Stephan Thome : Gegenspiel

Gegenspiel
Gegenspiel Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin 2015 ISBN: 978-3-518-42465-0, 457 Seiten, 22.95€ (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Weil die Portugiesin Maria Antonia Pereira keine Chance sieht, sich in ihrem katho­li­schen Heimatland selbst zu verwirklichen, studiert sie Theaterwissenschaft in Berlin und arbeitet mit einem anarchischen Regis­seur zusammen. Aber als sie während eines Urlaubs mit dem zehn Jahre älteren Sprach­philosophen Hartmut Hainbach schwanger geworden ist, heiratet sie über­stürzt und zieht nach Bonn. Erst als ihre Tochter das Haus verlässt, um in Hamburg zu studieren, wagt sie die Rückkehr nach Berlin – allein ...
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Kritik

In "Gegenspiel" erzählt Stephan Thome die gleiche Geschichte wie in "Fliehkräfte", allerdings aus Marias Perspektive, und es ist reizvoll, die unterschiedlichen Sichtweisen der beiden Hauptfiguren zu vergleichen.
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Maria Antonia Pereira stammt aus dem portugiesischen Dorf Rapa in der Serra da Estrela. Ihr Vater ist der Olivenbauer Artur Vitor António Pereira. Ihre Mutter Lurdes wuchs nach dem frühen Tod ihrer Eltern in einem von Nonnen geführten katholischen Kinderheim auf. Maria-Antonias älterer Bruder António starb noch vor ihrer Geburt an einer Lungenentzündung. Ihr ein Jahr jüngerer Bruder heißt João.

Die Krankenschwester Cristina, ihre drei Jahre ältere beste Freundin, verliebt sich in Marias Cousin Valentin, den ältesten Sohn ihrer Tante Teolinda, der in Lissabon Architektur studiert. Durch Valentin lernt Maria Luís kennen. Er wird ihr erster fester Freund, aber zwei Jahre lang gesteht sie ihm nicht mehr als Knutschen zu.

Deflorieren lässt sie sich von dem Fotografen Mário Silva Pais, mit dem sie keine Liebesbeziehung hat. Maria ist enttäuscht, als er es mit einer Fingerspitze erledigt. Sie meint: „Wir müssen es richtig machen, sonst gilt es nicht.“ Prompt wird sie schwanger, und vier Monate später bringt Mário sie zu einem Arzt, der eine Abtreibung vornimmt.

Trotz der Nelkenrevolution findet Maria die Verhältnisse in dem katholisch-konservativen Land bedrückend. Im Streben nach Freiheit verlässt sie Portugal 1980 und beginnt am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität in Berlin zu studieren.

Der Feminismus gehörte zu den Dingen, die man ihr in Portugal vorenthalten und durch die Forderung ersetzt hatte, an Gott zu glauben und auf den richtigen Mann zu warten.

Nach zweieinhalb Jahren lernt sie bei einer Demonstration Falk Reinhold Merlinger kennen.

Er wurde in Potsdam geboren. Als er vier Jahre alt war, verließen die Eltern mit ihm die DDR. Zwei Jahre später trennten sich die Eltern, und seine Mutter kehrte in den Osten zurück. Als dann die Berliner Mauer hochgezogen wurde, musste Falk bei seinem Vater bleiben, der als Ingenieur in einem Stahlwerk in Peine arbeitete. Zwei Tage nach dem Abitur lief Falk fort. Seinen mittlerweile gestorbenen Vater sah er danach nie wieder, und er ging auch nicht zur Beerdigung.

Die Polizei setzt gegen die Demonstranten Tränengas ein. Maria wird ebenso wie Falk festgenommen. Bei der Vernehmung behauptet sie, auf dem Weg zu ihrer brasilianischen Freundin Ana Souza unabsichtlich in die Demonstration geraten zu sein. Sie kommt nach einigen Stunden wieder frei, aber Falk wird zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Ana studiert an der Technischen Universität Elektrotechnik und jobbt als Bedienung im Café „Mescalero“.

Die Gespräche im Café waren mit der Zeit vertraulicher geworden, Ana hatte von ihrem Bruder erzählt, der im Exil in den USA lebte, nachdem er als kritischer Journalist mehrmals verhaftet worden war. Der Liebe wegen hatte Ana sich für West-Berlin entschieden, aber die Beziehung war kurz nach ihrer Ankunft auseinandergegangen, und nun plante sie seit fünf Jahren, die Stadt wieder zu verlassen. Immer kam etwas dazwischen, meistens ein Mann.

