Kristine Bilkau : Nebenan

Nebenan
Nebenan Luchterhand Literaturverlag, München 2022 ISBN 978-3-630-87519-4, 288 Seiten ISBN 978-3-641-19315-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In einem Dorf verschwindet eine Familie mit drei Kindern. Niemand weiß, ob den Menschen etwas zugestoßen ist. Die Nachbarin erwägt, die Polizei einzuschalten, unterlässt es dann aber, weil sie sich nicht einmischen und den Leuten auch keine Unannehmlichkeiten bereiten möchte. Aber könnte das auch bedeuten, dass sie wegsieht statt soziale Verantwortung zu übernehmen?
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Kritik

Der in keiner Weise idyllische Dorfroman "Nebenan" dreht sich um zwei grundverschiedene Frauen, aus deren Perspektiven Kristine Bilkau die Handlung entwickelt. Ungewöhnlich ist, dass vieles angedeutet wird, aber am Ende bewusst offen bleibt.
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Julia

Julia und Chris wohnen seit einen halben Jahr in einem Dorf am Nord-Ostsee-Kanal. Das Backsteinhaus, Baujahr 1921, erwarben sie von einem Informatiker aus Berlin, der es von einer Tante geerbt hatte.

Chris‘ Dozentenstelle im Zentrum für Schulbiologie und Umwelterziehung in Hamburg wurde nicht verlängert. Umso stärker engagiert er sich für den Umweltschutz, beispielsweise wenn er eine mit Plastikmüll übersäte Stelle in der Förde entdeckt. Seit vier Jahren verzichten Chris und Julia auf ein Auto. Julia, die Kunstgeschichte studierte und töpfert, hat sich in der nahen Kreisstadt einen Keramikladen eingerichtet.

Julia ist 38 Jahre alt, und weil sie und Chris noch kein Kind haben, versuchen sie es mit In-Vitro-Fertilisation. Aber nach zwei vergeblichen Versuchen bezweifelt sogar der Arzt, ob sich weiterer Aufwand lohnt, und Chris würde lieber in eine Solaranlage als in künstliche Befruchtung investieren. Im Gegensatz zu Julia, die als Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs, die sich schon während der Schwangerschaft von ihrem Mann getrennt hatte, hat Chris eine große Verwandtschaft.

[Julias] Mutter musste sich in Sicherheit gebracht haben, warum sonst hätte sie an einem Morgen abgewartet, bis sie allein in der Wohnung gewesen war, um zu gehen? Warum sonst war sie in ein Hotel gezogen, warum sonst hatte sie danach die Stadt verlassen […]?

Astrid

Astrid ist Anfang 60. Sie und ihre Schwester Kerstin wuchsen bei ihrer Tante Elsa im Dorf auf. Die Tante, die als Krankenschwester arbeitete, sorgte auch dafür, dass ihre beiden Nichten studieren konnten. Kerstin zog nach Toronto und lebt seither dort. Astrid studierte Medizin und betreibt in der Kreisstadt mit Unterstützung der Sprechstundenhilfe Doris eine Praxis, für die sie allerdings inzwischen einen Nachfolger bzw. eine Nachfolgerin sucht.

Astrids Ehemann Andreas war Geschichtslehrer am Gymnasium. Seit fast drei Jahren ist der jetzt 67-Jährige in Pension.

Das Haus erbten sie von seinen Großeltern.

Die drei Söhne sind längst weggezogen. Der älteste lebt mit einer Wissenschaftlerin aus Delhi in Malmö. Die Frau brachte zwei Kinder mit, zwei weitere kamen dazu. Der jüngste hat sein zweites Studium in Berlin abgebrochen. Der mittlere wohnt in Den Haag.

Anfang Januar 2017 wird die Ärztin zu einer Toten gerufen. Gesa Bruns, eine Frau, die in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre, liegt in der Badewanne. Weil Astrid ein Hämatom am Oberarm auffällt, kreuzt sie im Totenschein „Anhaltspunkte für nicht natürlichen Tod“ an und ruft zum Verdruss des Witwers die Polizei.

Die Frau könnte sich gestoßen haben, doch jemand könnte den Arm auch hart angepackt haben.

