Gertraud Klemm : Hippocampus

Hippocampus
Hippocampus Originalausgabe Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2019 ISBN 978-3-218-01177-8, 379 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit zwölf gezielten Aktionen zwischen Kunst und Vandalismus, die sie mit einem Hippocampus-Symbol signiert, macht Elvira Katzenschlager auf konkrete Zurücksetzungen von Frauen wie die kürzlich gestorbene Schriftstellerin Helene Schulze aufmerksam ...
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Kritik

In ihrem Roman "Hippocampus" kritisiert Gertraud Klemm die skrupellose Vermarktung von Kunst und Literatur. Zugleich veranschaulicht sie, dass Frauen im Kulturbetrieb systematisch benachteiligt werden.
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Interview in Hintermoos

Adrian lebt in Wien und arbeitet als Fotograf für Dokumentationen. Sein Einkommen reicht zwar nicht, um schuldenfrei zu werden, aber er möchte dennoch nicht mit jemandem tauschen, der „Nine-to-five“, Montag bis Freitag, im Büro sitzt und aufs Wochenende oder den Urlaub wartet.

So will er niemals werden. So kann er niemals werden, weil seine Arbeit keine Wochenenden und kein Schlechtwetter kennt, nur gute oder schlechte Auftragslage und Fristen.

Mitte August 201x begleitet er Cordula, eine Redakteurin der Zeitschrift „Literatur pur“, und einen Kameramann nach Hintermoos, zu einem Interview mit einer Frau Ende 50 namens Elvira Katzenschlager. Dabei geht es um die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Helene Schulze, deren letzter Roman – „Drohnenkönig“ – im Oktober veröffentlicht werden soll und die es damit posthum auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Das interessiert die Medien.

Eine Österreicherin, von der man jahrzehntelang nichts gehört hat! Eine Autorin, die stirbt, bevor das Buch erscheint! Ein Preis, den erst zwei Mal ein Österreicher bekommen hat! Eine Schriftstellerin, der die Maske eines Pseudonyms quasi vom Tod heruntergerissen wurde!

Helene Schulze und Elvira Katzenschlager lernten sich Mitte der Siebzigerjahre als feministische Aktivistinnen in Wien kennen. Einige Zeit gehörten sie der von dem Paar Gerd und Romana gegründeten Theobaldgassen-WG an. 1977, im Alter von 23 Jahren, hatte Helene einen großen Erfolg mit dem Roman „Rauhreif“. Aber dann heiratete sie den Steuerberater Rainer Pezek und zog mit ihm nach Kaiserbad.

Kaum war der Ring auf ihrem Finger, ging es bergab. Kaiserbad statt Wien, Harmonie statt Scharfsinn, Familie statt Revolution. Der Termin für das nächste Buch verschob sich nach hinten. Es war wie eine Kastration. Sie war jetzt ein halbes Paar und musste gefälligst auch ihre Persönlicheit halbieren. […] Spätestens, als das erste Kind von Rainer in Helenes Bauch war, verschwand das nächste Buch vollends vom Horizont.

Seit damals trafen sich Helene und Elvira nur noch gelegentlich. Vor einer Woche rief Rainer an, benachrichtigte Elvira von Helenes Tod und bat sie, den Nachlass zu sichten. Vor fünf Tagen zog sie in das Häuschen in Hintermoos, in dem Helene zuletzt allein gelebt hatte. Als es ihr von einer Tante vererbt worden war, hatte sie das Familienleben aufgegeben, um noch einmal zur Schriftstellerin zu mutieren. Rainer war zwei Jahre lang allein geblieben, hatte dann mit Anfang 60 die 15 Jahre jüngere Therese kennengelernt und Helene 29 Jahre nach der Eheschließung um die Scheidung gebeten.

Von dem Buchprojekt „Drohnenkönig“ hörte Elvira erst jetzt. Der Verlag hatte den Roman unter dem männlichen Pseudonym Karl Maria Schatt für den Deutschen Buchpreis eingereicht, aber nach dem Tod der Autorin – ebenfalls aus Marketinggründen – deren Klarnamen veröffentlicht.

