Katharina Mevissen : Mutters Stimmbruch
Inhaltsangabe
Kritik
Neun Sprachen
Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr. […]
Als Mutter zur Welt kam, hatte sie nur die Körpersprache. Aber mit einer einzigen Sprache kommt man nicht weit und erst recht nicht durchs Leben. Je älter sie wurde, desto mehr Sprachen lernte sie. […]
Die vier Fremdsprachen waren bedingungslose Geschenke, ihre neunte Sprache dagegen harte Arbeit: Die Muttersprache lernte Mutter als letzte, da war sie schon fast volljährig. Sie musste zwanzig Kurse bei der Volkshochschule nehmen, bis niemand mehr fragte, woher sie denn käme. Mutter hat das der Muttersprache bis heute nicht verziehen: dass sie so viel gekostet hat.
Mutter lebt allein in einem Haus mit 170 Quadratmetern Wohnfläche. Ihr Mann ging zuerst weg, dann taten es auch der Reihe nach die groß gewordenen Kinder. Sie ist einsam.
Als Kind hatte sie sich vorgenommen, Vater zu werden. Daraus wurde nichts: Mutter wurde Mutter. Es blieb dann keine Zeit, um ab und zu mal Vater zu sein oder Single. Erst als die Kinder zur Schule gingen, hatte sie wieder Zeit für kurze Affären. Dann musste es schnell gehen. Sie verschlang ihre Geliebten an Vormittagen.
Mutter hat junge Beine und grobe Hände. Sie hat große Zähne, alte Brüste und feste Waden. Ihr Körper ist ungleich gealtert: An manchen Stellen ist er schon verwitwet, an anderen noch jugendlich, hier alleinstehend, da in den Wechseljahren, dort zeitlos.
Mutter wird sich zum Rätsel.
Das Herz des Hauses
Vor dem Winter soll das undichte Dach repariert werden. Handwerker machen sich an die Arbeit. Aber als sie das Wasser im Heizungsraum abstellen wollen, lässt Mutter es nicht zu, denn der Ort, wo Wärme und Wasser herkommen, ist für sie das Herz des Hauses. Verärgert brechen die Handwerker ihre Arbeit ab, und nach ein paar Tagen ist auch das Gerüst weg.
Es tropft von der Decke. Mutter stellt Eimer auf.
Sie trägt Wärmflaschen mit sich herum, und manche Abende verbringt sie im Heizungskeller, wo es vielleicht ein wenig wärmer ist. Im Radio sucht sie herum, bis sie eine Frauenstimme hört, die Börsenkurse verliest. Dabei werden ihre Brustspitzen hart, und sie bringt sich selbst zu einem kurzwelligen Orgasmus.
Mit einem bisher ungetragenen Abendkleid, das sie am Rücken nicht mehr richtig zu bekommt, legt sie sich in die Badewanne. Dann zieht sie sich das triefende Kleid vom Leib und wringt es aus wie einen Putzlappen.
Als kein Warmwasser aus dem Hahn kommt, rennt Mutter aufgeregt in den Keller, stürzt und schlägt sich die Schneidezähne aus.
Das Herz des Hauses hat aufgehört zu schlagen.
Eine bis in den Keller vorgedrungene Wurzel der Weide im Garten hat ein Wasserrohr platzen lassen.
Mutters Stimmbruch
Sie geht zu dem Zahnarzt, den sie kürzlich fortstieß, als er ihre schmerzenden Kiefer untersuchen wollte – und lässt sich alle noch vorhandenen Zähne reißen.
Danach kehrt sie nicht zu ihrem Haus zurück, sondern mietet in der Stadt eine Zwei-Zimmer-Dachwohnung in einem Neubau.
Es gefällt ihr, nachts keine Zähne mehr haben zu müssen.
Als sie mit ihrer neuen Zahnprothese, die noch nicht so recht haften will, unterwegs ist, beginnt es zu regnen. Sie stellt sich in einer Telefonzelle unter. Von da an verbringt sie immer wieder Stunden in Telefonzellen. Einmal ruft sie ein Reisebüro an und fragt nach einer Woche auf den „Molaren“. Als sie zum zweiten Mal die Nummer der Auskunft wählt und fragt, ob sie störe, sagt die Stimme, sie habe auf ihren Anruf gewartet.
Mutter wird heiß. Sie zwickt sich. Aber die Leitung ist stabil und die Stimme noch da.
Rauchen Sie?, fragt Mutter, als hielte sie ihr eine Schachtel hin.
