Kristine Bilkau : Eine Liebe, in Gedanken
Inhaltsangabe
Kritik
Antonia und Edgar, 1964 – 1966
Im Herbst 1964 verlieben sich die 22-jährige Antonia („Toni“) Weber und der gleichaltrige Edgar Janssen. Während sie in Hamburg zur Untermiete wohnt, lebt er aus finanziellen Gründen noch bei den Eltern. Der Arbeitgeber des Kaufmannsgehilfen, eine Handelsgesellschaft, zahlt nur wenig, und er hat einen kleinen Sohn, der bei den Großeltern mütterlicherseits aufwächst, die von Edgar nach Kräften mit Geld unterstützt werden. Alexander weiß nichts von seinem Vater, und die Mutter macht eine Hotelfachausbildung in Zürich. Bei Alexanders Geburt war sie 17, Edgar zwei Jahre älter. Niedergeschlagen erklärt er Antonia: „Ich bin kein Mann, der jetzt eine Familie versorgen könnte.“
Edgars Arbeitgeber beabsichtigt, ein Büro in Hongkong zu eröffnen, das zunächst nur mit einer Person besetzt sein soll. Niemand ist bereit, das Wagnis einzugehen. Nur Edgar, der verzweifelt nach einer Möglichkeit sucht, sein Einkommen aufzubessern, denkt darüber nach – und Antonia ermutigt ihn begeistert.
„Stell es dir doch einmal vor. Wir würden zusammen nach Hongkong gehen. Wir würden dort leben. Vielleicht könnte ich dort auch arbeiten, bei einer großen Firma«, sie überlegt, »oder bei der deutschen Botschaft. Es gibt dort sicher fantastische Möglichkeiten.“
„Langsam, Toni. Du mit deinem Fantastisch. Niemand geht einfach so nach Hongkong und eröffnet mal eben ein Büro. Es wäre außerdem ganz schön verantwortungslos von mir, eine süße Dame, die beruflich endlich das große Los gezogen hat, mit ins Unglück zu ziehen.“
Antonia bittet einen Arzt um ein Rezept für die Antibabypille, aber er verschreibt sie nur mehrfachen Müttern über 30. Als sie schwanger ist, merkt sie es erst aufgrund einer heftigen Blutung im April 1966. In Panik fährt sie zu ihrer Mutter nach Flensburg, die sie sogleich ins Krankenhaus bringt, wo sie nach dem Abortus ein paar Tage bleiben muss. Edgar erfährt nichts von der Schwangerschaft. Ihm erzählen die beiden Frauen etwas von einer Lungenentzündung.
Antonia und Edgar, 1966 – 1968
Von Antonia dazu gedrängt, reist Edgar noch im selben Jahr nach Hongkong. Sie soll nachkommen, sobald er eine Bleibe gefunden, das Büro eröffnet und festen Boden unter den Füßen hat. Telefongespräche sind kostspielig, müssen 24 Stunden im Voraus angemeldet werden und brechen nicht selten ab. Aber Edgar schreibt zahlreiche Briefe. Und nach fünf Monaten, im Frühjahr 1967, erhält Antonia ein Telegramm aus Hongkong:
Bitte kuendige Wohnung und Arbeit ––– Loese Haushalt auf ––– Bereite alles vor fuer Abreise im Mai ––– Flugschein folgt ––– Alles Liebe Dein Edgar
Daraufhin gelten Edgar und Antonia als verlobt. Sie wollen in Hongkong heiraten, und Antonia lässt sich ein Kostüm für die Hochzeit schneidern. Außerdem kündigt sie ihre Anstellung ebenso wie die Wohnung und zieht vorübergehend ins Gästezimmer eines befreundeten Paares (Eva und Paul Albrecht). Ihre Habseligkeiten verpackt sie in Kisten.
Ein Jahr lang wartet Antonia vergeblich auf den angekündigten Flugschein. Dann löst sie die Verlobung und bricht den Kontakt zu Edgar ab.
Antonias weiteres Leben
Später heiratet Antonia. Die zweite Ehe scheitert ebenso wie die erste, und die dritte Hochzeit sagt sie im letzten Augenblick ab.
DieTochter – deren Namen wir nicht erfahren – studiert Architektur und heiratet einen Mann namens Florian, den sie an der Universität in Hamburg kennengelernt hat. Das Paar bekommt eine Tochter, der sie den Namen Hanna geben. Während die Architektin eine Ausstellung über die Malerin Helene Schjerfbeck in Hamburg vorbereitet, verschiebt sie mehrmals einen Besuch bei ihrer Mutter in Flensburg. Als sie dann endlich losfahren will, ruft Antonia an.
[…] sie müsse absagen, ihr sei schrecklich übel. Ob ich einen Notarzt rufen solle, fragte ich. Nein, sagte sie streng, bloß nicht, sie wolle nur etwas schlafen. Ihr war schon oft übel gewesen, manchmal, wenn sie aufgewühlt oder erschöpft gewesen war. Am Abend erreichte ich sie nicht, ich beschloss, sie in Ruhe zu lassen. Sie starb in den frühen Morgenstunden.
