sich ins Reine zu kommen, fährt Hartmut von Bonn nach Paris und besucht Sandrine Baubion. Die Französin war seine Geliebte, als er in Minneapolis studierte. Ende der Achtzigerjahre kehrte sie nach Paris zurück. Drei Jahre lang war sie mit George Baubion verheiratet. Als Hartmut schon mit Maria verheiratet war und eine Tochter hatte, schlief er noch einige Male mit ihr, aber seit Herbst 1999 haben sie sich nicht mehr gesehen. Nun erfährt er, dass Sandrine, die noch immer freiberuflich als Ethnologin tätig ist, im letzten Winter mit einem leichten Schlaganfall in Nanterre zusammenbrach. Inzwischen geht es ihr wieder gut und sie hat sogar angefangen, mit ihrer jüngeren Cousine Virginie zu klettern.

Statt von Paris nach Bonn zurückzukehren, fährt Hartmut weiter nach Süden zu Bernhard Tauschner. Sein früherer, 15 Jahre jüngerer Kollege legte vor drei Jahren seine Juniorprofessur in Bonn nieder und zog nach Mimizan in Südfrankreich, um dort ein Weinlokal zu eröffnen. Hartmut hat seinen Besuch nicht angemeldet, und als Maria ihn aus Kopenhagen anruft, wo Falk Merlingers Ensemble gerade gastiert, lässt er sie in dem Glauben, er sei in Bonn und verrät ihr nichts von seiner Reise.

Hartmut erinnert sich daran, wie er 1973 in Minneapolis auf der Suche nach einem Doktorvater war und Professor Stan Hurwitz ihn nach Hause bestellte, aber nicht, um mit ihm über die geplante Dissertation zu reden, sondern weil Hartmut ihm mit seinem Deutschkenntnissen dabei helfen sollte, das Material zu sichten, das er über den Soldatentod seines jüngeren Bruders Joey im Winter 1944/45 in Hürtgenwald in der Eifel zusammengetragen hatte. Später, 1998, kam Stan Hurwitz sogar nach Deutschland, um sich von Hartmut den Ort zeigen zu lassen, an dem Joey gefallen war. Vor drei Jahren starb der inzwischen verwitwete emeritierte Professor, und Hartmut flog nach Minneapolis, um ihm die letzten Ehre zu erweisen.

Hartmuts jüngere Schwester Ruth heiratete 1974 einen fünf Jahre älteren Mann namens Heiner Brunner. Das Paar wohnt seither in Bergenstadt bei Marburg und hat Zwillingssöhne: Felix und Florian.

Nach dem Aufenthalt in den USA kehrte Hartmut nach Berlin zurück, wo er zuvor bereits studiert hatte. Dort wurde eine verheiratete Akademikerin seine Geliebte, aber Anne Saalbach fand weder mit ihm noch mit ihrem Ehemann Klaus ihr Glück.

„Ich weiß nicht, wie lange ich so weitermachen kann“, sagt Anne. „Warum bin ich noch mit Klaus verheiratet, wenn ich dich liebe? Warum bist du mit mir zusammen, wenn du mich nicht liebst? Warum promoviere ich, wenn das Letzte, was ich will, eine akademische Karriere ist? Gibt es irgendwas in meinem Leben, das einen Sinn ergibt?“

Klaus Saalbach, einer der Mitbegründer des Therapeutenkollektivs Gegen-Warte e. V., bestand schließlich darauf, den Liebhaber seiner Frau kennenzulernen, und Hartmut besuchte das Ehepaar 1980.

1983 begegneten Hartmut und Maria sich zum ersten Mal. Er war damals mit Tereza Ortez zusammen, und Maria mit Falk Merlinger. Es verging ein ganzes Jahr, bis sie sich wiedersahen und näherkamen.

