Ragnar Jónasson : Insel

Insel
Drungi Veröld, Reykjavik 2016 Insel Übersetzung: Kritian Lutze btb Verlag, München 2020 ISBN 978-3-442-75861-6, 371 Seiten ISBN 978-3-641-25170-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1997 leitet Hulda Hermansdóttir die Ermittlungen in einem Mordfall. Klara stürzte von einer Klippe, während sie ein paar Tage mit Alexandra, Benedikt und Dagur auf der privaten Insel Elliðaey verbringen wollte. Genau zehn Jahre zuvor war Katla, die damals ebenfalls zur Clique gehört hatte, in einem Sommerhaus bei Ísafjörður ums Leben gekommen ...
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Kritik

Der Isländer Ragnar Jónasson verzichtet in dem Thriller "Insel" auf spektakuläre Action. Er nimmt sich Zeit, die Handlung zu entwickeln. Über die Kommissarin Hulda Hermannsdóttir, die zentrale Figur der Trilogie "Dunkel", "Insel" und "Nebel", erfahren wir in "Insel" nicht mehr als aus "Dunkel" bereits bekannt ist.
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Mordfall, 1987

Benedikt, Alexandra, Klara, Katla und Dagur bilden eine Clique in Reykjavik. Dagur ist 19 Jahre alt, ein Jahr jünger als seine Schwester Katla und die Freunde.

Klara und Benedikt sind nicht nur befreundet, sondern ein Paar. Aber Benedikt beendet schließlich die Liebesbeziehung mit Klara und fängt eine neue mit ihrer besten Freundin Katla an. Mit ihr fährt er zum abgelegenen Sommerhaus seiner Familie in der Nähe von Ísafjörður.

Ein paar Tage später findet Polizeiinspektor Andrés Andrésson aus Ísafjörður in der Sommerhütte die Leiche einer jungen Frau.

Kommissar Lýður von der Mordkommission in Reykjavik leitet die Ermittlungen. Nach kurzer Zeit ist er überzeugt, dass Katla von ihrem alkoholkranken Vater Veturliði Dagsson getötet wurde. Vermutlich missbrauchte der bei einer kleinen Steuerkanzlei beschäftigte Buchhalter seine Tochter schon länger, und während eines Ausflugs zum Sommerhaus wehrte sie sich und stürzte bei dem Handgemenge so unglücklich, dass sie daran starb.

Lýður nimmt Veturliði Dagsson vor den Augen seiner Ehefrau Vera und seines Sohnes Dagur fest. Der Mordverdächtige leugnet zwar, seiner Tochter etwas angetan zu haben, aber als Andrés Andrésson aussagt, die Tote habe einen Pullover in der Hand gehabt, der unzweifelhaft ihrem Vater gehört, scheint der Mordfall aufgeklärt zu sein. Tatsächlich kann der Polizeiinspektor sich nicht erinnern, den Pullover gesehen zu haben, aber er ließ sich von Lýður zu der Falschaussage drängen.

Noch vor dem Richterspruch erhängt sich Veturliði in seiner Zelle – mit einem Gürtel, den Lýður ihm heimlich zuspielte.

Hulda Hermansdóttir

Für Lýður wirkt der rasche Abschluss des Mordfalls wie ein Sprungbrett für die Karriere. Eigentlich hätte Hulda Hermansdóttir seine Position einnehmen sollen, weil sie über die größere Erfahrung verfügt, aber der Vorgesetzte Snorri zog es vor, einen Mann mit der Aufgabe zu betrauen.

Dimma, die 13-jährige Tochter von Hulda und Jón, nimmt sich im selben Jahr das Leben. Erst nach dem Suizid wird Hulda bewusst, was sie lange Zeit nicht wahrhaben wollte: Das Kind wurde von Jón sexuell missbraucht. Um Dimma zu rächen, ersetzt sie die Medikamente des Herzkranken durch Placebos und löst zwei Jahre nach Dimmas Tod in ihrem Haus auf Álftanes einen heftigen Streit aus, der den inzwischen 52-Jährigen so aufregt, dass er zusammenbricht. Hulda lässt den Sterbenden liegen, kehrt ein paar Stunden später nach Hause zurück und ruft den Notarzt, der feststellt, dass Jón an einem Herzinfarkt starb.

