Stephan Thome : Gott der Barbaren

Gott der Barbaren
Gott der Barbaren Originalausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2018 ISBN 978-3-518-42825-2, 715 Seiten ISBN 978-3-518-75908-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mitte des 19. Jahrhunderts werden in China traditionelle Ordnungssysteme brüchig, nicht zuletzt durch religiöse Fanatiker, die einen Gottesstaat gründen (Taiping-Aufstand) und Kolonialmächte, die China zwingen, sich für den Handel mit dem Westen zu öffnen (Opiumkriege). Keine der beiden Seiten versteht die andere. Wir erleben das Geschehen u. a. aus der Sicht eines deutschen Missionars und des britischen Sonderkommissars Lord Elgin, des chinesischen Generals Zeng Guofan und einer jungen Chinesin ...
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Kritik

Stephan Thome entwickelt die vor dem Hintergrund des Taiping-Aufstands und des Zweiten Opiumkrieges in China spielende Handlung seines historischen Romans "Gott der Barbaren" im Wechsel mehrerer Perspektiven und verbindet dabei Fakten und Fiktion. Die überbordende Figuren- und Materialfülle wird durch eine episodische und ausufernde Darstellungsweise noch verstärkt.
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Philipp Johann Neukamp, 1849 – 1860

Philipp Johann Neukamp, der älteste Sohn eines Zimmermanns im Märkischen, lässt sich während seiner Walz Ende 1849 in Rotterdam von dem 46-jährigen Missionar Karl Gützlaff überreden, der niederländische Missionsbrüderschaft beizutreten. Möglichst bald soll er Gützlaff nach China folgen. Vorher begegnet er noch dem berühmten Freiheitskämpfer Robert Blum in Leipzig.

Im Sommer 1850 schifft sich Neukamp, wie versproichen, nach China ein. Am 9. November 1851, auf den Tag genau drei Jahre nach Robert Blums Hinrichtung in der Nähe von Wien, trifft er in Hongkong ein – und erfährt dort, dass Karl Gützlaff am 9. August starb. Weil es den Chinesischen Verein, für den Neukamp tätig werden wollte, also nicht mehr gibt, bewirbt er sich bei der Basler Missionsgesellschaft und wird angenommen.

Von Hong Jin, einem für die Londoner Mission in Hongkong arbeitenden Chinesen, mit dem er sich angefreundet hat, erfährt Philipp Johann Neukamp mehr über das einige Monate zuvor ausgerufene Königreich Taiping. Der Gründer Hong Xiuquan – ein Vetter von Hong Jin –  lässt sich als „Himmlischer König“ und jüngerer Bruder des christlichen Gottessohnes Jesus verehren. Großen Zulauf bekommt die Aufstandsbewegung vor allem aus der arbeitslosen Landbevölkerung. Nachdem der Regierungschef und Oberbefehlshaber Yang Xiuqing im März 1853 mit einer halben Million Kämpfern Nanking eingenommen hat, richtet Hong Xiuquan dort seine „Himmlische Hauptstadt“ ein.

Im Frühjahr 1855 verliebt sich Philipp Johann Neukamp – der sich in China Fei Lipu nennt –  in Elisabeth, eine Deutsche, die ebenfalls von Karl Gützlaff angeworben wurde und im Auftrag des Berliner Frauen-Missionsverein für China ein armseliges Findelhaus für ein paar Mädchen in Hongkong leitet. Der Hauptzweck solcher Einrichtungen besteht allerdings nicht darin, kleine Mädchen vor dem Hungertod zu bewahren.

Es ging um Mission. Männliche Chinesen konnte man nur bekehren, wenn sie auch als Christen heiraten durften, aber wen? Niemand wollte seine Tochter einem Mann anvertrauen, der nicht den Ahnen opferte, also war die einzige Lösung, dass wir Missionare die künftigen Ehefrauen selbst heranzogen. Genau dafür gab es das Findelhaus.

Hong Jin lässt seine Frau und die beiden kleinen Kinder 1857 in Hongkong zurück, um als Händler verkleidet zu den Rebellen nach Nanking zu reisen und sich dem von seinem Vetter geführten Taiping-Aufstand anzuschließen. In der „Himmlischen Hauptstadt“ wird er sofort in die Führungsriege der Bewegung aufgenommen.

