Giulia Caminito : Ein Tag wird kommen

Ein Tag wird kommen
Un giorno verrá Bompiani editore, Mailand 2019 Ein Tag wird kommen Übersetzung: Barbara Kleiner Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020 ISBN 978-3-8031-3325-0, 272 Seiten ISBN 978-3-8031-4283-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Lupo und Nicola wachsen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der mittellosen Familie eines Bäckers auf. Als überzeugter Anarchist kämpft Lupo gegen Ungerechtigkeiten. Nicola ist dagegen ängstlich und unsicher. Die beiden halten die Klosterschwester Nella für ihre Schwester. Erst gegen Ende des Romans erfahren sie – und mit ihnen auch die Leserinnen und Leser – die Wahrheit.
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Kritik

Giulia Caminito verknüpft die beiden Handlungsstränge in "Ein Tag wird kommen" mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Italien. Eine geschickte Komposition und eine raue, kraftvolle Sprache heben den Roman auf das Niveau anspruchsvoller Literatur.
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Familie Ceresa

Die Handlung spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Luigi Ceresa ist Bäcker in Serra de‘ Conti, einer Gemeinde in den Marken, 40 Kilometer westlich von Ancona. Vor ihm hatte sein Großvater Carlo die Bäckerei geführt, und er übernahm sie von seinem Onkel Raffaele. Sein Vater Giuseppe versteht sich als Anarchist und wäre nicht bereit gewesen, ein Geschäft zu betreiben.

Zur Familie von Luigi und seiner im Lauf der Jahre erblindenden Ehefrau Violante Ceresa gehören zwei Töchter und drei Söhne: Nella und Adelaide, Antonio, Lupo und Nicola.

Nella, die Älteste, lebt seit ihrer Jugend im Kloster oberhalb des Ortes. Die vier Jahre jüngere Adelaide ist krank und stirbt früh.

Während sich Antonio in der Bäckerei nützlich macht, ist Nicola für nichts zu gebrauchen, und Violante hält es für das Beste, wenn Don Agostino den Jungen auf das Leben eines Geistlichen vorbereitet. Aber das lässt Lupo nicht zu, der mit Gleichgesinnten wie dem zwei Jahre älteren Gaspare Garelli anarchistische Aktionen ausheckt und beispielsweise eine Schafherde in die Kirche treibt. Das Geld, das erforderlich ist, um Nicola wenigstens bis zur fünften Klasse zur Schule schicken zu können, verdient Lupo mit Gelegenheitsarbeiten, denn Luigi Ceresa hat dafür nichts übrig.

Als Antonio einen Apfel von einem Baum pflückt, erschießt ihn der Besitzer Sante, weil er den Dieb im Dunkeln für ein Tier hält.

„Ich habe mich getäuscht, ich dachte, dein Sohn ist ein Tier, seit Monaten fressen sie meine Äpfel weg, die Äpfel sind alles, was ich habe.“

Luigi klagt:

Den einzigen tüchtigen Sohn, der ihm geblieben war, hatte man ihm umgebracht.

Lupo rächt Antonio, indem er alle Sante gehörenden Apfelbäume kaputt hackt. Der hört ihn wüten, unternimmt jedoch nichts dagegen.

Lupo wurde 1897 in Serra de‘ Conti geboren. Erst als junger Mann wird er erfahren, dass weder Luigi sein leiblicher Vater noch der zwei Jahre jüngere Nicola sein Bruder ist.

Als Violante bereits fast erblindet war und wieder einmal eine Fehlgeburt hatte, legte ihr Luigi einen Säugling auf die Brust. Zwei verarmte Adelige in Jesi, deren 13-jährige Tochter von einem Bauern geschwängert worden war, wollten das Kind loswerden. Luigi beschwor Adelaide und Antonio, die damals noch lebten:

Das bleibt unter uns, eure Mutter darf es niemals erfahren, das Kind heißt Nicola und ist ihrs.
Aber was ist aus dem Mädchen geworden?, hatte Antonio mit aufgerissenen Augen gefragt.
Ich hab es weggeworfen, hatte der Vater gesagt und war wieder nach oben gegangen.

Krieg

Im Alter von 12 Jahren brachte Lupo einen Wolfswelpen mit verletzter Pfote mit nach Hause.

Beim ersten Schaf, das er reißt, werden sie ihn erschießen, hatte Luigi gesagt.

Lupo und Cane – so nennt er den Wolf – sind unzertrennlich, aber Nicola fürchtet sich vor dem Tier.

Als Lupo sich zum Kriegsdienst melden soll, bringt er Nicola dazu, auf ihn zu schießen, damit er in Serra de‘ Conti bleiben und sich weiter um ihn kümmern kann.