Sie fragt sich, wie oft in den vielen Berufsjahren sie Notlagen übersehen hatte. Wie viele Frauen wohl in ihrer Praxis gesessen, aber keine medizinische Hilfe gebraucht hatten. Frauen, die über Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen oder Herzrasen geklagt hatten, über Ängste oder Nervosität. Aber eigentlich etwas anderes erzählen wollten. Ihr Problem nicht in Worte fassen konnten. Sie fragt sich, wie oft sie schlichtweg blind dafür gewesen ist.

In einem Feld entdeckt Agnes haufenweise Briefe. Auf einem Umschlag liest sie den Namen der Dorfstraße, in der ihre Tante Elsa noch immer lebt. In der Absicht, den Brief selbst abzugeben, nimmt sie ihn mit, bevor sie die Polizei telefonisch verständigt.

Marli

Astrid war früher mit der Nachbarin Marli befreundet – bis Marlis Sohn Tobias vor fast zehn Jahren mit ein paar Gleichaltrigen als Tierquäler entlarvt wurde. Viele ließen daraufhin ihre Kinder nicht mehr mit Tobias spielen. Marli wartete noch, bis die Tochter Anna in Leipzig zu studieren begann und Tobias seinen Schulabschluss machte. Dann, vor sieben Jahren, zog sie ohne ihren Mann Richard nach Hamburg. Dort lebt sie inzwischen in einer Wohngemeinschaft und arbeitet in der Universitätsbibliothek.

Niko

In der Straße, in der Julia und Chris nun wohnen, stehen sieben alte Häuser. Zwei davon wurden in den letzten Monaten nach dem Umzug der Bewohner ins Altersheim entrümpelt.

Julia wundert sich darüber, dass das gelb geklinkerte Haus gegenüber seit Wochen unbewohnt aussieht. Monika („Mona“) und Erik Winter zogen erst vor zwei, drei Jahren ein. Monika arbeitete als Pflegerin in einem Altersheim, Erik versuchte, einen Weinhandel aufzuziehen. Kann es sein, dass die beiden mit den Töchtern Agnes und Selma und dem Säugling Luis fort sind, ohne sich von den Nachbarn zu verabschieden? Das Haus steht zum Verkauf.

Vor einer Vermisstenanzeige schreckt Julia zurück, denn sie will der Familie keine Unannehmlichkeiten machen.

Sie beobachtet einen schätzungsweise 12 oder 13 Jahre alten Jungen, der sich schon vor Monaten einmal am Nachbarhaus herumtrieb. Als er durch ein Kellerfenster in das Haus eindringt, folgt Julia ihm. Durch ein Fenster im Obergeschoss sieht sie zu ihrem eigenen Haus hinüber.

Der Anblick ist verblüffend, wie deutlich von hier aus alles zu sehen ist. Chris an seinem Schreibtisch, im Licht der Stehlampe, er ist in seine Arbeit vertieft.

Das Kind – es heißt Niko und ist kein Junge, sondern ein Mädchen – erzählt Julia, dass es zu seinen Spielen mit Astrid und Selma gehört habe, sich verschiedene Situationen der Lebensgefahr auszudenken und dann Rettungsmöglichkeiten zu finden. Zum Beispiel versprach Niko, alles Wasser zu schlucken, damit Astrid und Selma nicht ertranken.

Astrid

Immer wieder macht Astrid sich Sorgen um ihre Tante Elsa, die inzwischen Mitte 80 ist und allein in ihrem Haus wohnt.

Als sie erfährt, dass eine Nachbarin nicht nur den Rasen mähte, sondern Elsa auch hin und wieder Gesellschaft leistet, möchte sie sich mit einem Geschenk bedanken und überlegt, in dem Keramik-Laden in der Kreisstadt etwas Schönes zu kaufen. Aber Elsa klärt sie darüber auf, dass es sich bei der Nachbarin um die Betreiberin des Ladens handelt.

Den an Monika Winter adressierten Brief, den die Ärztin mitnahm, als sie die Post am Feld fand, kann sie nicht abgeben, weil in dem gelb geklinkerten Haus augenscheinlich niemand mehr wohnt und der Briefkasten ungeleert bleibt. Astrid reißt schließlich den Umschlag auf. Es handelt sich um ein Schreiben einer Rechtsanwaltskanzlei in Frankfurt am Main, die Monika Winter im Auftrag des Mandanten Sven Thomsen wegen Mietrückstands mit einer Räumungsklage droht. Die Fristen sind inzwischen längst abgelaufen.