Philipp Johann Neukamp möchte Elisabeth heiraten, aber sie zweifelt an der Festigkeit seines Glaubens.

Als sie 1859 an Fieber und Entkräftung stirbt, verlässt Neukamp kurz vor seinem 30. Geburtstag Hongkong und reist nach Kanton. Dort heuert er einen amerikanischen Abenteurer an, den er in einer Opiumhöhle findet. Alonzo Potter, der ein Glasauge trägt, soll ihn nach Nanking bringen.

Warum er bereit war, für einen Besuch in der Hauptstadt der Rebellen sein Leben zu riskieren, fragte ich nicht.

Neukamp bezahlt Potter zwar, gewinnt jedoch den Eindruck, dass der Einäugige ohnehin eine Rechnung mit jemanden in Nanking offen hat.

Auf dem vom Gan Jiang durchflossenen Poyang-See wehren sie im Herbst 1859 zunächst zwei Dschunken ab, deren Besatzungen ihr Boot entern wollten, aber kurz darauf werden sie von einem anderen Piratenschiff gerammt. Bevor Neukamp ebenso wie Potter vom brennenden Boot ins Wasser springen kann, zerfetzt ein Schuss seine linke Hand. Die beiden Männer retten sich ans Ufer und finden Zuflucht bei einem Chinesen namens Shi, aber Neukamp droht an Wundbrand zu sterben. Obwohl Potter bezweifelt, dass der Deutsche überleben wird, sägt er ihm entschlossen die Hand ab, während ein paar Chinesen den Verletzten festhalten. Zwei junge Chinesinnen –  San-mei und Si-mei – pflegen Neukamp gesund.

Während des erzwungenen monatelangen Aufenthalts in Hukou am Poyang-See lässt Alonzo Potter sich ein paar persönliche Informationen entlocken. Er habe in den USA einen entlaufenen Sklaven gejagt, erzählt er, aber der sei ihm entkommen. Dann hieß es, Opium sei das neue Gold, und deshalb schiffte er sich nach China ein.

„Nimm’s mir nicht übel, aber als wir uns in Kanton trafen, sahst du nicht aus, als hättest du ein Vermögen gemacht.“
„Gemacht und wieder verloren. Lange Geschichte. Mir kam jemand in die Quere.“
„Jemand, der jetzt in Nanking lebt?“
„Hör zu, wir beide haben zusammen drei Augen und drei Hände, für China reicht das. Iss weniger Opium und fang an, dich zu bewegen. Wir müssen hier weg, bevor jemand merkt, dass mein Gewehr nicht geladen ist.“ [Potter ist die Munition ausgegangen.]

Den Frühsommer 1860 verbringen Neukamp und Potter in Shanghai bei Reverend Edvin Jenkins, dem Leiter der London Missionary Society, und dessen zweiter Ehefrau Mary Ann. Selbstkritisch meint Jenkins:

Niemand hatte uns gerufen. Weil wir das Land nicht verstanden, in dem wir lebten, versuchten wir es nach unseren Vorstellungen zu verändern.

Durch seine Kontakte und Bemühungen erreicht er, dass eine Abordnung der ausländischen Missionsgesellschaften zu Gesprächen mit Vertretern des Taiping-Regimes nach Suzhou eingeladen wird. Weil dabei Philipp Johann Neukamps Freundschaft mit Hong Jin nützlich sein könnte, darf er als inoffizielles Mitglied der Delegation Anfang August mitreisen.

Lord Elgin, 1857 – 1863

Der Schotte James Bruce, 8. Earl of Elgin und 12. Earl of Kincardine, kommt 1857 – ein Jahr nach dem Beginn des Zweiten Opiumkrieges – als britischer Sonderkommissar nach China [Lord Elgin und der Zweite Opiumkrieg].

In den Augen der Briten sind die Chinesen Barbaren, schon weil sie die Füße ihrer Mädchen und Frauen verstümmeln.

