Julia Wolf : Alles ist jetzt

Alles ist jetzt
Alles ist jetzt Originalausgabe: Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2015 ISBN: 978-3-627-00211-4, 158 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ingrid ist Anfang 20. Dem Mann, der sie als Jugendliche missbrauchte, wurde sie hörig, und seit ihrer endgültigen Trennung von ihm und einer Abtreibung lebt sie phleg­matisch weiter, ohne über ihre Verlorenheit nachzudenken oder sich ein Ziel zu stecken. Ihr Selbst­bewusst­sein ist allen­falls rudimentär vorhanden. Ingrid verdient ihr Geld hinter dem Tresen einer Sex-Bar und teilt sich mit ihrem ein paar Jahre älteren drogensüchtigen Bruder eine Wohnung, die so verwahrlost ist wie sie selbst ...
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Kritik

Julia Wolf entwickelt die verstörende Geschichte knapp und drastisch in zum Teil unvollständigen Stakkato­sätzen. Sie montiert "Alles ist jetzt" aus einer Vielzahl von Szenen, die sich nicht alle zeitlich einordnen lassen.
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Ingrid wächst mit ihrem Bruder Gordan bei ihrer Mutter Gabriele auf. Der Vater Werner verlässt die Familie.

Der hat einfach alles stehen und liegen lassen […] Wie hat man sich das vorzustellen?, fragt Ingrid, er macht so lang einfach weiter, bis er sich eines Tages ein Herz fasst und anruft. Aus dem Büro. Um Gabriele zu sagen, dass er heute nicht kommt und morgen auch nicht und überhaupt, dass es das war?

Bereits zwei Monate nach Werners Auszug lässt sich nicht mehr übersehen, dass Melanie, seine neue Lebensgefährtin, schwanger ist. Gabriele versucht, sich mit Alkohol zu trösten. Als sie sich in einen Mann namens Manfred verliebt, der ein Haus in der Toskana besitzt, verbringt sie den Sommer dort und lässt ihre Kinder allein zurück. Ingrid ist 15, ihr Bruder ein paar Jahre älter.

Während der Abwesenheit der Mutter bringt Gordan seinen Freund Moritz mit nach Hause.

Sein Vater ein hohes Tier bei der Bundeswehr, immer auf Reisen, ein Pilot in blauer Uniform. Seine Mutter eine Schönheit mit ihrer ganz eigenen Art, den Einkaufswagen durch den Edeka-Laden zu schieben. Wenn sie Moritz abends abholt, hinterlässt sie den Geruch von Maiglöckchen im Flur. Sie unterrichtet an der Volkshochschule Englisch, nein, Yoga. Ich bin froh und heiter, das Glück ist mein Begleiter, pflegt sie zu ihrem Spiegelbild zu sagen, wenn sie sich im Badezimmer einschließt.

Während Gordan und Moritz vor dem Fernsehgerät sitzen, zeigt Ingrid ihrem Bruder die leere Porzellandose, in der das vorhandene Haushaltsgeld aufbewahrt wird und weist darauf hin, dass es auch nichts mehr zu essen gebe. Gordan hält ihr einen 20-Euro-Schein hin, lässt ihn jedoch absichtlich auf den Boden fallen, bevor Ingrid ihn ergreifen kann. Gleich darauf schalten die Jungs den Fernseher aus und wollen in die Stadt fahren.

Moritz hat sich auf dem Sofa umgedreht, er sieht Ingrid an, die den Schein nicht aufheben wird, auf gar keinen Fall. Ingrid wird nicht auf dem Boden kriechen vor Gordan, dem Arsch.
Und was ist mit der?, sagt Moritz (oh Gott), nehmen wir die mit?
Gordan war schon fast an der Tür. Jetzt bleibt er stehen.
Mit der kommen wir nie rein, sagt er und dreht sich nicht einmal um. Moritz überlegt, Moritz grinst, Gordan steht still. Ingrid hört das Blut rauschen in ihren Ohren.
Klar kommen wir rein mit der, sagt Moritz und springt vom Sofa. Die Jungs sind zur Tür raus, bevor Ingrid Ich sagen kann. Da steht das Mädchen nun, blickt an sich herunter, abgeschnittene Jeans, ein altes T-Shirt des Bruders. Das Mädchen überlegt, wann es das letzte Mal die Haare gewaschen hat und ob es den Zwanni jetzt aufheben soll. Doch bevor das Mädchen Ich denken kann, erscheint Moritz’ Kopf in der Tür:
Was ist, kommst du?