Als Elvira nach Hintermoos kam, fand sie am Laptop der Toten ein Post-it mit dem Passwort „seepferde“ und ist deshalb in der Lage, auch die elektronisch gespeicherten Dateien zu sichten. Berge leerer Flaschen haben das Gerücht bestätigt, dass Helene als Alkoholikerin gestorben sei.

Helene hat sich ncht mit Fusel zu Tode gesoffen, sondern hat einen gepflegten Alkoholismus betrieben.

Die Redakteurin Cordula hat sich gründlich auf das Interview vorbereitet, aber Elvira Katzenschlager nimmt ihr nach den ersten Minuten die beschriebenen Karten aus der Hand, und als sie die geplanten Fragen liest, rastet sie aus:

„Was ist das hier? Ein Literaturformat oder Klatsch-TV?“

Sie bricht das Interview ab, bevor es richtig begonnen hat.

Aktion in Hintermoos

Nachdem Elvira 15 bis 20 Kilogramm ihres Kots und Urins gesammelt hat, schleppt sie die damit gefüllten Säcke auf den Hochstand eines Obersenatsrats in Hintermoos, der vor Jahrzehnten den einzigen Bären abschoss, der sich in die Gegend verirrt hatte. Helene kritisierte ihn damals, und daraufhin erschoss er auch noch ihren Kater. Dafür übt Elvira nun Rache, indem sie den ekeligen Inhalt der Säcke über die Sitzfläche des Hochstands verteilt.

Bei einem Spaziergang entdeckt sie ein Schild an der Ortswasserleitung Hintermoos:

Dieser Wasserbehälter wurde 1963 unter Bürgermeister Dr. Friedrich Mosslechner errichtet.

Daraufhin wendet sie sich an Adrian, der ihr während des abgebrochenen Interviews positiv auffiel, und bietet ihm 1200 Euro pro Woche, wenn er ihr bei geplanten Aktionen assistiert und diese dokumentiert.

Sie mag seine Unfertigkeit und Unsicherheit. Nichts ist schlimmer als diese altklugen Mittzwanziger, die es gar nicht erwarten können, sich vorschnell in den Ernst des Lebens zwängen zu lassen.[…] Mit sechsundzwanzig muss man doch noch jung und blöd sein, nicht vernünftig und vollgestrebert.

Bei seiner finanziellen Situation kann sich Adrian keine Absage leisten und fährt Ende August mit dem Zug von Wien nach Payerbach, wo Elvira ihn mit dem Mercedes-Bus von Helenes toter Tante abholt.

Die erste gemeinsame Aktion besteht darin, acht mit vollgeschissenen Windeln gefüllte Säcke am Wasserbehälter in Hintermoos zu platzieren. Auf ein mitgebrachtes Schild hat Elvira geschrieben:

Windelberg Mosslechner-Kinder. Dieser Windelberg wurde 1963 von Bürgermeistergattin Mosslechner weggearbeitet, während der Bürgermeister diese Ortswasserleitung errichten ließ

Aktion in Kaiserbad

Als in Helenes damaligem Wohnort Kaiserbad die Statue eines Operettenkomponisten in Auftrag gegeben werden sollte, schlug sie vor, stattdessen eine der Töchter Kaiserbads wie Bertha von Suttner, Marianne Hainisch oder Marlene Streeruwitz zu ehren, aber am Ende stellte man dann doch ein Denkmal für Franz Lehár auf.

Deshalb ergänzt Elvira nun mit Adrians Hilfe das Strauß-Lanner-Denkmal im Kurpark von Kaiserbad mit Büchern von Bertha von Suttner und Marlene Streeruwitz, zieht der Statue von Franz Lehár einen Bikini an und stellt beim Udine-Brunnen gegenüber einer Reiterstatue ein Schild mit dem Wort „Quotenfrau“ auf.

Ihre Installationen signiert Elvira mit einem Hippocampus-Symbol und erklärt ihrem Assistenten, dass es sich dabei um eines der wenigen Wirbeltiere handelt, bei denen das Männchen die Schwangerschaft übernimmt.

Das Seepferdchen ist jetzt nicht gerade der erfolgreichste evolutionäre Geniestreich im Tierreich gewesen, denkt Adrian auf dem Rückweg. Kann sich nicht so bewährt haben, den Männchen die Embryonen unterzuschieben. Staatenbildende Insekten wären ein besseres Symbol gewesen, denkt er. Bienen, Wespen, Termiten. Gefräßige, stechende Frauengesellschaften, die Männchen nur mehr zur Paarung brauchen. Die würden sich doch als feministische Wappentiere anbieten.