Es hieß, man beginne im Kindesalter damit, die Füße mit Stoff so fest zusammenzubinden, dass sich der Fußknochen langsam verformte. Die Zehen wuchsen ein und verkümmerten, das Ergebnis war eine verkrüppelte Knolle, die die Chinesen „goldener Lotus“ nannten.

Warum halten Chinesen an der Fiktion fest, sie seien das einzig zivilisierte Land auf der Welt? Sie kämpfen mit Säbeln und verkrüppeln ihre Frauen, verdammt noch mal, es ist eine orientalische Despotie!

Lord Elgin ist ein nachdenklicher, zwiespältiger Mann, und er sieht die Chinesen differenzierter als andere. Beispielsweise bewundert er Kalligrafien. Aber das hindert ihn nicht daran, die Geschäftsinteressen seines eigenen Landes zu vertreten.

„Wir haben nicht vor, die Chinesen in die Knie zu zwingen, nur weil wir es können. Uns geht es auch nicht darum, ein Exempel zu statuieren. Wir haben Respekt vor ihren Sitten und achten ihre Tradition, auch wenn wir sie nicht verstehen.
[…] Was wir stattdessen vorhaben, ist, den Grundstein für die friedliche Kooperation unserer Länder in der Zukunft zu legen. Handel zum beiderseitigen Nutzen, Wandel der chinesischen Gesellschaft durch den Kontakt mit uns, das ist unsere Mission. Leider stehen solche Begriffe bei der Gegenseite nicht besonders hoch im Kurs.“

1858 handelt Lord Elgin mit den Chinesen den Vertrag von Tianjin aus, der den Krieg beenden soll. China verpflichtet sich, eine Reihe weiterer Häfen für den Handel mit den Vertragspartnern Großbritannien, Frankreich, Russland und USA zu öffnen, verzögert dann jedoch die Ratifizierung des aufgezwungenen Vertrags. Und als Kaiser Xianfeng 1859 keine westlichen Vertretungen in der geschlossenen Stadt Peking zulässt, wird der Zweite Opiumkrieg fortgesetzt.

Im August 1860 erobern die britisch-indisch-französischen Truppen die Festungen von Dagu am Peiho Fluss. Der Kaiser flieht mit seinem Hofstaat in die Provinz Rehe nördlich der Großen Mauer.

Als Mitglieder einer britisch-französischen Delegation gefangen genommen werden und man 20 von ihnen foltert und hinrichtet, stößt dies sogar bei der chinesischen Führung auf Kritik:

„Geiseln wurden genommen, stell dir vor! Sankolinsins Idee. Die Barbaren führen Krieg, und wir versuchen, einen Kuhhandel daraus zu machen. Jetzt stehen sie vor unseren Toren.“

Lord Elgin ordnet eine Strafexpedition an. Innerhalb von eineinhalb Wochen nehmen die britisch-französischen Streitkräfte Peking ein. Trotz seines Respekts vor chinesischer Kultur lässt Lord Elgin den Alten Sommerpalast verwüsten, ein Meisterwerk der Architektur und Gartenkunst.

Prinz Gong muss am 18. Oktober 1860 im Namen seines abwesenden Halbbruders, des kranken Kaisers Xianfeng, den um die sogenannte Pekinger Konvention erweiterten Vertrag von Tianjin ratifizieren. Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA erhalten damit das Recht, diplomatische Vertretungen in Peking zu eröffnen. Der Opiumimport wird legalisiert und die christliche Mission uneingeschränkt erlaubt. Außerdem verpflichtet sich China zur Zahlung von Reparationen an Großbritannien und Frankreich.

Im Januar 1861 übernimmt Lord Elgin das Amt des Vizekönigs von Indien. Er stirbt am 20. November 1863 in Dharmshala.

Das Manuskript seines Buches ruhte in einer Schublade [auf dem Familiensitz] in Broomhall. Auf eigene Kosten hatte Lord Elgin es veröffentlichen wollen, aber dafür war es zu konfus. Der Verfasser wusste zwar viel über China, konnte aber nie bei seinem Thema bleiben und verstrickte sich fortwährend in Widersprüche. Mal schrieb er über die britische Dekadenz, die angesichts des Aufstiegs von Russland und Amerika brandgefährlich sei, mal beklagte er die Kriegslust der englischen Bevölkerung.