Als der Türsteher vor der Disko Ingrid nach ihrem Ausweis fragt, drückt Moritz sie an sich und erklärt, sie gehöre zu ihm. Am Ende der Nacht ist Ingrid betrunken und von Joints benebelt. Moritz hebt sie aus dem Auto, trägt sie ins Haus und legt sie aufs Bett. Er schiebt der halb Bewusstlosen das T-Shirt hoch und streichelt ihre Brüste. Dann zieht er ihr die Hose aus und defloriert sie.

Am nächsten Morgen – die Jungs schlafen noch – isst Ingrid ein paar Löffel weiße Bohnen aus einer in einer Ecke verstaubten Dose. Danach kotzt sie ins Spülbecken.

Die nächsten Tage verbringen sie zu dritt. Tagsüber büffelt Moritz Toxikologie fürs Medizinstudium, nachts schläft er mit Ingrid.

[…] es tut fast gar nicht mehr weh. Manchmal ist es ganz schön.

Dann steht er unvermittelt mit einem Rucksack vor Ingrid und sagt: „Mädchen, ich muss jetzt mal los.“ Die Semesterferien sind zu Ende, und Moritz kehrt an seinen Studienort zurück.

Gabriele kehrt aus der Toskana zurück.

Gabriele schließt die Haustür auf, ihre Stimme erklingt. Gabriele ist glücklich, besagt diese Stimme, Gabriele kehrt glücklich nach Hause zurück. Da kann ihr die Sauerei, die sie vorfindet, nichts anhaben, der Schweinestall, pfeifend, i wo. Gabriele macht sich trällernd daran, aufzuräumen, zu spülen und Wäsche zu waschen. Aus der Stereoanlage ertönt eine Oper. Ingrid verkriecht sich im Keller. Sie schlüpft zu Gordan ins Bett, wie früher, als sie ein Kind war und das Heulen durchs Haus ging. Nur dass es nicht heult, sondern trällert und sie jetzt eine Bong rauchen.

Aber keine zwei Wochen später weint die Mutter wieder.

Gordan zieht zu einer Blondine in eine Souterrainwohnung im Nachbarort. Mit 18 beendet Ingrid die Schule und fängt an einer Tankstelle zu arbeiten an. Sie verlässt ihren Geburtsort, reist in eine Großstadt – wir erfahren nicht, in welche – und passt Moritz vor dem Krankenhaus ab, in dem er inzwischen als Assistenzarzt beschäftigt ist. Er gibt ihr seinen Wohnungsschlüssel und einen Zettel mit der Adresse. Dann muss er wieder hinein und weitermachen, denn er hat Nachtschicht. Im Morgengrauen steht er übermüdet vor seinem Bett, in dem Ingrid geschlafen hat. Später läuft sie ziellos durch die Stadt und sieht durch ein Fenster, wie er in einem Café eine Frau mit Pferdeschwanz küsst.

Einer wie Moritz, der kann eine Frau lieben, eine andere ficken und die dritte heiraten.

Als er nach Hause kommt, liegt Ingrid nackt in seinem Bett und schläft. Das versteht er als Einladung.

Das Mädchen ist nackt, meist schläft es, wenn Moritz nach Hause kommt. Oder tut so. Moritz kommt spät, Moritz kommt schnell, so geht das ein paar Nächte lang, bis Ingrid eines Nachts Moritz‘ Hand festhält, die zwischen ihre Beine drängt. Ingrid ist den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen, sie hat hinter ihrer Sonnenbrille gegrübelt. Ingrid ist diesem Nagen, das sie verspürt, auf den Grund gegangen. Und ist zu dem Schluss gelangt, dass es ihr nicht reicht, sich von irgendeinem alten Freund ihres Bruders ficken zu lassen, auch wenn sie den alten Freund mag und der ganz gut fickt, wenn er will.

Das Mädchen will das Märchen.

Ingrid sagt: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Sie will kein Mädchen sein, über das Moritz nach Lust und Laune verfügen kann. Prompt nimmt er sie an diesem Abend mit zur Geburtstagsparty einer Kollegin.