Nachdem auch ihre Mutter Anna gestorben ist, fliegt Hulda 1997 nach Georgia, um ihren Vater zu suchen, einen GI, der sie Anfang 1947 während einer kurzen Affäre mit ihrer Mutter gezeugt hatte und von dem sie nicht mehr als den Vornamen Robert kennt. In Savannah trifft sie sich mit einem der beiden US-Soldaten, die 1947 vorübergehend auf Island stationiert waren und Robert hießen. (Der andere starb 1993.) Der Amerikaner empfängt sie freundlich, erklärt ihr jedoch, er sei seit 50 Jahren verheiratet, habe seine Frau nie betrogen und könne deshalb nicht ihr Vater sein. (Im Epilog werden wir erfahren, dass er Hulda anlog.)

Die Insel, 1997

Anlässlich des 10. Todestages ihrer Freundin Katla reisen Klara, Alexandra, Benedikt und Dagur für ein paar Tage auf den Vestmannaeyjar-Archipel. Benedikts Onkel Sigurður bringt sie mit einem Boot zur Insel Elliðaey, die dem Jagdverein gehört, dessen Mitglied Sigurður ist. Die vier Freunde richten sich in der Jagdhütte ein, und außer ihnen befindet sich niemand auf der Insel.

Dagur arbeitet seit sieben Jahren als Investment-Banker. Seine inzwischen 63 Jahre alte Mutter musste er vor drei Jahren in ein Pflegeheim bringen, weil sie durch den Tod der Tochter, die Anklage gegen den Ehemann und dessen Suizid so traumatisiert ist, dass ihr der Lebenswille fehlt. Benedikt leitet eine Software-Firma. Alexandra ist als einzige in der Runde verheiratet, und zwar mit einem Bauern, und sie hat zwei Kinder. Im Gegensatz zu den anderen wirkt Klara beruflich orientierungslos.

Am Morgen des zweiten Tages wird Sigurður über Funk alarmiert. Klara Jónsdóttir liegt unterhalb eines Felsvorsprungs. Den Sturz kann sie nicht überlebt haben.

Die regionale Polizei fordert in Reykjavik Verstärkung an, und Hulda Hermansdóttir fliegt nach Heimaey. Von dort bringt ein Boot sie zur Insel Elliðaey, wo sie Alexandra, Benedikt und Dagur vernimmt – die den zehn Jahre zurückliegenden Mordfall nicht erwähnen, obwohl er der Anlass des Treffens auf der Insel war.

Die Ermittlungen

Es sieht so aus, als sei Klara nachts, während die anderen schliefen, angetrunken zu den Klippen gegangen und dort in die Tiefe gestürzt. Ein Unfall oder ein Suizid? Der Gerichtsmediziner weist Hulda auf Würgemale hin: Augenscheinlich war Klara nicht allein an der Klippe, und es fand ein Kampf statt.

Als Hulda herausfindet, dass bereits vor zehn Jahren ein Mitglied der Clique gewaltsam ums Leben kam, geht sie von einem Zusammenhang aus und erkundigt sich bei Lýður nach dem Mordfall Katla. Obwohl Lýður inzwischen mehrere Hierarchiestufen über Hulda steht, beteiligt er sich an den Ermittlungen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Weil die Clique allein auf der Insel war, geht Hulda davon aus, dass der Mörder unter den Überlebenden zu suchen sei.
Ermordete Dagur vor zehn Jahren seine Schwester und nun deren beste Freundin? Unter Druck gesetzt, gibt er zu Protokoll, dass er kürzlich herausgefunden habe, dass Katla 1987 mit Benedikt in der Sommerhütte gewesen sei.

Daraufhin wird Benedikt noch einmal vernommen. Er gibt zu, Katlas Begleiter gewesen zu sein, beteuert jedoch, ihr nichts getan zu haben. Um sie ausschlafen zu lassen, sei er am zweiten Morgen allein losgewandert und habe dann noch längere Zeit in einer heißen Quelle gelegen. Als er zum Sommerhaus zurückgekommen sei, habe er Katla tot vorgefunden. Weil er befürchtete, unter Mordverdacht zu geraten, reiste er ab und verriet niemandem etwas von dem Ausflug nach Ísafjörður.