Zeng Guofan, 1859 –1864

Weil die kaiserlichen Truppen nicht dazu in der Lage sind, den Taiping-Aufstand niederzuschlagen und die Ausländer im Zweiten Opiumkrieg abzuwehren, soll Zeng Guofan, ein zum General ernannter Gelehrter aus Hunan, mit einer Freiwilligen-Armee (Hunan-Armee) für Ordnung sorgen [Zeng Guofan und der Taiping-Aufstand].

Von seiner Armee hing die Zukunft der Dynastie ab. Das kaiserliche Heer war ein undisziplinierter Haufen, korrupt bis ins Mark. Soldaten rauchten Opium und gingen zu den Huren, und wenn ein Appell anstand, ließen sie sich für ein paar Kupfermünzen von armen Bauern vertreten. Es fiel niemandem auf, weil die Offiziere dasselbe taten.

Zeng Guofan, der es vorgezogen hätte, weiter über Moralfragen nachzusinnen, aber seiner vaterländischen Pflicht ohne zu zögern nachgekommen ist, erklärt im Winter 1859/60 in einer Rede vor seinen Truppen, der wesentliche Unterschied zwischen den Rebellen – den „Langhaarigen“ – und den Kaisertreuen sei Mitgefühl. Er beruft sich auf den Konfuzius-Nachfolger Mengzi und Wang Fuzhi, einen Philosophen und Historiker des 17. Jahrhunderts.

„Wer kein mitfühlendes Herz hat ‒ ist kein Mensch!“

Wenn jedoch die Barbaren keine Menschen sind, gebietet es das Mitgefühl mit dem bedrohten eigenen Volk, sie unbarmherzig zu bekämpfen.

Wir beschützen das Volk, die Langhaarigen rauben es aus. Wir helfen dem Volk, sie brennen seine Felder ab. Während wir dem Weg des Himmels folgen, zerschmettern sie Ahnentafeln und opfern dem Gott der Barbaren. Wir lieben das Volk, aber sie hassen es.

Die Liebe zum Volk und der Hass auf den Feind seien dasselbe, fügt Zeng Guofan hinzu.

„Also töten wir sie alle?“, schrie er.
„FEI REN YE!“
„Wir hacken sie in Stücke!“

Weil sich die Generäle der Zentralarmee übertölpeln lassen, durchbrechen die Rebellen im Frühsommer 1860 den Belagerungsring um Nanking. Während die Aufständischen das untere Yangtze-Tal überrennen, dringt eine in Hongkong ausgelaufene Armada der Westmächte nach Norden vor. Die Nachricht, dass die Ausländer nicht nur Shanghai, sondern auch das Yangtze-Tal gegen die „Langhaarigen“ verteidigen, überrascht Zeng Guofan, denn er hält die beiden Parteien für christliche Glaubensbrüder.

„Ich dachte, sie beten zum selben Gott.“

Sein Schüler Li Hongzhang meint in Bezug auf die Briten und Franzosen:

„Ihre eigentliche Religion ist der Handel. […] Wer ihn stört, ist ihr Feind, und das sollten wir ausnutzen.“

„Sie verehren die Kaufleute so wie wir die Gelehrten.“

Später, bei Verhandlungen mit Lord Elgin in Shanghai, wird Li Hongzhang etwas sagen, das in der Übersetzung dann so klingt:

„Die Chinesen“, dolmetschte [Harry S.] Parkes, „leben offenbar in dem Glauben, dass England eine so kleine Insel ist, dass die Hälfte der Bevölkerung auf Schiffe verfrachtet und in ferne Länder gebracht werden muss. Aus Platzmangel.“

Nach dem Scheitern der kaiserlichen Truppen erwartet man die Rückeroberung Nankings von der Hunan-Armee. General Zeng Guofan avanciert zum Generalgouverneur der drei Provinzen, in denen der Krieg am schlimmsten tobt. Inzwischen ist er so mächtig, dass Gerüchte aufkommen, er wolle den Taiping-Aufstand niederschlagen – und dann den Kaiser vom Thron jagen. Zeng Guofan hält das Gerede für gefährlich, denn sobald sich der Hof von ihm bedroht fühlen würde, müsste er damit rechnen, nach Peking gerufen und dort öffentlich enthauptet zu werden. Dass er Geld und Verstärkung benötigt, um den Krieg gewinnen zu können, spitzt seine Lage zu, denn der damit verbundene Machtzuwachs verstärkt das Misstrauen gegen ihn.

