Giulia Caminito : Das Wasser des Sees ist niemals süß

Das Wasser des Sees ist niemals süß
L'acqua del lago non è mai dolce Bompiani, Mailand 2021 Das Wasser des Sees ist niemals süß Übersetzung: Barbara Kleiner Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022 ISBN 978-3-8031-3349-6, 320 Seiten ISBN 978-3-8031-4352-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Vater ist seit einem Unfall bei der Schwarzarbeit querschnittgelähmt. Antonia, die Mutter, sorgt für den Lebensunterhalt der Familie, kämpft für eine Wohnung, trifft Entscheidungen und sorgt dafür, dass die wegen ihrer Armut von Mitschülern gemobbte Tochter Gaia nicht nur ein Gymnasium besucht, sondern auch studiert. Bildung soll Gaia aus dem Prekariat befreien. Allerdings lässt sich mit dem Studienabschluss nichts anfangen ...
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Kritik

Zwischen der Ich-Erzählerin und der Autorin gibt es Parallelen, aber Giulia Caminito hat mit "Das Wasser des Sees ist niemals süß" keine Autobiografie geschrieben, sondern einen auf die Verhältnisse in Italien gemünzten gesellschaftskritischen Adoleszenz-Roman. Die Darstellung ist spröd, dafür aber auch realitätsnah, fernab von Klischees, Kitsch und Romantik.
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Antonia

Antonia Colombos Ehemann Massimo adoptiert ihren Sohn. Sie bekommen noch eine Tochter, und als Mariano und Gaia zehn bzw. sechs Jahre alt sind, bringt Antonia die Zwillinge Maicol und Roberto zur Welt. Sie wohnen illegal in einer 20 Quadratmeter großen Souterrain-Wohnung in Rom. Massimo ist querschnittgelähmt, seit er bei der Schwarzarbeit, also ohne Unfallversicherung, von einem Baugerüst gestürzt ist.

Fünf Jahre lang versucht Antonia vergeblich, eine Wohnung zugewiesen zu bekommen. Erst nachdem Dottoressa Vittoria Ragni wegen illegaler Geschäfte verhaftet und ihre Stelle bei der römischen Stadtverwaltung neu besetzt wurde, kann Antonia mit ihrer Familie in eine Sozialwohnung umziehen. Und bald darauf tauscht sie diese gegen eine in Anguillara Sabazia zwischen Rom und Bracciano. Mariano ist inzwischen 15 Jahre alt. Er besucht nun die Schule für Vermessungstechnik in Bracciano.

Antonia verdient ihr Geld damit, die Häuser anderer Leute zu putzen, aber sie kann noch vieles mehr, wie beispielsweise kaputte Möbel reparieren, langsame Spülmaschinen wieder in Gang bringen, sie kann Glühbirnen auswechseln und Heizkörper reinigen, sie kann einfache Kleider nähen, Socken stopfen, sie kann mit wenig Geld Badeklamotten und Kostüme schneidern, sie kann Holz für Regale und Badmöbel zurechtsägen, wenn nötig, mäht sie das Gras und nimmt sich der Rosenhecken an, sie hat einen beneidenswerten grünen Daumen, also lässt sie Balkone, Terrassen und Gärten erblühen, und bevor sie geht, sprengt sie den Rasen.

Ihrer Tochter rät sie:

„Mach’s nicht wie ich, mit siebzehn habe ich Mariano bekommen, von einem Typen namens Tony, der jetzt noch wegen Mordes im Gefängnis sitzt.“

Lustlos schläft Gaia mit Luciano. Als dieser sich von ihr trennt, nennt sie ihrem Freund Cristiano („Cristià“) Lucianos Adresse.

Zwei Wochen später verbreitet sich an der Schule die Nachricht, jemand sei in Lucianos Haus eingebrochen.

