Stephan Thome : Grenzgang

Grenzgang
Grenzgang Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-42116-1, 454 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2010 ISBN: 978-3-518-46193-8, 454 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Thomas strebt in Berlin vergeblich eine wissenschaftliche Karriere als Historiker an und kehrt als Lehrer in seinen Geburtsort Bergenstadt zurück. Kerstin wollte eigentlich nach dem Studium in Köln ein Tanzstudio eröffnen, doch mit 44 lebt sie als geschiedene Frau eines Anwalts mit ihrem 16-jährigen Sohn und ihrer pflegebedürftigen Mutter in Bergenstadt. Thomas und Kerstin stehen vor den Scherben ihrer Lebensentwürfe und versuchen nun, den Zwängen zu entkommen, die sich aus ihrer bisherigen Vergangenheit ergeben haben.
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Kritik

Stephan Thome konzentriert die Handlung auf Ereignisse während des traditionellen Grenzgangs in Bergenstadt und wechselt dabei zwischen den Jahren 1985, 1992, 1999 und 2006 hin und her. Die unaufgeregte Erzählweise passt zu der Behäbigkeit des Lebens in der Provinz.
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Kerstin Werner studiert in Köln Sport mit Schwerpunkt Tanz und beabsichtigt, nach Abschluss des Studiums ein anspruchsvolles Tanzstudio zu eröffnen. 1985 lässt sie sich von ihrer lebenslustigen Freundin Anita, mit der sie sich die Wohnung teilt, dazu überreden, den Grenzgang in Bergenstadt zu besuchen, ein dreitägiges Volksfest, das alle sieben Jahre anlässlich der rituellen Begehung der Gemeindegrenzen stattfindet. Dort verliebt Kerstin sich in den Rechtsanwalt Jürgen Bamberger. Sie bricht das Studium ab, heiratet Jürgen, zieht zu ihm nach Bergenstadt und bekommt 1990 einen Sohn, dem sie den Namen Daniel gibt.

Auch beim Grenzgang 1992 wirkt Jürgen als Fahnenträger mit. Alle sieben Jahre gehört er zu den Bürgern, die sich besonders engagieren, um die Tradition aufrechtzuerhalten. Während des Grenzgangs 1999 ist er kaum zu Hause. Kerstin merkt, dass seine Zärtlichkeiten abgenommen haben und es häufiger zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Jürgen kommt. Ohne einen konkreten Anhaltspunkt zu haben, argwöhnt sie, dass Jürgen sie betrügt. Als in einem scheinbar belanglosen Zusammenhang der Name Andrea fällt, glaubt Kerstin zu wissen, mit wem. Dann erzählt ihr auch noch der neunjährige Daniel, er habe seinen Vater mit einer Fremden auf einer Anlagenbank gesehen. Und auf dem Fest wird Kerstin von Lars Benner gefragt, ob sie ihren Ehemann nicht von seiner Freundin Andrea fernhalten könne.

Nachdem sie Daniel erlaubt hat, noch drei Runden Autoscooter zu fahren, verlässt sie den Rummel und wartet auf einer Brücke, bis ihr Sohn nachkommt.

Statt Daniel kommt Thomas Weidmann zu ihr auf die Brücke.

Thomas Weidmann stammt aus Bergenstadt. Zur Verwunderung seiner Mutter Ingrid und seiner Tante Anni Schuhmann kam er gerade aus Berlin zurück, wo er sich als Historiker habilitieren wollte. Professor Hans-Werner Schlegelberger zog ihm jedoch Jan Kamphaus vor und ließ ihn fallen. Weil Thomas‘ Freundin Konstanze, die nur auswechselbare Jobs kannte, nicht verstand, was es für ihn bedeutete, seinen Lebensentwurf nicht verwirklichen zu können, zerbrach auch die Liebesbeziehung.

Zum ersten Mal seit dreizehn oder vierzehn Jahren küsst Kerstin einen anderen Mann als den eigenen.