Im September 1860 reist Zeng Guofan nach Peking und besucht seinen Mentor Mushun, einen Hofbeamten im Ruhestand, einen der engsten Vertrauten des verstorbenen Kaisers Daoguang – Kaiser Xianfengs Vater und Vorgänger. Zehn Tage lässt Mushun ihn warten, dann tadelt er ihn, weil er ungerufen in die Hauptstadt gereist ist.

„Wir verlangen nach deiner Armee“, sagte er, „und hier bist du ‒ allein. Nicht die Niedertracht seiner Feinde ist es, worunter der Kaiser leidet. Wer würde von Barbaren etwas anderes erwarten? Schmerzhaft sind die Zweifel an der Loyalität seiner Untertanen.“

Er sei gekommen, um die Gründe für sein Handeln zu erläutern und zugleich als Bittsteller. Die Hunan-Armee benötigte mehr Geld, zusätzliche Männer und bessere Waffen, erklärt der General, aber Mushun hält eine Audienz bei Prinz Gong, der den abwesenden Kaiser vertritt, für undenkbar.

„Du bekommst keine Audienz bei Prinz Gong. Überleg dir, wie es aussieht: Der Kaiser flieht, und plötzlich tauchst du bei dem Mann auf, von dem viele glauben, er verkaufe das Reich an die Barbaren.“

1861 erobert Zeng Guofans jüngerer Bruder Guoquan die seit 1853 von den Aufständischen beherrschte Stadt Anqing. Aber den Taiping gelingt es mit einem Ablenkungsmanöver, vorher noch Tausende von Kämpfern durch den seit einem Jahr bestehenden Belagerungsring zu schleusen. General Zeng Guofan fordert deshalb seinen Bruder auf, die in der Stadt zurückgebliebenen 15.000 bis 20.000 Frauen, Kinder und Alte zu töten.

„Weil es notwendig ist“, sagte der General. „Wir haben einen Auftrag, also wähle deine Männer sorgfältig aus. Lass sie nicht wieder allein, sei ein Vorbild! Wenn der Feind zu allem entschlossen ist, müssen wir es auch sein.“
Jetzt erst schien sein Bruder zu verstehen, was er zu tun hatte. Zum ersten Mal änderte sich sein Blick. „Alle?“, fragte er. […]
„Wer noch Milchzähne hat, den könnt ihr laufenlassen.“

Kaiser Xianfeng stirbt am 22. August 1861 in seinem Sommerpalast in Chengde. Gut zwei Monate später wird seine Leiche in die Hauptstadt gebracht. Prinz Gong empfängt die von der Witwe und der Mutter des fünfjährigen Thronfolgers angeführte Prozession am Stadttor. Die Konkubine, die den einzigen Sohn des Kaisers gebar, trägt nun den Namen Ci Xi und gilt ebenso wie die Hauptfrau des Verstorbenen als Kaiserin-Witwe.

Zeng Guofan und Li Hongzhang gelingt es 1864, Nanking zurückzuerobern und den Taiping-Aufstand niederzuschlagen.

Huang Shuhua, 1859 – 1864

Huang Shuhua ist eines der beiden Mädchen, die dabei sind, als Alonzo Potter die Hand seines verletzten Gefährten absägt und die Philipp Johann Neukamp dann gesundpflegen. Missionare lehrten die Tochter eines Druckers lesen und schreiben. Diese fiktive Romanfigur führt in der belagerten Rebellenhauptstadt Nanking ein Tagebuch, aus dem Stephan Thome immer wieder Auszüge zitiert.