Eine Liebe in Gedanken
Drei, vier Wochen nach der Bestattung trifft sich die Tochter mit ihrem Onkel Alexander, dem Bruder der Verstorbenen, in der aufzulösenden Wohnung. Die Geschwister waren grundverschieden: Alexander erfüllte sich schließlich den lang gehegten Wunsch nach einem Wintergarten, Antonia träumte stattdessen von einem Leben im Ausland.
Während ich erwachsen wurde, die Schule abschloss, mich an Universitäten bewarb, hatte das angefangen. Es hatte mich auf einmal gestört, wie sie sich mit Provisorischem zufriedengab, ich hatte die Verlängerungskabel, die vergessenen Stromrechnungen, die lockeren Schrauben an den Schranktüren, das eingedellte Auto, dessen Tankanzeige fast immer auf Reserve stand, alle diese Kleinigkeiten, die eigentlich nicht viel ausmachten, aber doch für etwas standen, während ich nicht einmal genau wusste, wofür, die hatte ich satt.
In der Post befindet sich ein vor acht Tagen vom Amtsgericht Flensburg abgeschickter Haftbefehl wegen unbezahlter Rechnungen. Die Tochter regelt die Angelegenheit mit dem Gerichtvollzieher Dr. Klaus Schäfer.
Zum Nachlass gehören alte Briefe und Bilder, darunter ein Foto vom November 1987, auf dem Edgar Janssen, dessen Ehefrau, die fünf oder sechs Jahre alten Zwillinge und Edgars 26-jähriger Sohn Alexander zu sehen sind. Bei seiner Frau handelte es sich um eine in Hongkong aufgewachsene Engländerin, die dort ihre Muttersprache unterrichtete.
Die Tochter der Verstorbenen versucht, die gescheiterte Liebesbeziehung von Antonia und Edgar zu rekonstruieren. Schließlich klingelt sie ohne Vorankündigung bei Edgar Janssen, der inzwischen Mitte 70 ist und jedes Jahr nach Deutschland reist, um ein paar Wochen in seinem Elternhaus zu verbringen. Während er Brombeer-Marmelade einkocht, fragt ihn die Besucherin, warum er zwar das Telegramm an Antonia, aber nie einen Flugschein geschickt habe. Darauf weiß er nur zu sagen: „Aber die Wahrheit ist, dass ich Ihnen dafür keine Erklärung geben kann.“
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Kristine Bilkau wechselt in ihrem Roman „Eine Liebe, in Gedanken“ zwischen zwei Zeitebenen bzw. einer Rahmenhandlung und der eigentlichen Geschichte hin und her. Antonia Weber stirbt mit Mitte 70. Das geschieht um 2017/18. Ihre Tochter, die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, löst den Haushalt der Toten auf und versucht, mehr über die gescheiterte Liebesbeziehung ihrer Mutter und eines Mannes namens Edgar Janssen herauszufinden. Diese rekonstruierte Geschichte liegt ein halbes Jahrhundert zurück, begann 1964 und endete 1968 – noch vor der Geburt der Ich-Erzählerin.
Antonia ist eine moderne Frau, vermutlich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie träumt von einer gemeinsamen Zukunft mit Edgar in der Fremde, lebt im Zwiespalt von Freiheitsdrang, Selbstverwirklichung und Sehnsucht nach einer dauerhaften Bindung. Anders als ihre Tochter liebt sie das Provisorische, Ungeplante und Ungeordnete. Die Liebesbeziehung von Antonia und Edgar endet nicht mit einem Zerwürfnis, sondern versandet allmählich. Sie scheitert an den Selbstzweifeln und der Unentschlossenheit des Mannes. Edgars Unsicherheit spiegelt zugleich die Sechzigerjahre, in denen die Ideale, Moralbegriffe und Zielvorstellungen der Nachkriegszeit in Zweifel geraten sind, aber der mit 1968 assoziierte Umbruch noch nicht stattgefunden hat. Nicht einmal in der Nachschau kann Edgar eine Antwort auf die Frage geben, warum er seine wartende Verlobte 1967/68 nicht nach Hongkong nachkommen ließ. Sein Verhalten bleibt auch für uns Leser unerklärt.
Eine Liebe in Gedanken ist das Konstrukt, das die Ich-Erzählerin aus Bruchstücken entwickelt. Aber Kristine Bilkau ergänzt deren Perspektive zwischendurch durch Antonias Sicht. Von Edgar Janssen erfahren wir allerdings nur aus zweiter Hand, und sein Charakter bleibt dementsprechend eher blass.
Kristine Bilkau erzählt leise und unaufdringlich, feinfühlig, melancholisch, frei von Pathos und ohne jeden Gefühlsüberschwang. Gerade wegen dieser Zurückhaltung ist „Eine Liebe, in Gedanken“ eine bewegende Lektüre.
Kristine Bilkau (*1974) studierte in ihrer Geburtsstadt Hamburg Geschichte und arbeitete dann als Journalistin. 2015 debütierte sie mit dem Roman „Die Glücklichen“. „Eine Liebe, in Gedanken“ ist ihr zweiter Roman.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Buchbesprechung: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag
Kristine Bilkau: Die Glücklichen
Kristine Bilkau: Nebenan