Aktionen in Erpendorf und Kaltschlag

Helene wurde 1954 in Kaltschlag bei Erpendorf geboren und wuchs dort auf. Als sie 1969 schwanger war, verhinderte Marianne, eine bigotte katholische Jungscharleiterin, eine Abtreibung. Die 15-Jährige musste das Kind austragen und sofort nach der Geburt zur Adoption freigeben. Als sie später versuchte, ihre in Tirol aufgewachsene Tochter zu kontaktieren, wollte diese nichts von ihr wissen.

Anfang September zieht Elvira deshalb dem Erpendorfer Jesus in der Kirche ein rosafarbendes Jäckchen an, und in der Kirche von Kaltschlag hängt sie eine „heilige Helene“ mit zahlreichen Plastik-Embryonen – die Adrian von einem Abtreibungsgegner besorgt hat – an den Zeigefinger des heiligen Florian.

Außerdem legt sie um das Kriegerdenkmal in Erpendorf eine riesige, aus Pappmaché geformte Vulva und stellt ein Schild dazu mit der Inschrift: „Noch immer ehrt ihr die, die euch gefickt haben“. Mit der Installation prangere sie zugleich die katholische Besessenheit vom weiblichen Geschlecht an, erklärt sie Adrian. Bei ihrem Balanceakt zwischen Kunst und Vandalismus geht es ihr weniger um Rache für das Frauen wie Helene angetane Unrecht als um eine Art von Rehabilitierung.

Aktion in Linz

Als Elvira Helene in Wien kennenlernte, saß diese neben dem Aktionskünstler Köll. Helene schlief mit ihm und saß ihm Modell. Elvira erinnert sich an ein Bild mit dem Titel „Subversive Tafel“: Da liegt Helene nackt, verdreht und mit Farbe bespritzt auf einem Esstisch.

An einer Wand im Köll-Museum in Linz liest Elvira Mitte September die Biografie des 1943 unehelich geborenen Künstlers, der Mitte der Sechzigerjahre mit den Wiener Aktionisten in Kontakt gekommen war. Es wird hervorgehoben, dass er seine todkranke Mutter ein halbes Jahr lang aufopferungsvoll gepflegt habe, bevor sie starb. Elvira ärgert sich über die Darstellung, denn sie weiß, dass Helene damals mit Köll zusammenlebte und die Hauptlast der Pflege trug, statt an ihrem Roman „Rauhreif“ zu arbeiten.

Nach dem Tod von Kölls Mutter hatte Helene genug von den angeblichen Genies der Wiener Kunstszene. Sie bewarb sich erfolgreich um ein Stipendium, studierte Germanistik, zog in die Theobaldgassen-WG und vollendete „Rauhreif“.

Die Biografie Kölls endet mit seinem Suizid im Jahr 1979.

Elvira schreibt mit Lackstift darunter „Helene Schulze was here!“

Im Radio wird berichtet, dass Helene Schulze mit „Drohnenkönig“ nun auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht: eine tote Frau neben vier Männern.

Aktion in Salzburg

Elvira und Adrian kampieren am Moorsee. Von dort fahren sie Mitte September nach Salzburg, wo einer jungen Schriftstellerin auf Initiative des Literaturkritikers Arthur B. Liebig ein Preis überreicht werden soll. Weil derselbe Kritiker immer wieder mögliche Auszeichnungen Helenes verhindert hatte, beabsichtigt Elvira, die Festveranstaltung zu stören.

Während Adrian den Kritiker und die junge Autorin mit einer Schreckschusspistole in der Garderobe festhält, steigt Elvira auf die Bühne, tritt ans Mikrofon, trägt pathetisch ein Gedicht vor und hält dann ein Schild hoch:

Der Preis gebührt: Helene SCHULZE
5 Mal vorgeschlagen
5 Mal abgelehnt
von Juror ARTHUR B. LIEBIG

Weil die Bedrohten die Schreckschusspistole vermutlich für eine echte Waffe hielten und Elviras Bühnenauftritt in den Medien zu sehen war, befürchten Adrian und Elvira, dass die Polizei nach ihnen fahndet und flüchten zu einem Country- & Westernfest im Bayerischen Wald.