[…] es muss aussehen wie ein Unfall, niemand wird je denken, dass du auf mich geschossen hast, niemand darf das je erfahren, das ist ein Geheimnis zwischen uns beiden, wenn du mich am Bein verletzt, können die mich nicht in den Krieg schicken, in einer Woche werde ich achtzehn, und Italien ist in den Krieg eingetreten, weißt du, was das heißt? Dass ich wegmuss und womöglich nie wiederkomme […]

Zwei Jahre später sucht Lupo tagelang nach Cane und findet ihn schließlich tot in einem Straßengraben mit einem Schlangenbiss an der Schnauze.

Im Oktober 1917 wird der Jahrgang 1899 zum Kriegsdienst eingezogen. Luigi versteckt den Einberufungsbescheid für Nicola und erreicht dadurch, dass Militärs den Jungen zwei Monate vor dessen 18. Geburtstag abholen, während Lupo nicht da ist, um etwas dagegen zu unternehmen. Als Lupo von der Arbeit kommt und erfährt, was geschehen ist, prügelt er Luigi aus dem Haus.

Nicola muss nach einwöchiger Ausbildung an die Front in Venetien. Als er im Juni 1918 einen Urlaubsschein bekommt, hat er bereits Grauenhaftes erlebt.

Das Wiedersehen

Daheim findet er nur Violante vor. Die Blinde berichtet, dass Luigi von Lupo aus dem Haus gejagt wurde und inzwischen auch Lupo den Ort verlassen hat.

Nicola erkrankt an der grassierenden Spanischen Grippe. Nachbarn pflegen ihn gesund, und am Ende des einmonatigen Fronturlaubs schreibt ihn ein Militärarzt weiter dienstunfähig.

Bald darauf stirbt Violante an der Spanischen Grippe.

Lupo, der nach Fano geflohen ist, ahnt nichts von Nicolas Rückkehr und ist überzeugt, dass der Schwächling den Kriegsdienst nicht überlebt hat. Unmittelbar bevor er sich mit anderen Anarchisten nach Kanada absetzen will, begegnet er einem Bekannten aus Serra de‘ Conti, und der erwähnt, dass er Nicola gesehen habe.

Daraufhin eilt Lupo nach Serra de‘ Conti, statt an Bord des Schiffs zu gehen. Nicola empfängt ihn wütend:

Du dachtest, ich wäre tot, stimmt’s? Der Junge, der nichts taugt, der ohne dich nur sterben kann, sieh mich an Lupo, ich lebe noch, und während du nicht da warst, habe ich meine Mutter begraben.

Don Agostino hat sich erhängt und einen Brief für Lupo hinterlassen.

Suor Clara

Zari, die Tochter des Oberhaupts eines Dorfes im Sudan, war acht Jahre alt, als sie von Menschenhändlern geraubt und auf einem Sklavenmarkt in Kairo verhökert wurde. Ein Geistlicher, Pater Celestino, kaufte sie und hunderte anderer Sklavinnen frei.

Die Afrikanerin gelangte schließlich in das Kloster oberhalb von Serra de‘ Conti und wurde Suor Clara. Nach dem Tod der Äbtissin Suor Maria Prospera wählten 14 der 15 Nonnen sie zur Nachfolgerin.

Nella war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt und lebte bereits seit zwei Jahren im Kloster.

Als Antonio erschossen wurde, wollte Don Agostino Nella benachrichtigen, aber Suor Clara wies ihn zurück:

Ich glaube, dass es für Suor Nella gar nicht gut ist, von der Sache in Kenntnis gesetzt zu werden, das würde sie nur von ihren Aufgaben und vom rechten Weg abbringen, den sie in diesen Jahren mühevoll gefunden hat […].

Der Bischof von Senigallia ordnete an, das Kloster aufzulösen und die Nonnen auf verschiedene Klöster zwischen Siena und Florenz zu verteilen. Vergeblich versuchte Suor Clara, den Bischof umzustimmen. Aber in der Kirche zeigte Suor Clara sich erstmals der Gemeinde und erklärte:

Meine Schwestern und ich müssen Abschied von Euch nehmen, man verlangt von uns, das Kloster zu verlassen, weil wir immer weniger sind und diese Mauern anderen Zwecken dienen sollen.

Daraufhin verhinderten ein paar Dutzend Bewohner von Serra de‘ Conti, dass die Nonnen abgeholt wurden. Als sich die Kutschen näherten, die sie abholen sollten, flogen Steine. Die Pferde scheuten, die erste Kutsche kippte um, und die anderen fuhren auf.

Nella

Als Nella zwölf Jahre alt war, begannen Bauern und Kaufleute bei dem Bäcker Luigi Ceresa für ihre Söhne um sie zu werben und Höfe und Felder zu bieten. Aber Nella sagte zu ihrer damals noch lebenden Schwester Adelaide, sie habe nicht vor, zu heiraten, denn wie Großvater Giuseppe halte sie die Ehe für eine Freiheitsberaubung. Sie machte sich einen Spaß daraus, Männern den Kopf zu verdrehen und hatte es besonders auf Don Agostino abgesehen. Der Geistliche ließ sich lange Zeit nicht auf ihr frivoles Spiel ein, aber als sie ihm wieder einmal nachstellte, vergewaltigte er sie.