Ja, danke. – Das Geräusch, wie am anderen Ende eine Zigarette angezündet wird. Sie zieht, bläst Rauch aus, langsam quillt er aus den Öffnungen der Hörmuschel in die Kabine. Gierig saugt Mutter ihn ein, wirft Münzen nach.Da überkommt es Mutter. Sie verschlingt die Sprechmuschel, leckt, lutscht, stöhnt. Und die Stimme antwortet: strömt aus dem anderen Ende des Hörers, wird immer höher und trockener.
Jemand hämmert an die beschlagene Scheibe, aber Mutter lässt sich nicht aufhalten, nicht jetzt. Endlich kommt die Stimme. Kommt in kurzen spitzen Schreien.
Null-zwei-null-sechs-acht-neun-eins-drei-eins-sieben-sieben, keucht sie und legt auf. Das Restgeld fällt klirrend in die Münzausgabe.
Mutter lässt los, ihr Hörer hängt schlaff herunter.
Im Schwimmbad streift sie die Träger ihres hellblauen Badeanzugs von den Schultern. Da fordert der Bademeister sie auf, das Becken sofort zu verlassen; Nacktschwimmen sei verboten. Mutter blafft zurück, dass die Hälfte der Leute mit nacktem Oberkörper im Wasser sei. Dann geht sie in die Männerdusche.
Am Abend vor Muttertag fährt Mutter mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt, als lenke sie ihren Balkenmäher durch das Geschäft. Scharf biegt sie um die Ecken, rammt Angebotskörbe, lädt den Wagen voll mit Tiefkühltorte, Chips und Sekt. Sie stapelt einen üppigen Einkauf aufs Band.
Die Kassiererin trennt einen Streifen Treuepunkte ab, knallt Mutter das Wechselgeld und eine schlaffe Rose hin. Mutter küsst der Frau an der Kasse die Hand, die Rose klemmt sie sich zwischen die Zähne.
Das wäre doch nicht nötig gewesen, Liebling, raunt Mutter mit ihrer tiefsten Stimme.
Die Frau schaut weg und wischt sich die Hand ab.
Mutter leckt sich über die Lippen und hievt die Einkäufe nach Hause. Und wundert sich selbst über ihre Frühlingsgefühle.
Sie lässt sich von der Auskunft mit Amerika verbinden: „New York. Ein gutes Hotel“.
Mutter wird durchgestellt, sie wartet in den Tiefen des Atlantiks und hält die Luft an. Taucht durch riesige Wassermassen, die auf ihre Lungen drücken, dunkel und salzig. Die Zeit verschiebt sich, Land ist in Sicht.
Welcome! The Golden Hotel speaking.
Doch so schnell kann Mutter ihre Fremdsprachen nicht finden. Sie tastet hastig alle Taschen ab.
Hello, anybody there?, fragt die Hotelstimme, steril wie ein frisch bezogenes Doppelbett.
Bevor Mutter antworten kann, ratscht es – die Verbindung ist weg. Und Mutter taucht auf.
Erst glaubt sie, dass soeben ein Schiff das Seekabel durchtrennt hat. Dann wird ihr klar: Das Geld ist ihr ausgegangen. Das Golden Hotel ist wirklich eine kostspielige Adresse – Ausflüge in die Tiefsee sind teuer.
Mutter weiß jetzt: Ruft man in Übersee an, ist das zwar fast unbezahlbar. Aber niemals sonst kann man so lange unter Wasser bleiben, ohne zu ertrinken.
Sie hatte gedacht, Älterwerden sei langweiliger
Im Anzeigenteil der Zeitung entdeckt sie ihr zum Kauf angebotenes altes Haus. Sie ruft den Immobilienmakler an und erkundigt sich danach.
Man wolle ehrlich sein: Das Haus habe einen schweren Rohrbruch erlitten, und der Fall sei durchaus kurios.
Das Wasser sei wohl tagelang nicht abgestellt gewesen und habe erst den Keller überschwemmt, sei dann die Treppen hochgestiegen. Das Haus habe förmlich zu schwimmen begonnen. Als nach zwei Tagen der Postbote kam, rann das Wasser schon über die Türschwelle. Nicht mal die Haustür sei verschlossen gewesen.
Er habe sogleich die Feuerwehr gerufen. Mit Schläuchen und Stiefeln watete man ins Haus und stellte fest: Das Wasser war salzig.