Adrian wird es zuviel. An einer Bushaltestelle lässt er sich von Elvira absetzen und kehrt nach Wien zurück.

Aktion in Klagenfurt

Ende September trifft Elvira allein in Klagenfurt ein.

Rainer ruft an: Das Häuschen in Hintermoos ist abgebrannt. Wieso sie nicht dort gewesen sei. Um ihn wegen des Nachlasses seiner Exfrau zu beruhigen, lügt sie und behauptet, alle wichtigen Papiere bei sich zu haben.

Helene hätte gute Chancen auf den Bachmann-Preis gehabt, aber der Literaturkritiker Arthur B. Liebig wies darauf hin, dass ihre Lesung in Klagenfurt gegen die Statuten verstoße, weil einer ihrer Sätze bereits in einer Literaturzeitschrift stand.

Elvira ärgert sich nicht nur darüber, sondern auch über die mickrige Bachmann-Büste in Klagenfurt.

Sie lässt sich als „Konzeptkünstlerin“ für eine ZDF-Sendung interviewen, kritisiert, dass es in der Stadt keine einzige nach Ingeborg Bachmann benannte Straße gebe und wird anschließend bei einer Installation am Bachmann-Denkmal gefilmt – die von bereitstehenden Arbeitern gleich wieder beseitigt wird.

Aktionen in Neapel

Nachdem Adrian die ZDF-Sendung gesehen hat, trifft er sich Anfang Oktober mit Elvira in Colleferro östlich von Rom.

inzwischen berichten ein paar Blogs über Helene Schulze und einige der mit einem Hippocampus signierten Aktionen. Elvira hält nichts von Buchbloggern:

Jeder liest dieselben Bücher, und jeder darf mitkritisieren! […] Literatur wird verkostet wie Kekssorten, und irgendwie schrieben alle dasselbe […] Kritik üben ist heute Teil des Konsumierens geworden – ohne möglichst öffentliche Kritik ist es der halbe Spaß.

Nicht nur in Wien, auch in Neapel kreuzten sich Elviras und Helenes Wege. Während Helene dort mit dem Lyriker Luigi zusammenlebte, der zugleich eine Familie in Rom hatte, beendete Elvira in Neapel ihre jahrelange Tätigkeit als Schwimmerin im Haifisch-Aquarium eines Wanderzirkus.

In Neapel verfolgen Adrian und Elvira die Verleihung des Deutschen Buchpreises in einem Live Stream. Es siegt nicht Helene Schulze, sondern einer der vier Männer auf der Shortlist.

Elvira lässt sich von Adrian ins Archäologische Nationalmuseum in Neapel begleiten. Im Gabinetto Segreto wundert er sich über die aus Pompeji stammenden Fundstücke, vor allem über gewaltige Phalli, und Elvira weist ihn darauf hin, dass es keine einzige Darstellung einer Vulva gebe.

Sie fordert ihn zum Filmen auf, stellt sich in die Mitte es Raums, fängt zu singen an und öffnet ihr Gewand: Erst jetzt wird sichtbar, dass sie sich als Vulva kostümiert hat und ihr rotes Halstuch eine Klitoris darstellt. Der zuständige Aufseher drängt Elvira hinaus, und im letzten Augenblick verhindert Adrian, dass sie einer Statue den erigierten Penis abschlägt.

Die Nacht verbringen Elvira und Adrian nicht auf dem Campingplatz, sondern in der Pension Eusebio. Im Bett ermutigt sie den Begleiter, ihr Nachthemd hochzuschieben, reitet ihn und kommt mit einem Fauchen zum Orgasmus. Danach besorgt sie es ihm gekonnt mit dem Mund.

Aber als er am Morgen aufwacht, ist sie spurlos verschwunden. Ihre letzten 263 Euro hat sie als Teil des ihm versprochenen Honorars auf dem Nachttisch liegen gelassen.

Niemand würde die letzte Installation als solche verstehen, auch wenn sie die wichtigste wäre. Sie würden sagen, es wäre eine Art Abschluss, eine Reminiszenz. Eine Rückkehr zum Zwischenmenschlichen. Zum Wesentlichen. Es ist aber auch egal.