Als Maria von der polizeilichen Vernehmung in die Wohnung zurückkommt, die sie sich mit der Studentin Gudrun und dem Gitarristen Roman teilt, hofft sie vergeblich, dass der Badeofen an sei.

Sein Kopfschütteln bedeutete, dass sie frühestens in drei Stunden heiß duschen konnte. Auch das nur, wenn sie sich entweder mit den feuchten Kohlen abmühte oder Roman um einen Gefallen bat, der ihn in dem Glauben bestärkte, etwas bei ihr gutzuhaben. Seine Freundin [Gudrun] studierte an der HdK, gab Klavierunterricht an einer Zehlendorfer Musikschule und kam spät nach Hause.

Bald darauf kommt Luís über Weihnachten zu Besuch. Er ist entsetzt über die Verhältnisse, in denen er Maria vorfindet und kann nicht verstehen, warum sie nicht mit ihm in Lissabon leben will. Als er nach einer Woche wieder abreist, ist das auch das Ende der Liebesbeziehung.

Maria entdeckt den Namen Falk Merlinger auf einem Aushang im Institut für Theaterwissenschaft: Unter seiner Regie plant eine neugegründete Studenten­bühne der FU ein Stück mit dem Titel „Mauerwerk“ einzustudieren. Der zweite Initiator des Projekts heißt Sven Grashoff. Im Bewerbungsgespräch erzählt Maria, dass sie als Schülerin einmal auf der Bühne gestanden habe. Weil fünf Minuten vor ihrem Auftritt ihre Menstruation begonnen hatte, spielte sie die Lady Plymdale in „Lady Windermeres Fächer“ mit einem zwischen die Beine geklemmten Stofftaschentuch. Maria möchte bei dem Theaterprojekt mitarbeiten, aber keine Rolle übernehmen; sie wird Falks „Mädchen für alles“. Außerdem zieht sie in seine WG.

Maria bekam die Schlüssel für Haus- und Wohnungstür ausgehändigt und auf die Frage nach dem Mietvertrag ein amüsiertes Schnauben zur Antwort.

Maria verliebt sich in den unwirschen Theaterregisseur, der allerdings keinen Zweifel daran lässt, dass er von „Beziehungsgedöns“ nichts hält und zunächst einfach nur liegen bleibt, als Maria sich erstmals an seinem Körper zu schaffen macht.

Schließlich erfährt Falk, dass sein Idol Heiner Müller im folgenden Wintersemester als Gastprofessor in Gießen sein wird. Da kündigt er Maria an, dass er ein halbes Jahr lang nicht in Berlin sein wird.

1983 begegnet Maria dem zehn Jahre älteren Sprachphilosophen Hartmut Hainbach, der in Berlin studiert hatte und nach einem Aufenthalt in den USA in die Stadt zurückgekehrt war. Er ist mit Ana Souzas Mitbewohnerin Tereza Ortez liiert, die über Befreiungstheologie promoviert. Bevor er im Oktober 1985 eine Vertretungsprofessur in Dortmund annimmt, beendet er die Beziehung mit Tereza. Maria, die ihm inzwischen näher gekommen ist, bleibt noch in Berlin und schreibt ihre Magisterarbeit. Aber sie halten Kontakt, und 1986 unternehmen sie ihre erste gemeinsame Reise auf die Iberische Halbinsel. Dabei zeugen sie ungewollt ein Kind. Maria ist im fünften Monat, als sie im Dezember 1986 bei Hartmut in dessen Haus in Bergkamen einzieht.

Nach einer ungewollten Schwangerschaft und der überstürzten Hochzeit fand sie auf seinem Dortmunder Sofa endlich die Zeit, sich in ihren Mann zu verlieben.

Von dem Säugling Philippa und der Führung des Haushalts fühlt Maria sich heillos überfordert. Wegen ihrer postnatalen Depression holt Hartmut seine jüngere Schwester Ruth zu Hilfe, die mit ihrem Ehemann Heiner Brunner und den Zwillingssöhnen Felix und Florian in Bergenstadt bei Marburg wohnt.