Das Mädchen tanzt. Das Mädchen löst sich auf. Erst wenn Moritz auftaucht, aus der Tiefe, ist das Mädchen auch wieder da. Dann hat es eine Hand. Die fängt Moritz aus der Luft und führt das Mädchen an einen Ort mit vier Wänden und wenig Raum. Dort stehen sie Bauch an Bauch, die Kloschüssel drückt gegen Ingrids Waden. Moritz streckt die Hand aus, und das Mädchen frisst, Moritz zieht einen Strich, und das Mädchen schnupft. Das Mädchen schüttelt sich, geil. Das Mädchen ist gierig nach ihm, das Mädchen ist geil, es macht sich an seinem Hosenstall zu schaffen. Moritz grinst im Dunkeln, er hat nichts dagegen, hat ganz und gar nichts dagegen. Er legt seine Hände um den Mädchenkopf, aber das Mädchen wehrt ab. Das Mädchen hat seinen eigenen Kopf, seinen eigenen Rhythmus. Auch das ist in Ordnung, es macht seine Sache ja gut.

Wenn Moritz vom Krankenhaus nach Hause kommt, wartet Ingrid schon an der Tür und macht sich dann gleich an seinem Gürtel zu schaffen. Eines Abend bringt er seinen befreundeten Kollegen Daniel mit.

Ingrid mag Daniel, sie ist gerne zu dritt.

Bei Daniels Ehefrau Judith handelt es sich um die Frau mit Pferdeschwanz, die Moritz in einem Café küsste, und bei einer Party ertappt Ingrid die beiden im Schlafzimmer.

Das Mädchen empört: Mit der Frau deines Kumpels? Es zischt: Was für ein Schwein bist du nur?

Während Moritz nach 27 Stunden ohne Schlaf einen falschen Zeh amputiert, bestätigt ein Urintest Ingrids Befürchtung, schwanger zu sein. Sobald Moritz nach Hause kommt, fragt sie ihn, was er für sie empfinde. Der Arzt, der aufgrund des Fehlers um seine Karriere besorgt ist, erklärt ihr klipp und klar, dass er sie nicht liebe. Daraufhin verlässt Ingrid seine Wohnung und sucht Zuflucht bei Daniel. Der gibt ihr auch Tabletten zum Abtreiben.

Drei Tabletten gibt Daniel dem Mädchen. Eine nimmt Ingrid sofort. Daniel kocht einen Tee. Ingrid darf noch eine Stunde auf dem Bett liegen, eine von zweiunddreißig Stunden, bevor sie die nächste Tablette nimmt. Wo sie die restlichen einunddreißig Stunden verbringt, ist Ingrids Problem.

Ohne zu wissen, wie viel Zeit seit dem Verlassen von Daniels Wohnung vergangen ist, spült sie die Tablette, die er ihr mitgab, mit einem Glas Schnaps hinunter. Sie geht zu Moritz, und als er die Tür öffnet, fällt sie ihm entgegen. Er fährt sie zum Bahnhof und setzt sie in einen Zug. Unterwegs setzt die von Daniel angekündigte heftige Blutung ein. Nach dem Aussteigen wird Ingrid in der Bahnhofshalle von ihrer Freundin Jenny entdeckt und mit nach Hause genommen.

Einige Jahre später teilt Ingrid sich mit ihrem Bruder eine Wohnung in einer Großstadt. Gordan ist arbeitslos; er vertickt Drogen, um seinen eigenen Bedarf zu finanzieren. Ingrid verdient Geld in einer Live-Sex-Bar, in der sie hinter dem Tresen steht und Getränke ausschenkt. Jenny hat ihr den Job besorgt.

Fürs Erste, hat Jenny gesagt und Ingrid mit blauen Augen angesehen, wird es schon gehen. Wohl war Jenny nicht bei der Sache, sie wollte das Beste für Ingrid. Dem Mädchen hingegen war alles egal, Ingrid war gerade mal zwanzig und unendlich müde. Jahre später leert Ingrid immer noch Aschenbecher. Ingrid leert und fegt, sie wischt und schrubbt, schleppt Fässer und schneidet Limetten, weil sie dafür bezahlt wird. Die Arbeit im Klub, das ist Ingrids Job, das hat nichts mit ihr zu tun.

Als Ingrid krank ist und nicht aufstehen kann, also auch kein Geld verdient, trägt Gordan alle Pfandflaschen in der Wohnung zusammen, bringt sie fort und kauft vom Erlös eine Dose Ravioli, Schokokekse und Cola.

In der Sex-Bar lässt die Chefin Graziella die Stripperin Olga für Ingrid einspringen. Die Russin ist froh, ihr Einkommen auf diese Weise aufbessern zu können.