Heute früh haben Si-mei und ich den Verband gewechselt und versucht, dem Kranken etwas Brühe einzuflößen, aber er hat die ganze Zeit geschrien. Dem anderen schien es egal zu sein, der hockte auf dem Boden, hielt das komische lange Ding [Gewehr] auf dem Schoß und rauchte Pfeife. Jedes Mal, wenn ich ihn anschaue, bekomme ich eine Gänsehaut. Herr Shi, der Verwalter, hat an Magistrat Wang geschrieben und um Anweisungen gebeten, was mit den Eindringlingen geschehen soll.

Die beiden Mädchen werden gehänselt, weil ihre Füße nicht verstümmelt sind.

Si-meis Familie war so arm, dass die Töchter auf dem Feld arbeiten mussten. Meine nicht, bevor Vater seine Stelle beim korrupten Gouverneur verlor, aber dass man mir die Füße bindet, hat er trotzdem nicht erlaubt. Ich weiß noch, wie Mutter schimpfte, weil sie meinte, sie würden nie einen Mann für mich finden. Ein Mädchen mit hässlichen Füßen, das obendrein lesen und schreiben kann!

Huang Shuhua schildert schließlich, wie sie die Eroberung Nankings durch die Hunan-Armee erlebt. Den Vater hat man zu diesem Zeitpunkt bereits abgeholt.

Wir waren zu fünft. Meine Mutter, mein Bruder, seine Frau und der kleine Baobao.

Ein Offizier und zwei Gefreite pochen an die Tür und erstechen den Mann, der ihnen öffnet. Sie stürmen das Haus, verwüsten alles und ermorden die Frauen ebenso wie das sieben Jahre alte Kind. Nur die 19-jährige Huang Shuhua bleibt am Leben.

[…] ich flehte den Offizier an, mich auf der Stelle zu töten und mir das andere zu ersparen, aber er lachte nur und schüttelte den Kopf. Dich töte ich nicht, sagte er. Du kommst mit nach Hunan und wirst meine Frau.

Nachdem der Offizier einen Monat lang mit Huang Shuhua unterwegs war, übernachten sie in einer billigen Herberge. Er fällt über sie her und schläft dann schnarchend ein. Das Schwert, mit dem er ihrer Mutter den Kopf abschlug, liegt neben dem Bett. Vorsichtig steht Huang Shuhua auf, hebt die Waffe mit beiden Händen hoch und durchbohrt damit die Brust des Mannes. Im Sterben reißt er die Augen auf.

Den letzten Eintrag ins Tagebuch schreibt Huang Shuhua mit ihrem eigenen Blut, bevor sie sich am Deckenbalken erhängt.

Philipp Johann Neukamp, 1861 – 1864

Philipp Johann Neukamp alias Fei Lipu schließt sich den Taiping an. Während sein Freund Hong Jin in Ungnade fällt, steigt der Deutsche zu einem der Könige auf und wird im Winter 1861/62 auf den Namen „Heiliges Gefäß“ getauft.

Tagsüber verbrachte er die meiste Zeit damit, gegen das schlechte Gewissen anzukämpfen, das seine unverdienten Privilegien ihm verursachten.

1864, als die endgültige Niederschlagung des Taiping-Aufstands nur noch eine Frage der Zeit ist, trifft Neukamp auf Alonzo Potter, der als Söldner für die Hunan-Armee kämpft, aber vor einiger Zeit auch mal im Dienst der Rebellen stand.

Es war wie in der guten alten Zeit. Weniger Regeln, mehr Beute.

Inzwischen weiß Neukamp, wer dem früheren Sklavenjäger das Auge ausschlug. Es war Eliazar Jeremia Robards aus Boston, der sich in den USA als militanter Gegner der Sklaverei einen Namen gemacht hatte, bevor er nach China kam.

[Alonzo Potter:] „Seine Männer haben mich zu Brei geschlagen, und er stand daneben und hat sie angefeuert. Mit Bibelversen. Seitdem habe ich diese Glaskugel im Kopf.“

Unter Anleitung des Missionars Eliazar Jeremia Robards hatte Hong Xiuquan die Bibel studiert, und es heißt, er habe sich von dem Amerikaner auch taufen lassen. Später fungierte Eliazar Jeremia Robards als Außenbeauftragter des Taiping-Regimes.