Seit Ruth dafür sorgte, dass sie ausschlafen und spazieren gehen konnte, wie es ihr gefiel, war der Alltag leichter. Wenn Philippa nachts schrie, standen Hartmut oder sie auf, aber am Morgen übernahm seine Schwester, und den Haushalt schmiss sie außerdem.

Maria lässt sich auf eine sexuelle Affäre mit Oliver ein, der mit Frau und Kleinkind in einem der Nachbarhäuser wohnt. Er ist frustriert, denn er wollte Lehrer werden und die Familiengründung bis nach dem Referendariat aufschieben. Aber dann kam das Kind. Nun ist er Hausmann und betreut den Nachwuchs, während seine Frau als Anwältin in einer Kanzlei das Geld für den Lebensunterhalt verdient. Maria treibt es gerade mit ihm in der Waschküche ihres Hauses, da hört sie plötzlich Philippas Weinen und die Stimme von Herrn Löscher aus dem Nachbarhaus. Sie eilt über die Treppe hinauf. Ungehalten meint Herr Löscher:

„Dat Kind ruft nach Ihnen. Irgendwann bin ich rübergegangen. Dat arme Püppken.“

Maria behauptet, das Geräusch der Waschmaschine müsse das Rufen ihrer Tochter übertönt haben.

Mit dem Kind auf dem Arm stand sie vor dem aufdringlichen Alten, nachdem sie sich von einem anderen Nachbarn hatte durchficken lassen.

Herr Löscher nervt sie immer wieder mit Klagen über seine angeblich nach einer missglückten Hüftoperation leidenden Frau. Eine andere Nachbarin, die Maria beharrlich mit „Frau Hainbach“ anspricht, obwohl sie Pereira-Hainbach heißt und Wert auf ihren portugiesischen Geburtsnamen legt, weist sie darauf hin, dass Herr Löscher sich und anderen etwas vormacht, denn seine Frau ist seit drei Jahren tot. Nicht zuletzt, weil Maria befürchtet, die mitteilsame Nachbarin habe Oliver bei ihr gesehen, beendet sie die Affäre.

Hartmut bewirbt sich an der Universität Bonn, und im Frühjahr 1990 ziehen sie um. Philippa geht in Bonn in den Kindergarten. Im Jahr darauf versucht Hartmut, einen Ruf nach Berlin zu bekommen, aber das gelingt ihm nicht.

Maria beginnt Ende der Neunzigerjahre an der Volkshochschule zu unterrichten. Drei Monate lang versucht sie sich außerdem als Kulturbeauftragte von Sankt Augustin. Sind das die Freiheit und die Selbstverwirklichung, von denen sie als Jugendliche in Portugal träumte? Solange Philippa zur Schule geht, nimmt Maria sich zurück, aber als die 20-Jährige nach Hamburg zieht, um dort Ernährungswissenschaft zu studieren, hält Maria es nicht länger in der Provinz aus.

Sie geht 2007 wieder nach Berlin und wird persönliche Referentin von Falk Merlinger, der seit acht Jahren das Berliner Theaterwerk leitet und inzwischen mit der Mitarbeiterin Alexandra liiert ist. Hartmut missfällt es, dass er seine Frau nur am Wochenende sieht.

Nach zehn Monaten, während einer Autofahrt nach Heidelberg, wo sie zur Hochzeit von Hartmuts Neffen Florian Brunner mit der koreanischen Theologiestudentin Mi Sun eingeladen sind, streiten sie so heftig, dass sie auf die linke Straßenseite geraten. Hartmut bleibt dort trotz eines entgegenkommenden Fahrzeugs und lenkt erst im letzten Augenblick zurück. Nach der Ankunft in Heidelberg lässt er sich von Maria überreden, zur Beruhigung seinen ersten und bisher einzigen Joint zu rauchen, und während der Trauung sitzen die beiden bekifft in der Kirche.

Einige Wochen später spricht Maria mit dem befreundeten Verleger Peter Karow über die Möglichkeit, ihren Ehemann nach Berlin zu locken.

„Vor einem Jahr wollte ich unbedingt weg aus Bonn. Was mich hier erwarten würde, wusste ich nicht. Jetzt verbringe ich sehr viel Zeit am Theater, meine Ehe leidet darunter, und ich frage mich, ob es das wert ist.“

Peter Karow und sein Lebensgefährte Erwin Krieger haben einen kleinen kulturwissenschaftlichen Fachverlag gegründet, und es wäre denkbar, dass Hartmut die für den Fall einer Expansion geplante Position „Programmchef für den Bereich Geisteswissenschaften“ übernimmt.