Als Tereza ihm 1985 sagte, sie sei schwanger, wurde ihm klar, dass er sie nicht liebte, obwohl sie seit vier Jahren miteinander schliefen. Er erklärte sich bereit, Unterhalt für das Kind zu bezahlen, machte Tereza jedoch klar, dass er nicht mit ihr und einem Kind zusammenleben wolle. Einige Zeit später verabredete sie sich mit ihm in einem Café und ließ sich von dort in eine Klinik begleiten, wo sie sich für eine Abtreibung angemeldet hatte.

Bald darauf, im Oktober 1985, verließ er Berlin und folgte einem Ruf nach Dortmund. Maria blieb in Berlin; sie saß noch an ihrer Magisterarbeit. Aber sie blieben in Kontakt, und im Jahr darauf unternahmen sie ihre erste gemeinsame Reise auf die Iberische Halbinsel. Dabei zeugen sie ihre Tochter Philippa.

Von Dortmund zogen sie 1990 nach Bonn. Kaum ein Jahr später bewarb Hartmut sich für eine Professur an der Freien Universität in Berlin. Er wusste nicht, dass Anne Saalbach die entsprechende Dekanin war. Sie verhinderte, dass ihr früherer Liebhaber die Stelle bekam.

In Mimizan stellt Hartmut fest, dass Bernhard Tauschner statt eines Weinlokals eine einfache Taverne besitzt. Die guten Weine trinkt er inzwischen selbst, denn es gab zu wenig anspruchsvolle Gäste, und jetzt verdient er sein Geld mit Touristen. Im Sommer wohnt er während der Woche in Mimizan, aber er hat auch ein Haus auf dem Land.

Hartmut vertraut ihm an, dass er darüber nachdenke, ebenfalls auf die Professur zu verzichten.

Bernhard erzählt ihm von Vivienne, die er in einer Bar kennenlernte. Sie gab Klavierunterricht und führte einen Musikalienhandel. Während sie ihm nackt am Flügel Chopin vorspielte, kam ihr Mann unerwartet aus Toulouse zurück. Bernhard konnte gerade noch seine Unterhose anziehen, bevor Vivienne ihn auf den Balkon hinausschob. Aber der Ehemann hatte bereits Bernhards Schuhe entdeckt. Er verriegelte die Balkontür, und Bernhard musste zusehen, wie Vivienne verprügelt wurde. Dann ließ ihn deren Mann herein und schaute mit verschränkten Armen zu, wie Bernhard seine Sachen anzog.

Am Wochenende nimmt Bernhard Hartmut mit in sein Haus und macht ihn mit seiner Freundin Géraldine bekannt. Sie ist geschieden, hat zwei Kinder, wohnt in Mont-de-Marsan und arbeitet dort als Lehrerin.

Hartmut setzt seine Reise fort. Ziel ist jetzt Santiago de Compostela. Dort möchte er seine Tochter besuchen. Er hat sich bereits angekündigt.

Nach einer Hotelübernachtung nimmt er eine junge Niederländerin aus Enschede mit, der es gleich ist, wohin er fährt, Hauptsache sie kommt von ihrem Verlobten weg. Marijke Meulenbeld brach ihr Studium Mitte der Neunzigerjahre ab und zog mit einer Punk-Band herum, nicht als Musikerin, sondern als Freundin des Bassisten und Organisatorin.

Als der Keilriemen reißt, müssen sie noch einmal übernachten, während der Wagen in der Werkstatt steht.

Eigentlich war ausgemacht, dass Marijke mit nach Santiago fahren wollte. Aber am nächsten Morgen ist sie fort.

Auch mit seiner Tochter spricht Hartmut über seine Absicht, die Professur in Bonn aufzugeben, das Haus zu verkaufen, nach Berlin zu ziehen und dort in einem kleinen Verlag anzufangen. Und er erzählt ihr, dass er daran zweifle, ob Maria das überhaupt wolle.

Philippa vertraut ihm an, dass sie lesbisch ist. Maria weiß es bereits seit einem Jahr. Hartmut bemüht sich, so unbefangen wie möglich mit der Nachricht umzugehen. Beim Frühstück am nächsten Morgen lernt er Philippas spanische Lebensgefährtin Gabriela kennen.