Andrés Andrésson, der vor zehn Jahren Katlas Leiche fand, ist inzwischen im Ruhestand. Zuerst mauert er, als Hulda ihn anruft, aber dann meldet er sich bei ihr und gesteht die Falschaussage. Lýður wird noch am selben Tag vom Dienst suspendiert.

Schließlich bricht Dagur zusammen und legt ein Geständnis ab. Er schlief schon in der Jagdhütte auf Elliðaey, als Klara ihn weckte und ihn zu einem nächtlichen Spaziergang überredete. Auf der Klippe gestand sie ihm, dass sie vor zehn Jahren Katla und Benedikt nachgefahren sei und gewartet habe, bis ihre Freundin – die ihr den Liebhaber ausgespannt hatte – allein im Sommerhaus war. Sie wollte Katla nur zur Rede stellen, aber es kam zu einem heftigen Streit.

„Was ist in dem Sommerhaus passiert?“
„Viel Schreierei, Gebrüll und Drohungen offenbar. Es endete in einem Handgemenge. Klara hat Katla geschlagen und geschubst, meine Schwester ist mit dem Kopf gegen die Tischkante gefallen … und einfach verblutet. Ich schätze, es ging alles unglaublich schnell. Klara konnte das, was sie getan hatte, nicht bewältigen. Damals gab es noch keine Handys, keine Möglichkeit, einen Krankenwagen zu rufen.“

Als Dagur erfuhr, wie seine Schwester ums Leben gekommen war, rastete er aus, würgte Klara, und sie verlor den Halt, stürzte von der Klippe.

„Diese verdammte Hexe hatte mein Leben ruiniert, meine Familie zerstört. Sie war schuld am Tod meiner Schwester, am Selbstmord meines Vaters und an dem Zustand, in dem meine Mutter heute vor sich hin vegetiert. Und nun ist sie dafür verantwortlich, dass ich ins Gefängnis komme. Irgendwie … ironisch.“

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Der Isländer Ragnar Jónasson (*1976) verzichtet in dem Thriller „Insel“ auf Gewaltexzesse und spektakuläre Verfolgungsjagden. Er nimmt sich Zeit, die Handlung zu entwickeln, die auf zwei Zeitebenen stattfindet. Der erste Teil des Buches spielt 1987, der zweite 1997. Weil der Plot einfach ist und die Zahl der Beteiligten bzw. Mordverdächtigen klein bleibt, sind die Zusammenhänge leicht überschaubar.

„Insel“ ist der mittlere Band einer Trilogie von Ragnar Jónasson, die von der Kommissarin Hulda Hermannsdóttir zusammengehalten wird. Wer „Insel“ liest und erwartet, mehr über sie zu erfahren als aus dem ersten Band bekannt ist, wird enttäuscht. Und nicht einmal der Charakter dieser für die Trilogie zentralen Protagonistin wird ausgeleuchtet. Die Romanfiguren bleiben schablonenhaft.

Als eine Besonderheit der aus „Dunkel“, „Insel“ und „Nebel“ bestehenden Trilogie wird angepriesen, dass Ragnar Jónasson rückwärts erzählt. Tatsächlich ist Hulda im ersten Band 64 Jahre alt, in „Insel“ aber erst 39 im ersten Teil bzw. 49 im zweiten. Aber bis auf die Ermittlerin haben die Plots der beiden Bücher nichts miteinander zu tun. In „Insel“ erzählt Ragnar Jónasson also keineswegs die Vorgeschichte von „Dunkel“.

Kristian Lutze übersetzte den Thriller nicht aus der Originalsprache, sondern aus dem Englischen ins Deutsche.

Den Thriller „Insel“ von Ragnar Jónasson gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Katja Bürkle.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © btb Verlag

Ragnar Jónasson: Dunkel

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(Elias Canetti: Die Rufe der Blinden. In: Die Stimmen von Marrakesch)
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.