[…] während Don Agostino seine Soutane zurechtrückte und ihr drohte. Sollte sie reden und erzählen, was geschehen war, würde er sie für verrückt erklären, sie hätte es so gewollt, sie hätte darauf bestanden, er würde sie an einem heiligen Ort einschließen lassen […]

Niemand würde ihr glauben, er ein geweihter Kirchenmann, untadelig, beim Bischof angesehen, bekannt für seinen guten Willen; sie ein zügelloses Mädchen […]

Violante merkte wegen ihrer Blindheit nichts von Nellas Schwangerschaft, aber Luigi fiel schließlich die Wölbung des Bauchs auf.

Luigi war wütend geworden: Die einzige Tochter in heiratsfähigem Alter hatte sich zuschanden gemacht.

Nella hatte ihr Kind kaum gesehen, als Luigi es ihr wegnahm.

Als Lupo aus dem Abschiedsbrief des Pfarrers erfährt, wie er gezeugt wurde, geht er zur Äbtissin des Klosters, die ihn auf der anderen Seite eines Gitters anhört.

Ich bin Lupo Ceresa, ich muss mit meiner Mutter sprechen, sagte er den Blick erhebend.

Suor Clara geht Nella holen, und die kommt schluchzend ans Gitter. Lupo versucht, sie zum Verlassen des Klosters zu überreden, aber Nella erklärt ihm, dass es ihre Pflicht sei, demnächst die altersschwache Äbtissin abzulösen.

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In ihrem erschütternden Roman „Ein Tag wird kommen“ erzählt Giulia Caminito von zwei grundverschiedenen Jungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der mittellosen Familie eines Bäckers in Serra de‘ Conti bei Ancona aufwachsen. Lupo ist kräftig und selbstbewusst. Als überzeugter Anarchist kämpft er gegen Ungerechtigkeiten ebenso wie gegen die Scheinheiligkeit der Kirchenmänner. Der zwei Jahre jüngere Nicola hat dagegen zwei linke Hände, ist schwach, ängstlich und unsicher. Parallel dazu entwickelt Giulia Caminito in „Ein Tag wird kommen“ die Geschichte einer Afrikanerin, die als Kind versklavt, aber später freigekauft wird und im Lauf der Jahrzehnte zur resoluten Äbtissin des Klosters oberhalb von Serra de‘ Conti aufsteigt. Nella, eine der Klosterschwestern, halten Lupo und Nicola für ihre Schwester. Erst gegen Ende des Romans erfahren sie – und mit ihnen auch die Leserinnen und Leser – die Wahrheit.

Giulia Caminito verknüpft die beiden Handlungsstränge in „Ein Tag wird kommen“ mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Italien.

„Ein Tag wird kommen“ dreht sich um Anarchie und Revolte, Leid, Unglück und Kriegsgräuel, Schuld, Scheinheiligkeit und Loyalität. Giulia Caminito lässt den Roman immerhin mit einem Hoffnungsschimmer enden.

Sie erzählt vor allem aus der Perspektive Nicolas, mit dem sie sich selbst identifiziert.

Ich möchte die Leserinnen und Leser also dazu ermuntern, nicht alles zu glauben und von diesen Seiten keine verlässliche historische Zeugenschaft zu erwarten, sie haben andere Wurzeln, auch meine, durch die ich versuche, mich selbst kennenzulernen und zu wachsen, denn im Grunde bin ich Nicola Ceresa, derjenige, der Angst hat und im Kopf nicht ganz richtig ist, dem die Hände zittern und der auf Lupos schaukelnden Nacken blickt, während er die Dorfstraße hinuntergeht.

Eine geschickte Komposition mit Vor- und Rückblenden, Andeutungen und Auslassungen, Parallelen und Spiegelungen macht „Ein Tag wird kommen“ lesenswert. Dazu kommt die raue, kraftvolle Sprache, die den Roman auf das Niveau anspruchsvoller Literatur hebt.

Mit „Ein Tag wird kommen“ habe sie ihrem Urgroßvater Nicola Ugolini ein Denkmal setzen wollen, erklärt Giulia Caminito.

[…] Nicola Ugolini, meinem Urgroßvater, der Anarchist war, sich nie taufen ließ und seine Frau erst auf dem Totenbett ehelichte, als die Spanische Grippe sie bereits bei lebendigem Leib aufgefressen hatte, der aufbrach und Italien verließ und dessen Spuren sich dann verlieren […]

Vorbild für die afrikanische Klosterschwester bzw. Äbtissin Suor Clara in „Ein Tag wird kommen“ war Zeinab Alif (1845/46 – 1926), die auf den Namen Maria Giuseppina Benvenuti getauft und im Volk La Moretta genannt wurde.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.