Sie spürte seine Hand nach ihrer greifen und suchte mit der anderen nach Halt am Brückengeländer. Der Ärger, den sie den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt hatte, wallte wieder in ihr auf […] Seine Hand lag jetzt auf ihrer Taille. Für einen Moment konnte sie sich nicht entscheiden, mit welchen Worten sie ihrem Ärger Luft machen sollte und worüber genau sie sich eigentlich ärgerte […]
Sie waren alleine. Blickten einander an. Nur mit den Augenbrauen kommentierte sie das Tun seiner Hand, das Tasten nach Haut über dem Bund ihrer Hose. Eine absurde Art von Folgerichtigkeit schien ihr in alldem zu liegen.
„Sie wollen das nicht wirklich“, flüsterte sie.
Der Kuss glich einem Wühlen nach dem Grund ihres Tuns. Beharrlich, aber ohne Hast. Ihre Hände suchten an seinem Rücken, am Nacken, wieder am Hintern – sie fand nichts. Sie hatte auch nicht erwartet, etwas zu finden. Weder auf seinen Lippen noch auf seiner Zungenspitze lag eine Antwort, und am stärksten empfand sie das Ausbleiben jeder Überraschung, ihre kühle Kenntnisnahme dieser Sinnlosigkeit. Warum küsse ich ihn, fragte sie sich und ließ seine Zunge ein Stück weiter vor. Die Erektion, die sich gegen ihren Schoß drückte, überging sie wie einen wenig sachdienlichen Hinweis […]
Gegen seinen Griff nach ihrer Brust verstärkte sie die Umarmung. Nichts, was er tat, war unangenehm, sie glaubte bloß, zum ersten Mal in ihrem Leben zu wissen, wie Frigidität sich anfühlt […] (Seite 175f)

Statt als Historiker eine wissenschaftliche Karriere zu machen, fängt Thomas Weidmann als Lehrer am Städtischen Gymnasium in Bergenstadt an.

Im Jahr darauf lassen Kerstin und Jürgen sich scheiden. Daniel wohnt abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter und eine Woche bei seinem Vater und Andrea. Mit achtunddreißig nimmt Kerstin wieder ihren Geburtsnamen an. Sie wohnt mit ihrem Sohn bei ihrer Mutter Liese Werner, die wegen ihrer Altersdemenz zunehmend auf ihre Pflege angewiesen ist. Ihr Vater starb an Krebs.

2006 versucht Daniel Bamberger, seinen Mitschüler Tommy Endler zu erpressen. Granitzny, der Leiter des Gymnasiums, spricht darüber mit Daniels Vater und beauftragt den Klassenlehrer Thomas Weidmann, die Mutter des Sechzehnjährigen zu verständigen.

Hin und wieder knüpft Thomas Kontakte im Internet. Diesmal antwortet ihm eine Frau, die sich Viktoria nennt und ihm ein Treffen im Swinger-Club „Bohème“ in Nieder-Enkbach vorschlägt.

Zur gleichen Zeit drängt Karin Preiss, die Ehefrau des Damenunterwäsche vertreibenden Unternehmers Hans-Jürgen Preiss, ihre zwei Jahre ältere Bekannte Kerstin Werner, mit ihr zusammen etwas zu unternehmen:

„Wir sind nicht mehr zwanzig, und das Leben liegt vor uns. Wir sind aber auch noch nicht siebzig, und das Leben liegt hinter uns. Wir sind Mitte vierzig, und das Leben läuft an uns vorbei.“ (Seite 218)

Sie fahren zu einem Swinger-Club in Nieder-Enkbach. Während Karin erlebnishungrig in einem der Nebenräume verschwindet, bleibt Kerstin an der Bar sitzen. Gerd, der das Etablissement mit seiner Frau zusammen führt, merkt, dass sie sich nicht wohlfühlt. Er erzählt ihr, dass er seinen Beruf als Fernfahrer nach dem zweiten Bandscheibenvorfall nicht mehr ausüben konnte. Statt im Büro des Spediteurs herumzusitzen, ist er nun Besitzer eines Swinger-Clubs.