Olga braucht das Geld dringend, dringender als dieses Mädchen, das einfach seine Eltern um Geld bitten könnte, wenn es nicht so stolz wäre, oder dumm. Olga, deren Leben eine Reise war, aus dem russischen Nirgendwo ins Jetzt, deren Kind nun schon sieben Jahre überlebt hat und immer noch in einem Gitterbett schläft. Ein Kind ohne Zöpfe, ohne Goldkettchen, dafür mit Medikamenten. Das alles weiß Ingrid nicht.

Einmal im Jahr, jeweils zwischen Weihnachten und Neujahr, verabredet sich Werner mit seiner Tochter Ingrid in einem Café, erzählt von seiner Frau Melanie und dem Sohn Jonas.

Wie es weitergeht, fährt Werner fort, denn der Junge habe sich in den Kopf gesetzt, Tierpfleger zu werden, und das! sei natürlich völliger Quatsch. Ingrid nickt, hört auf zu nicken. Da müsse man jetzt mal sehen. […] Denn um Tierpfleger zu werden, hätte Jonas ja kein Abitur machen müssen, also bitte, da reicht doch ein Hauptschulabschluss. Das sei doch ein ziemlicher Unsinn, Tierpfleger mit Abitur. […] Werner seufzt. Veterinärmedizin, darüber lasse sich reden. Oder warum nicht Biologie? Da könnte der Jonas auch was mit Tieren machen, wenn es denn unbedingt sein muss.

Während der Vater redet, bekommt Ingrid Zahnschmerzen und kaut deshalb etwas von den Nelken, die er ihr mitgebracht hat. Ihm fällt es nicht auf. Aber als er fragt, ob sie noch kellnere und Ingrid den Mund öffnet, um zu antworten, quillt ihr ein Schwall gelber Blüten aus dem Mund.

Ingrid schläft mit Edgar, dem Türsteher der Sex-Bar, der mit ihr auch kokst.

Ein bierbäuchiger, mittelständischer Unternehmer für Hubtechnik betritt das Etablissement im senfgelben Trenchcoat, um mit seinen Männern Weihnachten und das gute Geschäftsjahr zu feiern.

Wassereinlagerungen, der Ehering schneidet ins Fleisch. Dazu trinken sie Fernet. Der Adler muss fliegen, die Musik lauter, und Kathi zack zack! Bloß keine Pause aufkommen lassen, das könnte der Abend des Jahres werden. Die Adler fliegen tief, Graziella ihr Lotse. Kathi im Trippelschritt vorbei, im Netzanzug. Kathi, die Beine hinterm Kopf, die Beine um den Hals und runter, Kathi steckt sich den Fuß in die Möse, und zwar den linken. Was das soll? Nichts. Sie macht es, weil sie es kann. Die Männer grölen, und Kathi ist etwas verunsichert, das war gar nicht lustig gemeint. Zum Glück kommt Mike, seinen Schwanz in der Hand, das ist doch mal eindeutig. Den Männern tropft das Grölen vom Kinn. Graziellas Finger beschreibt einen Kreis, noch eine Runde, von beidem, Ficken und Fernet. Den Männern um den Senfgelben wird alles geboten. Was der Klub zu bieten hat, wird ihnen dargebracht. Doch das reicht nicht. Dort hinten, zwischen den Spiegeln, da steht eine still. Die lächelt ja nicht. Die ist gar nicht da. Ein hübsches Ding, was soll die kosten? Ingrid regt sich, sie muss kurz, die Hände im Spülwasser, sie war kurz mit den Gedanken woanders. Eine Bierwampe an ihrem Tresen, ein senfgelber Fleck, insistiert:
Was die kostet?
Wer, die?
Die hier, du da.
Ist nicht zu haben.
Schallendes Lachen des Kunden, Ingrid muss rülpsen, Steck dir. Mit samtsanfter Stimme: Wie wäre es, Sie steckten sich. Unter schwarzblauen, bleiernen Lidern: Alter, steck dirn Fingern Arsch. Schreck höchstens ob der Artikulation, nicht ob des Inhalts.

An einem der nächsten Abende kehrt der Unternehmer im senfgelben Trenchcoat allein zurück und hat es nach wie vor auf Ingrid abgesehen. Er beschwert sich bei der Chefin Graziella, dass ihn die Bardame beleidigt habe und verlangt eine Entschuldigung.

Wie wäre es, wenn das Mädchen seinen eigenen Vorschlag befolge, als Wiedergutmachung. Bloß nicht sich selbst, sondern ein anderer ihr. Und auch nicht den Finger. Der Senfgelbe deutet in Richtung Bühne.