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In ihrem Roman „Hippocampus“ kritisiert Gertraud Klemm die skrupellose Vermarktung von Kunst und Literatur. Zugleich veranschaulicht sie, dass Frauen im Kulturbetrieb systematisch benachteiligt werden. Nur wenige Straßen und Plätze tragen Frauennamen, und wenn man schon einmal ein Denkmal für eine berühmte Frau errichtet, ist es eine mickrige Büste wie die für Ingeborg Bachmann in Klagenfurt. Zahlreich sind dagegen die Statuen zu Ehren von Männern, gern auch hoch zu Ross, wobei die Figuren selbstverständlich auf Hengsten reiten. Kriegerdenkmäler kommen noch dazu.

„Hippocampus“ ist ein gesellschaftskritischer Roman in der Form einer Road Novel.

In den 22 Kapiteln wechselt Gertraud Klemm zwischen den Perspektiven der beiden grundverschiedenen Hauptfiguren Elvira und Adrian ab, bleibt aber bei der dritten Person Singular – und übrigens beim in Romanen unüblichen Präsens. Überschrieben sind die chronologisch angeordneten Kapitel mit jeweils einem der beiden Namen, dem Ort und dem Monat des Geschehens.

Anfangs wirken die „Installationen“ der aufgebrachten Protagonistin originell und amüsant, aber vielleicht hätte sich Gertraud Klemm besser auf weniger als insgesamt zwölf – dann auch noch einmal im Anhang aufgelisteten – Aktionen beschränkt.

Eigentlich sollte Elvira im Haus der verstorbenen Schriftstellerin Helene Schulze in Hintermoos deren Nachlass sichten. Stattdessen bereist sie alle Orte, die in der Biografie der zu kurz gekommenen Autorin eine Rolle spielten. Gertraud Klemm fügt ein paar Szenen ein, die punktuell bleiben (etwa die Auftritte des Künstlers Milan, Adrians Schlägerei und seine Begegnung mit der Tierärztin Ruth). Einige Handlungsfäden lässt die Autorin einfach fallen. Ende September ruft beispielsweise Helenes Exmann an, der Elvira Anfang August mit der Sichtung des Nachlasses beauftragt hat. Er teilt ihr mit, dass das Haus in Hintermoos niedergebrannt sei und wundert sich über ihre Abwesenheit. Wie lange sie schon nicht mehr in Hintermoos ist, wo sie sich aufhält und was sie vorhat, scheint ihn nicht zu interessieren. Die Handlung dauert zwar noch bis Anfang November, aber weder das Feuer noch der Nachlass werden noch einmal erwähnt.

Vor allem in der ersten Hälfte des bissigen Romans gibt Gertraud Klemm mit klugen Beobachtungen eine Reihe von Denkanstößen.

„Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den deutschsprachigen ‚Roman des Jahres‘ aus“, heißt es. Da gibt es keinen Ausschluss von inzwischen gestorbenen Autorinnen oder Autoren. Auch wenn es noch nie vorgekommen ist, wäre eine posthume Preisvergabe also denkbar. Aber auf der Shortlist stehen in Wirklichkeit jeweils sechs Namen, nicht fünf wie in „Hippocampus“.

Wir lesen, dass Bertha von Suttner, Marianne Hainisch und Marlene Streeruwitz Töchter des fiktiven Ortes Kaiserbad gewesen seien. Tatsächlich wurde die Friedensnobelpreisträgerin in Prag geboren, und beide Schriftstellerinnen stammten aus Baden.

Bemerkenswert ist die schöne Gestaltung des Buches mit Lesebändchen, farbigem Vorsatz und gelb-weiß gestreiftem Schnitt.

Gertraud Klemm wurde am 6. Juli 1971 in Wien geboren und wuchs in Baden auf. Nach dem Biologie-Studium in Wien arbeitete sie als Gutachterin, bis sie 2006 mit zwölf unter dem Titel „Höhlenfrauen“ zusammengefassten Erzählungen als Schriftstellerin debütierte. Ihr erster Roman – „Herzmilch“ – erschien 2014. Ihr Roman „Aberland“ stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015. Es folgten die Romane „Muttergehäuse“ (2016) und „Erbsenzählen“ (2017) und „Hippocampus“ (2019).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Kremayr & Scheriau

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