Du würdest den perfekten Mitarbeiter bekommen und nebenbei meine Ehe retten.

Peter Karow weist Maria darauf hin, dass er Hartmut höchstens die Hälfte des aktuellen Professoren-Gehalts zahlen könnte.

„Glaubst du wirklich, dass Hartmut deinetwegen seinen Job an den Nagel hängt und nach Berlin kommt?“
„Es ist die einzige Lösung, die ich sehe.“
„Was sie keinen Deut realistischer macht.“

Peter berichtet von der Krankheit seines Lebensgefährten:

„Erwins Krankheit ist eine Art Altlast aus seinem früheren Leben. Anfang der Siebzigerjahre hat er eine Zeitlang in einer Künstler-Kommune in München gelebt, mit Drogen experimentiert und sich als Maler versucht, bis eine Infektion mit Gelbsucht ihn für zwei Monate auf die Intensivstation brachte. Danach war Schluss mit den Drogen und der Malerei, aber vor einem Vierteljahr hat die Vergangenheit ihn plötzlich eingeholt: Unterwegs zu einem Geschäftstermin ist er auf der Straße zusammengebrochen und bekam den Befund, dass er an chronischer Hepatitis leidet.“

„Fällt dir auf, dass wir im selben Boot sitzen, du und ich? Zum ersten Mal im Leben tun wir, wovon wir immer geträumt haben – und der Partner spielt nicht mit. Aus nachvollziehbaren Gründen, aber das macht es nicht besser.“

Immerhin erklärt Peter sich bereit, Hartmut die Stelle anzubieten.

Ein halbes Jahr später, Anfang Februar 2008, verabredet er sich mit Maria in einem Restaurant, berichtet ihr von Hartmuts Vorstellungsgespräch und erklärt ihr, dass er ihn nicht zum Programmchef bei Karow & Krieger machen könne. Als Philosoph stelle Hartmut alles in Frage und analysiere es bis ins letzte Detail. Außerdem sei er als Professor nicht daran gewöhnt, Anweisungen auszuführen.

Am nächsten Morgen fliegt Maria nach Kopenhagen, wo anlässlich der Eröffnung des neuen Schauspielhauses des Königlichen Theaters ein Festival stattfindet, zu dem auch das Berliner Theaterwerk eingeladen ist. Falk Merlingers Freude darüber hält sich in Grenzen. Er sagt zu Maria:

„Du träumst davon, dass ich eines Tages ein erfolgreicher Dramatiker werde. Mir ist das erstens egal, zweitens wird es nicht passieren. Wenn du mir deshalb hilfst, lass es bleiben.“

Das Ende seiner Liebesbeziehung mit Alexandra kommentiert Falk mit den Worten:

„Einvernehmliche Trennung. Die Krönung jeder Beziehung.“

Als Maria ihren Mann aus Kopenhagen anruft, glaubt sie, er sei nach wie vor in Bonn, und er verrät ihr nicht, dass er inzwischen in Paris war und das Gespräch in Südfrankreich entgegennimmt. Hartmut ist auf dem Weg nach Santiago de Compostela, wo er mit Philippa verabredet ist, die dort einen dreimonatigen Spanischkurs besucht.

Im Gegensatz zu ihm weiß Maria allerdings seit einem Jahr, dass Philippa lesbisch ist. Hartmut erfährt es erst in Santiago de Compostela, wo Philippa ihm ihre sechs Jahre ältere spanische Lebensgefährtin Gabriela vorstellt.

Er vertraut seiner Tochter an, dass er die Absicht habe, die Professur in Bonn aufzugeben, das Haus zu verkaufen, nach Berlin zu ziehen und dort in einem kleinen Verlag anzufangen.

Nachdem Maria ihren Mann tagelang nicht telefonisch erreicht hat, überrascht er sie mit der Nachricht, dass er bei Philippa und Gabriela in Santiago de Compostela sei. Der Akku seines Handys sei einige Zeit leer gewesen, entschuldigt er sich.