Weil Potter seinen Widersacher in Nanking vermutete und sich rächen wollte, ließ er sich 1859 von Neukamp anheuern, aber nach dem Piratenüberfall im Poyang-See musste er sein Vorhaben vorübergehend aufgeben.

Inzwischen ist Eliazar Jeremia Robards beim „Himmlischen König“ in Ungnade gefallen und wird im „Pavillon der Himmlischen Gnade“ in Nanking eingesperrt. Deshalb sieht Potter im Sommer 1864 nur eine Chance, vor der Einnahme der Stadt an ihn heranzukommen und sich zu rächen: Neukamp soll Robards aus dem Gefängnis holen und zu ihm bringen. Als Gegenleistung verspricht er dem Deutschen einen Platz auf einem Schiff, das in zehn Tagen von Shanghai nach Amerika auslaufen wird. Dieses Angebot ist verlockend, weil die endgültige Niederschlagung des Taiping-Aufstands und die Rückeroberung von Nanking nur noch eine Frage der Zeit sind und Philipp Johann Neukamp dann um sein Leben fürchten muss.

Es gelingt ihm, Robards aus der belagerten Stadt zu schmuggeln. Wie vereinbart, führt er ihn zu einem Landungssteg, wo Potter mit einem Boot wartet.

Selten hatte Potter ihn seine Verachtung so deutlich spüren lassen, und nie war er sich selbst verachtenswerter und lächerlicher vorgekommen: ein ungläubiger Missionar, ein Feind der Monarchie mit absurdem Königstitel, ein verkrüppelter Freiheitskämpfer im Dienst der Tyrannei ‒ und ein Feigling. Was auch immer er früher gewagt hatte, zählte nicht mehr, wenn er jetzt einen alten Mann ans Messer lieferte, um sich selbst zu retten.

Auf dem Boot ersticht Neukamp Potter von hinten und stößt die Leiche ins Wasser, bevor er mit Robards ablegt. Als er die Sachen des Getöteten durchsucht, findet er drei Schiffskarten. Wollte der Amerikaner seinen Landsmann gar nicht töten, sondern ebenso wie Neukamp mit in die USA nehmen?

Sollte Potter am Ende nach Nanking gekommen sein, um Robards und mich zu retten?

Dann entdeckt Neukamp unter alten Decken versteckt die Chinesin, die Tee servierte, als er bei Potter war. Er denkt:

„Du hast ihren Mann getötet, jetzt musst du sie mitnehmen und heiraten.“
Ein paar Tage später hat Robards uns in Shanghai zu Mann und Frau erklärt, und noch ein paar Tage später waren wir auf See.

Für wen war das dritte Billett? Hätte einer wie Potter eine fremde Frau mit nach Amerika genommen?

 

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„Gott der Barbaren“ ist ein historischer Roman von Stephan Thome. Passagenweise kann man das Buch auch als Abenteuerroman lesen. Die Handlung, bei der Stephan Thome Fakten und Fiktion mischt, spielt in China zur Zeit des Taiping-Aufstands (1851 – 1864) und des Zweiten Opiumkrieges (1856 – 1860). Vor diesem Hintergrund geht es um Politik und Religion. Zwei grundverschiedene Kulturen prallen aufeinander: die chinesische und die des Westens. Keine der beiden Seiten versteht die andere. Die Chinesen halten die Eindringlinge für Barbaren, weil sie augenscheinlich nur Geschäftsinteressen folgen, und die Ausländer sehen in den Chinesen Barbaren, nicht zuletzt, weil die die Füße der Mädchen und Frauen verstümmeln.

Traditionelle Ordnungssysteme in China sind Mitte des 19. Jahrhunderts brüchig geworden. Man kann von einer Epochenwende sprechen, in der zunächst Halt und Orientierung verloren gegangen sind. Da gibt es durchaus Parallelen zur Gegenwart. Außerdem spiegeln der Krieg des „Himmlischen Reichs des Großen Friedens“ und der religiöse Fanatismus der Taiping-Rebellen heutige Phänomene wie den „IS“ und den Terror islamischer Fundamentalisten.