Astrid hat ihrerseits eine Reihe anonymer Briefe erhalten.

Sie spielen sich als Ärztin auf. Sie ziehen andere in den Dreck und machen Familien kaputt.

Bei der Polizei erklärt man ihr, dass keine Straftat vorliege, solange die Briefe keine direkten Drohungen erhalten.

Da unternimmt die Polizei ebenso wenig wie bei der verschwundenen Familie Winter oder beispielsweise im Fall einer Frau, die mit ihren Kindern wegen eines Streit ums Sorgerecht in den Wald geflohen ist oder dem einer anderen, die zehn Jahre nach ihrem Verschwinden in einem Bergdorf auftauchte.

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„Nebenan“ ist kein idyllischer Dorfroman, im Gegenteil: Kristine Bilkau sorgt dafür, dass die Situation in dem namenlosen Ort am Nord-Ostsee-Kanal unheimlich wirkt. Privathäuser werden entrümpelt, weil die Bewohner ins Altersheim mussten. In der nahen Kreisstadt stehen Läden leer, weil es für die Immobilienbesitzer lukrativer ist, den Verlust von der Steuer abzuschreiben als die Mietpreise zu senken. Die Ruine des Kaufhauses wird abgerissen.

Im Dorf verschwindet eine Familie mit drei Kindern. Niemand weiß, ob den Menschen etwas zugestoßen ist. Die Nachbarin erwägt es, die Polizei einzuschalten, unterlässt es dann aber, weil sie sich nicht einmischen und den Leuten auch keine Unannehmlichkeiten bereiten möchte. Aber könnte das auch bedeuten, dass sie wegsieht statt soziale Verantwortung zu übernehmen?

Achtlosigkeit zwischen Erwachsenen ist keine Straftat.

Mehrmals deutet Kristine Bilkau in ihrem Roman „Nebenan“ an, dass Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen sein könnten. Am deutlichsten ist es bei einer 79-Jährigen, die tot in der Badewanne liegt. Die Ärztin, die den Totenschein ausfüllt, übersieht das Hämatom am Oberarm nicht und schaltet die Polizei ein, wird dafür jedoch anonym angefeindet.

Im Mittelpunkt des Romans „Nebenan“ von Kristine Bilkau stehen zwei grundverschiedene Frauen. Julia ist mit ihrem Mann erst vor einem halben Jahr von Hamburg ins Dorf gezogen. Die 38-Jährige wünscht sich ein Kind, aber nach zwei vergeblichen IVF-Versuchen bezweifelt sogar der Arzt, ob sich weiterer Aufwand lohnt. Mit Julias „Leere“ korrespondieren die entrümpelten Privathäuser und leerstehenden Läden. Astrid, eine Ärztin Anfang 60, praktiziert zwar in der Kreisstadt, wuchs jedoch bei ihrer Tante im Dorf auf und sorgt sich um die allein lebende Greisin. Wo Julia zaudert, handelt Astrid entschlossen. Die beiden Figuren sind spiegelbildlich angelegt.

Kristine Bilkau entwickelt die Handlung abwechselnd aus den Perspektiven der beiden Protagonistinnen.

Sie erzählt leise und unaufdringlich, feinfühlig, melancholisch, frei von Pathos, mit viel Empathie, aber ohne Gefühlsüberschwang. Ungewöhnlich ist, dass Kristine Bilkau in „Nebenan“ vieles andeutet, dadurch Spannung aufbaut, aber am Ende alles bewusst offen lässt. Beispielsweise erfahren wir nicht, was aus der Familie Winter geworden ist, obwohl sich ein Großteil des Romans um deren spurloses Verschwinden dreht und sich der Titel „Nebenan“ darauf bezieht.

Mit ihrem Roman „Nebenan“ stand Kristine Bilkau auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Den Roman „Nebenan“ von Kristine Bilkau gibt es auch als Hörbuch, geleen von Heike Warmuth.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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