Maria macht sich Sorgen um ihren 83 Jahre alten Vater, der mit Herzbeschwerden in ein Krankenhaus in Lissabon gebracht wurde. Hartmut beruhigt sie: Die ärztliche Untersuchung habe keinen akuten ernsten Befund ergeben. Er will am nächsten Tag mit Philippa nach Lissabon fahren und seinen Schwiegervater besuchen.

In Lissabon wohnen Hartmut und Philippa bei Marias Bruder João, der dort als Zahnarzt arbeitet. Maria fliegt von Kopenhagen nach Porto, und Hartmut holt sie am Aeroporto Francisco Sá Carneiro ab. Philippa und ihr Onkel João sind bereits nach Rapa vorausgefahren.

Im Auto sprechen Maria und Hartmut sich aus. Ohne zu wissen, ob seine Frau nach 20 Jahren Ehe noch mit ihm unter einem Dach leben wolle, habe er sich um eine Anstellung bei Karow & Krieger beworben, erzählt er, und nun überlege er seit Tagen, wie er sich im Fall eines Angebots verhalten soll. Maria gesteht ihm, das Gespräch mit Peter Karow eingefädelt zu haben, in der Hoffnung, in Berlin wieder mit ihm zusammenleben zu können.

„Ob du es wolltest, wusste ich nicht. Für mich sah es nach einer Lösung aus, und Peter fand die Idee gut. Er konnte sich das vorstellen. Die Frage war, ob du bereit bist, das Risiko auf dich zu nehmen. Denn natürlich würde es ein Risiko bedeuten. Ich wollte dich nicht überreden, meinetwegen etwas zu tun, das getan zu haben du bereuen wirst, wenn es schiefgeht. Wenn dir der Job nicht gefällt oder es Probleme zwischen Peter und dir gibt. Deshalb hab ich nichts gesagt, sondern Peter hat dir das Angebot gemacht.“

Sie teilt Hartmut auch mit, dass Peter Karow ihm kein Angebot machen werde.

Hartmut erklärt seiner Frau:

„Ich suche nach einem Ausweg, aber für die Beurlaubung bis zum Ruhestand fehlt mir die Begründung. Eine, die meine oberste Dienstbehörde akzeptieren würde. Wenn ich stattdessen kündige, verliere ich alle Pensionsansprüche.“

Unterwegs biegt er ab und fährt an den Strand. Zur Verwunderung seiner Frau zieht er sich aus und geht in der Dunkelheit schwimmen. Maria setzt sich ins Auto und telefoniert mit Philippa. Dann kehrt sie an die Stelle zurück, an der sie ihren Mann zuletzt schemenhaft stehen sah.

Auf dem Boden liegt ein Kleiderbündel. Schuhe, Hose, Brille.

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In seinem Roman „Gegenspiel“ erzählt Stephan Thome (* 1972) die gleiche Geschichte wie in „Fliehkräfte“, allerdings nicht noch einmal aus der Sicht der männlichen Hauptfigur Prof. Hartmut Hainbach, sondern aus der Perspektive seiner aus Portugal stammenden Frau Maria Antonia Pereira-Hainbach. Wie in „Fliehkräfte“ geht es Stephan Thome auch in „Gegenspiel“ um Menschen, die in der Mitte des Lebens unzufrieden sind, weil sie ihre Ziele nicht erreicht und ihre Träume nicht verwirklicht haben.

Maria erträgt das Leben als Hausfrau in Bonn nicht. Sobald die Tochter das Elternhaus verlässt, um in Hamburg zu studieren, zieht die 48-jährige Theaterwissenschaftlerin deshalb allein nach Berlin und wird persönliche Referentin des Regisseurs Falk Merlinger. Doch während sie sich endlich selbst zu verwirklichen versucht, quält sie sich mit Schuldgefühlen, denn sie weiß, dass ihr Mann unter der Trennung leidet und die Ehe dadurch gefährdet ist. Immer wieder schweifen ihre Gedanken ab, und sie erinnert sich an vergangene Erlebnisse.