Sie werden nach Rapa gerufen. Marias Vater Artur ist aufgrund von Herzbeschwerden ins Krankenhaus gebracht worden. Hartmut und Philippa fahren nach Lissabon. Dort arbeitet Marias Bruder João als Zahnarzt. Er nimmt Philippa auf dem Motorrad mit. Hartmut folgt mit dem Wagen, und Maria bucht den nächsten Flug von Kopenhagen nach Porto.

Hartmut ruft seine Schwester an, um sie darüber zu informieren und erfährt bei dieser Gelegenheit, dass Ruths Sohn Florian und dessen Ehefrau Mi Sun ein Baby erwarten.

Als er Maria in Porto vom Flugzeug abholt, haben sie beide Freudentränen in den Augen.

Endlich redet er mit ihr über seine Absichten und Befürchtungen. Er berichtet ihr auch von dem Bewerbungsgespräch in Berlin. Maria gesteht ihm, längst davon gewusst zu haben. Die Initiative dazu ging von ihr aus. Sie hatte gehört, dass der Verlag einen Programmleiter suchte und Peter Karow daraufhin gebeten, ihren Mann in Betracht zu ziehen. Das beantwortet auch Hartmuts Frage, ob sie ihn überhaupt in Berlin haben wolle. Allerdings muss sie ihm nun mitteilen, dass Peter Karow zu der Überzeugung kam, Hartmut sei nicht der richtige Mann für den Job. Der Verleger war froh, als sie sich bereit erklärte, es ihrem Mann mitzuteilen.

Unterwegs biegt Hartmut ab und fährt an den Strand. Zur Verwunderung einer Frau zieht er sich aus und geht schwimmen.

Vielleicht musste er dreitausend Kilometer fahren nur für diesen Moment. Um einmal in einem anderen Element zu treiben, ohne Ziel und ohne Angst. Endlich, denkt er. Streckt Arme und Beine aus und betrachtet den Mond.
Die Fliehkräfte ruhen.
Er schwimmt.

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In seinem Roman „Grenzgang“ beschäftigte sich Stephan Thome (* 1972) mit einer Frau und einem Mann Mitte 40, deren Lebensentwürfe gescheitert sind. „Fliehkräfte“ handelt von einem Professor Ende 50, dessen Ehe in eine Krise geraten ist und der auf einer Reise von Deutschland durch Frankreich nach Spanien und Portugal darüber grübelt, wie es weitergehen soll. Er erinnert sich an Stationen seines Lebens und sucht Klarheit über sich, seine Ehe und die Beziehung zu seiner erwachsenen Tochter.

Stephan Thome erzählt konsequent aus der Perspektive des Protagonisten. Dabei lässt er sich viel Zeit. Elegant wechselt er in „Fliehkräfte“ zwischen den Zeitebenen. Hartmut Hainbachs Reise findet in der Gegenwart statt, und sie wird denn auch im Präsens dargestellt. Eingestreut sind immer wieder Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Sprache ist unaufgeregt, und obwohl sich das Meiste im Kopf der Hauptfigur abspielt, besticht „Fliehkräfte“ nicht zuletzt durch lebensnahe Dialoge. Der Roman ist allerdings um einiges zu lang.

In seinem 2014 veröffentlichten Roman „Gegenspiel“ erzählt Stephan Thome die gleiche Geschichte wie in „Fliehkräfte“, allerdings aus der Sicht von Maria Antonia Pereira.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012 / 2015
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Stephan Thome: Grenzgang
Stephan Thome: Gegenspiel
Stephan Thome: Gott der Barbaren

Lutz Seiler - Stern 111
Lutz Seiler entwickelt die Handlung fast ausschließlich aus der Perspektive des Ich-Erzählers Carl unaufgeregt und ohne Effekthascherei. Obwohl Carl autobiografische Züge des Schriftstellers aufweist und es vieles in "Stern 111" tatsächlich gab, wirkt der Wende- und Künstlerroman mitunter surreal.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.