Für Mike spielt es keine Rolle, welche der Frauen er auf der Bühne penetriert, aber Ingrid weigert sich. Auch als der Gast eine Menge Geld bietet und die Summe sogar noch erhöht, geht sie nicht darauf ein. Aber als sie Altglas hinausbringt, schickt Olga sie mit einem Faustschlag zu Boden, zerbeißt dann eine Kapsel und küsst sie, um ihr die Droge in den Mund zu schieben. Kurz darauf kauert Ingrid mit hängenden Brüsten auf allen Vieren vor Mike auf der Bühne, und Olga reißt ihr den Kopf hoch, damit Ingrid den triumphierenden Unternehmer sieht.

Als sie nach Hause kommt, liegt Gordan bäuchlings auf dem Bett.

Da ist ein Röcheln, kein Atmen. Wie einer, dem einer. Dem sie die Fresse zertrümmert, mit Fäusten und Ringen und Holz. Das Kissen um Gordans Kopf voller Blut. Ingrid lässt ihre Tasche fallen.

Ingrid alarmiert den Notarzt.

Als sie allein ist, entdeckt sie einen im Rahmen des Wandspiegels steckenden Umschlag: Jennys Weihnachtsgeschenk, ein Ticket.

Ingrid fliegt nach New York, und als die vorausbezahlten Tage im Hotel vorbei sind, wechselt sie in ein Zimmer ohne Badewanne.

Von einer Nachbarin ihrer Mutter erhält sie eine Mail, und als sie die angegebene Nummer anruft, erfährt sie, dass Gabriele tot ist. Die Mutter erlag einem Schlaganfall.

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Der Roman „Alles ist jetzt“ dreht sich um eine Frau Anfang 20. Dem Mann, der sie als Jugendliche missbrauchte, wurde Ingrid hörig, und seit ihrer endgültigen Trennung von ihm und einer Abtreibung lebt sie phlegmatisch weiter, ohne über ihre Verlorenheit nachzudenken oder sich ein Ziel zu stecken. Ihr Selbst­bewusst­sein ist allenfalls rudimentär vorhanden. Ingrid verdient ihr Geld hinter dem Tresen einer Live-Sex-Bar und teilt sich mit ihrem ein paar Jahre älteren drogensüchtigen Bruder eine Wohnung, die so verwahrlost ist wie sie selbst.

Julia Wolf entwickelt die verstörende Geschichte knapp und drastisch in zum Teil unvollständigen Stakkatosätzen, und zwar mit wenigen Ausnahmen aus der Perspektive der Protagonistin. Ebenso wenig wie die Romanfigur reflektiert die Autorin in „Alles ist jetzt“ über psychologische Ursachen von Ingrids Misere. Darum geht es in diesem expressionistischen Roman nicht. Das gegenwärtige Geschehen findet innerhalb weniger Tage am Ende eines Jahres statt, aber in zahlreichen ineinander verschachtelten Rückblenden erleben wir auch Ereignisse aus Ingrids Vergangenheit mit. Julia Wolf hat „Alles ist jetzt“ aus einer Vielzahl von Szenen, Eindrücken und Erinnerungen montiert, die sich nicht alle zeitlich einordnen lassen. Mitunter greift Julia Wolf auch voraus:

[…] heute Abend trägt Ingrid ein Kleid und stellt die üblichen Fragen (Jahre später wird sie den Kopf eines Spanferkels in der Auslage einer Metzgerei betrachten und daran denken, wie sie Moritz gefragt hat, worin genau seine Arbeit besteht.)

Die scheinbar chaotische Darstellung und die kaputte Sprache entsprechen der Protagonistin. Zu diesem besonderen Stil passt auch der Verzicht auf psychologische Analysen und Erläuterungen. Aber restlos überzeugt hat mich der Roman nicht.

Bei „Alles ist jetzt“ handelt es sich um das Romandebüt der 1980 in Groß-Gerau geborenen Schriftstellerin Julia Wolf. Der Titel entspricht dem ersten Teil eines Satzes aus dem Buch: „Alles ist jetzt und alles wie immer.“

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Frankfurter Verlagsanstalt

Sadie Jones - Der Außenseiter
Als auktoriale Erzählerin entwickelt Sadie Jones die Handlung rasch, schnörkellos und chronologisch-linear. Sie versetzt sich in die Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten und leuchtet alles intensiv aus. "Der Außenseiter" liest sich leicht und schnell. Die melodramatische Geschichte ist mitreißend inszeniert.
Der Außenseiter