Gaia

Nach dem Abitur immatrikuliert sich Gaia für ein Philosophie-Studium. Als sie erfährt, dass ihre Freundin Elena Corsi etwas mit ihrem festen Freund Andrea Coletta hat, zündet sie mit Christianos Hilfe dessen Wagen und einige davor und dahinter geparkte Autos an. Auch die Bäume fangen Feuer. Und als Elena reumütig zu ihr kommt, wird Gaia vom Zorn übermannt.

Da gehe ich noch näher zu ihr hin und versetze ihr auf Höhe der Kniescheibe einen Tritt mit der ganzen Fußsohle, einen Eselstritt, den Huf einer Kuh, sie schreit und biegt sich nach vorn, sie berührt ihr Bein, das sicher wehtut, sehr weh, unterdessen packe ich mit beiden Händen ihr blondes Haar, der Ansatz ist dunkler, die Spitzen sind hell vom Sommer, und ich ziehe sie, als wäre sie ein im Hafen zu versenkender Plastiksack, Industriemüll, mit dem man das Meerwasser verschmutzt, ich schleife sie über den schwarzen Sand, mit ihrem Gewicht gräbt sie eine Rille, am Ufer lässt sie ihre Keime, ihren Speichel.

Gaia drückt Elena unter Wasser.

Elena reagiert immer weniger wirkungsvoll auf meinen Angriff, meinen Mordanschlag, und schwach sind die Luftblasen im Wasser, klein die Zuckungen, kaum wahrnehmbar die Krämpfe, es fehlen nur wenige Sekunden […], bevor sie nicht mehr ist.

Erst als Erwachsene dazu kommen, muss Gaia loslassen.

Elena hebt den Kopf, blau im Gesicht, verloren, sie hat die aufgerissenen Augen von jemand, der in einer Tüte erstickt, in vollen Zügen atmet sie die feuchte Luft ein, die vom See herkommt, und ich renne immer schneller in Richtung Straße und zum Fahrrad, ich sehe mich nicht um und denke, es wird nicht lang dauern, bis sie schreit, mich mit ihrem Auto verfolgt und mich auf dem Heimweg anfährt oder um Hilfe ruft und die Streifenwagen unter Antonias Fenster halten.

Nach dem Studienabschluss bewirbt sich Gaia für eine Promotionsstelle.

Weil es natürlich so laufen wird, ich kann ja nichts anderes außer lernen, wiederholen und archivieren, sie können nicht anders, als mich weitermachen zu lassen, das ist meine Rolle in der Gesellschaft: Wissenschaftlerin sein, Assistentin eines Professors werden, durchhalten, weil man mich sehr schlecht bezahlen wird, mich um eine Juniorprofessur bewerben und Hochschuldozentin werden, Bücher schreiben, zum anklickbaren Link werden, zur auswählbaren Option auf der Dozentenliste.

Aber der Professor verweist sie an die staatliche Universität Tor Vergata in Rom. Als Antonia das erfährt, reagiert sie entrüstet:

„Sie bieten dir nur Dinge an, für die sie nichts bezahlen müssen, nach all den Jahren, wir haben uns abgerackert, damit du studieren kannst, deine guten Noten, alles, was du weißt und kannst, bringt jetzt überhaupt nichts … Tor Vergata!“

Gaias Freundin Iris erkrankt.

Seit mindestens drei Monaten geht Iris nicht aus dem Haus und reagiert nur auf Nachrichten, nicht auf Anrufe, sie schreibt mir, sie sehe sich im Fernsehen Kochsendungen an – da ist die Rede von gezüchtetem Lachs, wildem Chicorée, Bergkäsesorten –, morgens kommt eine Krankenschwester und legt ihr eine Infusion, aber sie will mir nicht sagen, warum, wozu die Behandlung gut ist, um welche Krankheit es sich handelt […].

Iris stirbt im Krankenhaus.