Auf der Grundlage seines detaillierten und umfassenden Wissens über die chinesische Geschichte entwickelt Stephan Thome die Handlung im ständigen Perspektivenwechsel und springt dabei auch zeitlich vor und zurück. Zwei fiktive Romanfiguren und zwei historische Akteure stehen dabei im Mittelpunkt: Huang Shuhua, die Tochter eines chinesischen Druckers, der Deutsche Philipp Johann Neukamp, der Schotte James Bruce, 8. Earl of Elgin und 12. Earl of Kincardine und der chinesische General Zeng Guofan. (Dabei kreuzen sich die Wege der drei Männer kein einziges Mal.) Stephan Thome beschränkt sich allerdings nicht auf diese vier Blickwinkel, sondern schiebt immer wieder andere Ich-Erzähler, Vorträge, Briefe, Zeitungsartikel und Dokumente ein. (Ein Personenregister im Anhang hilft bei der Orientierung.)

Brief des Himmlischen Königs Hong Xiuquan an den Chef der Barbaren-Brüder des westlichen Ozeans, empfangen in Nanking, im November 1858
Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Robert Taylor Maddox, Chinese Secretary

Antwort von Admiral Osborn, Royal Navy, Kapitän des Schiffs Ihrer Majestät Furious, an den sog. Himmlischen König Hong Xiuquan  ‒ überreicht am 12. November 1858

No. 285 ‒ New Series, no. 2 August 2, 1860
THE Missionary Magazine and CHRONICLE
Chiefly Relating to the Missions of the London Missionary Society.
Aus Shanghai erreicht uns dieser Bericht über einen Vortrag des geschätzten Rv. Edvin Jenkins über „Die theologischen Grundlagen der Taiping-Rebellion, betrachtet vor dem Hintergrund der abendländischen Kirchengeschichte“, der am 17. Mai in den Räumen der dortigen Missionsstation gehalten wurde.

Hansard’s Parliamentary Debates Protokolle der Sitzung im House of Lords vom 19. Dezember 1860″

Acting Consul Harry S. Parkes to HM Ambassador Frederick Bruce (Received April 17)
(Extract) HMS Coromandel, Huangzhou, March 24, 1861

HM Ambassador F. Bruce to Foreign Secretary Lord Russell ‒ (Received January 16, 1862)

The China Post December 19, 2012 ASIA-PACIFIC
Kampf gegen „üble Kulte“: Über 400 Festnahmen in China
(Peking, AFP)
Die Regierung der VR China verstärkt ihren Kampf gegen sogenannte ›üble Kulte‹. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua meldete, wurden am Wochenende allein in der westchinesischen Provinz Qinghai über 400 Mitglieder einer Sekte namens „Allmächtiger Gott“ festgenommen.

Die überbordende Figuren- und Materialfülle wird durch eine episodische und ausufernde Darstellungsweise noch verstärkt. „Gott der Barbaren“ ist ein ambitionierter, vielleicht überambitionierter Roman.

Stephan Thome (bürgerlich: Stephan Schmidt) wurde 1972 in Biedenkopf an der Lahn geboren. Er studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie an der FU Berlin und promovierte 2004 über „Interkulturelle Hermeneutik und die Herausforderung des Fremden“. Von 2005 bis 2011 lebte er als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Taipeh. 2009 debütierte er mit „Grenzgang“ als Schriftsteller. Sowohl mit „Grenzgang“ als auch mit „Fliehkräfte“ und „Gott der Barbaren“ stand Stephan Thome auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Zeng Guofan und der Taiping-Aufstand
Lord Elgin und der Zweite Opiumkrieg

Stephan Thome: Grenzgang
Stephan Thome: Fliehkräfte
Stephan Thome: Gegenspiel

Hannah Dübgen - Über Land
"Über Land" ist ein leiser, kosmo­poli­tischer, mit großer Empathie für die Charaktere geschriebener Roman von Hannah Dübgen. Er dreht sich um Verantwortung, Mitmenschlichkeit, Migration und Globalisierung, v. a. aber um Freiheit und Selbst­bestim­mung.
Über Land