Die gegenwärtige, im Präsens erzählte Handlung spielt im Jahr 2008, aber die Vorgeschichte reicht bis in die Siebzigerjahre zurück. Das führt zu zahlreichen Rückblenden und Zeitsprüngen. Obwohl das Meiste im Kopf der Protagonistin abläuft, besticht „Gegenspiel“ ebenso wie „Fliehkräfte“ durch gelungene Dialoge. Gleich zu Beginn erleben wir mehrere Seiten lang einen heftigen Streit von Maria und Hartmut, bei dem sich ihr Zorn durch kleine Missverständnisse und absichtliche Wortverdrehungen aufschaukelt. Das stellt Stephan Thome sehr überzeugend dar. Hier ein kleiner Auszug:

„Permanent zwingst du mich in die Rolle derjenigen, die unsere Ehe gefährdet, indem sie ihre eigenen egoistischen Pläne verfolgt.“
„Ich wusste nicht, dass unsere Ehe in Gefahr ist.“
„Doch, das weißt du“, hört sie sich sagen. […] „Aber du scheinst nicht zu wissen, inwiefern diese Gefahr von deinem Verhalten ausgeht.“
„Informier mich.“
„Seit einem Jahr treten wir auf der Stelle –“
„Zwei Stellen“, unterbricht er. „Kann ja nicht schaden, es genau zu nehmen.“
„… kommen keinen Schritt vorwärts und verschwenden die kostbare Zeit unseres Zusammenseins damit, immer wieder dieselben ergebnislosen Gespräche zu führen. Dabei könnte das alles eine Bereicherung sein – was ich erlebe und was du erlebst. Wir haben Dinge, über die wir reden können. Wir könnten das teilen. Es könnte schön sein, wenn –“
„Wenn ich endlich diese dämliche Idee aus meinem Kopf bekäme, dass wir am besten in einer Stadt leben sollten.“

Ein anderer Dialog – Marias Vernehmung durch einen Berliner Polizisten – könnte fast aus einem Sketch stammen. Ein paar Zeilen daraus:

„Na denn.“ Der Bulle, der bis dahin mit geschürzten Lippen ihren Pass durchgeblättert hatte, legte diesen beiseite und sah ihr in die Augen. […] „Wir haben et also mit einer portugiesischen Staatsbürgerin zu tun. Dit kommt ooch nich oft vor, wa. Kannste dich erinnern, schon ma jemanden von da unten verhört zu ha’m?“, wendete er sich an seinen Kollegen, der behäbig den Kopf schüttelte. „Ooch nich, wa. Na ja, kleenet Land. Aber schön soll et sein. Könnse dit bestätigen, Frau … Pereira? Spricht man dit so aus?“
„Pereira“, sagte sie.
„Ha‘ ick jetz keenen Unterschied jehört. Deutsch verstehen Sie demnach aber, ja? In Ordnung, Deutsch?“
„Nicht sehr gut.“
„Ick bin zuversichtlich, dit wir uns verstehen werden. Jetz nach’m Dolmetscher suchen, würde dit Janze in die Länge ziehen und quasi ne Staatsaffäre draus machen. Vielleicht wollen Sie dit nich.“
„Nein.“
„Denn et is ja keene Staatsaffäre, sondern Alltach, wa. Chaoten, Rowdys, Hausbesetzer, ham wa hier fast täglich mit zu tun. Mir is ehrlich jesacht scheißejal, aus wat für’m Land Sie kommen. Für mich is dit allet eene Mischpoke. Kennen Sie den Ausdruck? Misch-po-ke.“

Satirisch ist auch die Darstellung des anarchischen Berliner Theatermachers Falk Merlinger. Dennoch ist die Sprache eher nüchtern, und es geht Stephan Thome nicht um Effekthascherei.

Wie „Fliehkräfte“ ist auch „Gegenspiel“ um einiges zu lang.

Man muss „Fliehkräfte“ nicht gelesen haben, um „Gegenspiel“ zu verstehen, aber es ist reizvoll, die unterschiedlichen Sichtweisen von Hartmut Hainbach und Maria Antonia Pereira-Hainbach zu vergleichen.

Den Roman „Gegenspiel“ von Stephan Thome gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Claudia Michelsen (Bearbeitung: Doreen Maas, Regie: Felicitas Ott, ISBN 978-3-86231-514-7).

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Stephan Thome: Grenzgang
Stephan Thome: Fliehkräfte
Stephan Thome: Gott der Barbaren

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H. G. Wells stand der Selbstzufriedenheit des Menschen über die erreichten und noch erzielbaren Fortschritte skeptisch gegenüber und veranschaulichte in "Der Krieg der Welten" auf zugleich realistische und ironische Weise die Zerstörbarkeit der irdischen Zivilisation.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.