Plötzlich fällt Kerstins Blick auf Thomas. Erschrocken schreit sie auf und läuft zum Ausgang.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Bald nach der überraschenden Begegnung im Swinger-Club verabredet Kerstin sich mit Thomas in dessen Wohnung. Bevor sie sich setzt, geht sie ins Bad. Sie entkleidet sich und wäscht sich. Dann zieht sie sich wieder an, steckt jedoch den Slip in die Handtasche. Thomas wartet auf dem Balkon. Am nächsten Morgen verschwindet Kerstin, während er noch schläft.

Auf der Straße trifft sie auf Daniel. Er war die ganze Nacht bei seiner Großmutter, die schon seit einiger Zeit im Krankenhaus liegt. Am Vorabend rief jemand an, um mitzuteilen, dass bei Liese Werner eine Sinusvenenthrombose aufgetreten sei, und weil seine Mutter nicht da war, setzte Daniel sich zu der Kranken ans Bett.

Einige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter erfährt Kerstin von Karin, dass Hans-Jürgen Preiss Konkurs anmelden müsse und seiner Frau zuvor noch einiges aus seinem Besitz übertragen habe, darunter ein Firmengebäude in Karlshütte. Dort möchte Karin mit Kerstin zusammen ein Tanzstudio eröffnen. Sie will sich um das Geschäftliche kümmern, und Kerstin soll die Ausbildung leiten.

Granitzny fragt Thomas, ob er bereit sei, den Posten des stellvertretenden Schulleiters zu übernehmen. In der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Kerstin nimmt Thomas das Angebot an.

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Im Zentrum des Provinzromans „Grenzgang“ stehen eine Frau und ein Mann, deren Lebensentwürfe scheitern. Mit Mitte vierzig stehen sie vor den Scherben ihrer Träume und versuchen nun, den Zwängen zu entkommen, die sich aus ihrer bisherigen Vergangenheit ergeben haben.

Stephan Thome (* 1972) konzentriert die Handlung auf Ereignisse in den Jahren 1985, 1992, 1999 bzw. 2006, die während der in Bergenstadt mit einem dreitägigen Volksfest gefeierten rituelle Begehung der Gemeindegrenzen (Grenzgang) stattfinden. Was sonst geschieht, erfahren wir, wenn die Romanfiguren sich daran erinnern. Dabei hält Stephan Thome sich nicht an die Chronologie, sondern wechselt zwischen den Zeitebenen hin und her. Die unaufgeregte Erzählweise passt zu der Behäbigkeit des Lebens in der Provinz.

Den Grenzgang gibt es tatsächlich, wenn auch nicht in der fiktiven hessischen Gemeinde Bergenstadt: In Stephan Thomes Geburtsort Biedenkopf bei Marburg ist der Grenzgang seit 1693 bezeugt und wird seit 1839 als Volksfest gefeiert. Der Grenzgang findet alle sieben Jahre statt, 2012 zum nächsten Mal. (Stephan Thome hat die Jahre verschoben.)

Mit seinem Debütroman „Grenzgang“ schaffte es Stephan Thome auf Anhieb in die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Brigitte Maria Bertele verfilmte den Roman „Grenzgang“ von Stephan Thome mit Claudia Michelsen und Lars Eidinger fürs Fernsehen.

Originaltitel: Grenzgang – Regie: Brigitte Maria Bertele – Drehbuch: Hannah Hollinger, nach dem Roman „Grenzgang“ von Stephan Thome – Kamera: Hans Fromm – Schnitt: David J. Rauschning– Musik: Christian Biegai – Darsteller: Claudia Michelsen, Lars Eidinger, Gertrud Roll, Harald Schrott, Gesine Cukrowski u.a. – 2013; 90 Minuten

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009 / 2013
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.