Rückkehr nach Rom

Mirella Boretti, die Vermieterin der Antonia zugewiesenen Sozialwohnung in Rom, beklagt sich über die vertragslosen Mieterinnen, weil diese keine Nebenkosten bezahlen. Das ausstehende Geld verlangt sie nun von Antonia. Die fordert Mirella Boretti auf, die säumigen Mieterinnen hinauszuwerfen und kündigt ihre Rückkehr aus Anguillara Sabazia an.

Als die Familie mit einem Lieferwagen eintrifft, öffnet niemand.

Diese Wohnung gehört uns, ruft [Antonia] durchs Treppenhaus den Nachbarn zu, die an die Türen getreten sind, den Neugierigen, den Ängstlichen. Wir bleiben hier, bis wir reinkommen.

Mariano, der drei Freunde mitgebracht hat, bricht die Tür auf.

Signora Mirella hat die Badewanne und die Einbauküche mit dem Vorschlaghammer demolieren lassen, hat mit der Schere die Polsterbezüge des Sofas aufgeschnitten, hat Dinge mitgenommen, die ihr nicht gehören und die meine Mutter im Sinne eines gerechten Tauschs zurückgelassen hatte, sie hat die Stromkabel gekappt, die Gardinenleisten oberhalb der Fenster abgerissen, unsere Wohnung sieht aus wie eine Baustelle, der Tatort eines Verbrechens.

Wir haben Geld gebraucht, das wir nicht besitzen, um die Wohnung in Ordnung zu bringen, also hat mir meine Mutter eines Tages einen Staubsauger und einen Eimer mit Wischtüchern drin, Putzmittel und Handschuhe in die Hand gedrückt und zu mir gesagt, ich solle zu der Frau im fünften Stock gehen, da müsse geputzt werden.

Als Gaia allein zu Hause ist, dreht sie in der Badewanne, am Bidet, am Waschbecken und in der Küche das Wasser auf, verschließt die Abflüsse und wartet auf die Überschwemmung.

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Zwei rothaarige Frauen, eine Mutter und ihre Tochter, sind die Hauptfiguren in dem Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito. Der Vater ist seit einem Unfall bei der Schwarzarbeit querschnittgelähmt. Antonia, die Mutter, sorgt für den Lebensunterhalt der Familie, kämpft für eine Wohnung, trifft Entscheidungen und sorgt dafür, dass die wegen ihrer Armut von Mitschülern gemobbte Tochter Gaia nicht nur ein Gymnasium besucht, sondern auch studiert. Bildung soll Gaia aus dem Prekariat befreien. Allerdings lässt sich mit dem Studienabschluss nichts anfangen. Marc Reichwein spricht in „Die Welt“ von einem „auf den Kopf gestellte[n] Bildungsroman, Bildung als Passionsgeschichte statt Passion“.

Obwohl die ungerechten Verhältnisse nach Gesellschaftskritik und Auflehnung verlangen, engagiert sich in der Familie niemand für Politik. Karen Krüger (FAZ) sieht darin ein Sinnbild Italiens:

Antonia – der Norden, der ständig voranschreitet und die Familie über Wasser hält; der Vater – der gelähmte Süden, der manchmal vor Wut brodelt, dann wieder in Resignation verfällt und über den einfach hinweggegangen wird; und Gaia und ihre drei Geschwister – Italiens vorwiegend unpolitische, devote und frustrierte Generation.

Das Mädchen in „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ heißt Gaia, „die Glückliche“, aber das meint Giulia Caminito sarkastisch.

Zwischen Gaia und der Autorin gibt es Parallelen: Giulia Caminito wurde 1988 in Rom geboren und wuchs in Anguillara am Lago di Bracciano auf. Nach dem Abitur an einem Gymnasium in Rom studierte sie Philosophie wie Gaia – und wurde ebenfalls als Doktorandin zurückgewiesen.

Man kann „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ als gesellschaftskritischen Adoleszenz-Roman lesen. Giulia Caminito schreibt konsequent aus Gaias Perspektive. Die Darstellung ist spröd, dafür aber auch realitätsnah, fernab von Klischees, Kitsch und Romantik.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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