Die Flut hatte Kartons voller Bücher aus dem Keller nach oben gedrückt: das Treppenhaus war verstopft von aufgequollenem Papier, die Weltliteratur schwamm aufgedunsen durch das Erdgeschoss. Man rechnete mit dem Schlimmsten und pumpte das Meer aus dem Haus. Der Wasserspiegel sank, und als der Keller endlich trocken fiel, konnte das Wasser abgestellt werden. Man stapfte über unlesbar gewordene Frauenliteratur und aufgeweichte Klassiker. Von der Besitzerin keine Spur. Im Obergeschoss ein Raum voller Äpfel.
Der Wasserschaden sei nicht unerheblich und der Verbleib der Besitzerin noch ungeklärt. Aber das Grundstück sei groß und günstig, und der Garten traumhaft.
Im hellblauen Badeanzug stellt sie sich in eine Telefonzelle und singt. Draußen bildet sich eine Schlange. Ein Mann hämmert gegen die Scheibe und deutet auf seine Armbanduhr. Da reißt sie den Hörer ab, geht hinaus, sagt „der Nächste, bitte“ und drückt dem Drängler den Hörer in die Hand.
Sie hatte gedacht, Älterwerden sei langweiliger.
Weil sie inzwischen weiß, dass ein Anruf auf der anderen Seite des Atlantiks zu teuer ist, lässt sie sich mit Helgoland verbinden. Da läuft das Gespräch durch ein 53 Kilometer langes Kabel in der Nordsee.
[…] glaubt Mutter, das Rauschen in der Leitung werde lauter und lauter, ja, die Nordsee müsse gleich aus den Öffnungen des Hörers strömen.
Und tatsächlich: Erst kommen nur ein paar Tropfen aus der Hörmuschel, dann schon ein kräftiger Strahl. Die Flut dringt herein und die Telefonkabine füllt sich. Bald steht Mutter bis zur Brust im Meerwasser.
Die Wellen schlagen ihr gegen die Schultern, heben ihre Brüste. Lecken den Hals hinauf, spritzen ans Kinn. Nur bis zu den Zähnen reicht es wieder nicht ganz. Aber Mutter braucht nur die Knie ein wenig zu beugen und die Lippen zu öffnen – und das Meer kann hereinströmen: Das Salz krallt sich in Mutters Zunge. Die Wellen brechen an den künstlichen Zahnreihen, dass selbst die Zähne zuhause im Bad erfasst werden. Und aus Mutters Glottis löst sich ein tiefer, grollender Gesang. Erhebt sich ihre dritte Stimme, die endlich für Unklarheit sorgt: Mutter ist nicht Mann, nicht Frau, sondern Bass.
Als es im Neubau kalt wird und aus dem Warmwasserhahn kein heißes Wasser mehr kommt, ruft Mutter die Hausverwaltung an und beklagt sich. Aber man vertröstet sie: Beim Winteranfang werde man den Heizkessel neu einstellen.
Keine fünf Minuten steht Mutter unter der Dusche, da wird wieder das Wasser kalt. Sie würgt den Hahn ab, überlegt nicht lange.
Sie wirft sich den Bademantel über. Entrüstet läuft sie die Treppen hinunter bis ins Untergeschoss, verschafft sich Zugang zum Heizungsraum.
[…] Einen Moment steht sie andächtig im finsteren Heizungsraum, noch nie zuvor hatte sie das Herz des Gebäudes betreten. Vertraut fühlt es sich an.
Mutter tastet nach dem Kippschalter. Die Neonröhren zucken und springen an. Sie legt die Hände an den Heizkessel. Er ist nur lauwarm. Mutter drückt einige Knöpfe […]. Und startet das System neu. Die Lampe leuchtet auf wie ein rotes Auge, die Heizung beginnt zu arbeiten. […]
Sie atmet auf.
Bevor sie geht, öffnet sie noch den Sicherungskasten. Sie räuspert sich, als stünde ein indiskreter Eingriff bevor. Und macht in allen Wohnungen das Licht aus. Mutter zählt bis fünfzig. Dann drückt sie wieder alle Schalter nach oben und erleuchtet das ganze Haus auf einen Schlag.
Sie stapft wieder hinauf.
Ihre Wohnung ist grell erleuchtet, die Lampen sind wieder angesprungen. Mutter schaltet das Licht aus, schließt die Tür. Sie lässt den Bademantel fallen und verschwindet in der Dusche.
Knallheiß und dunkel kommt das Wasser.
Direkt aus dem Herzen des Hauses.
Abschluss
Schließlich schaut sie nach ihrem alten Haus.
Die Haustür ist nicht verschlossen. Mutter tritt ein, die Schuhe behält sie an. Tatsächlich, auch drinnen ist das Haus vergreist: In den Zimmern sind die Bäume eingezogen: Laub, Pappelsamen, Kiefernzapfen. Moos ist auf den feuchten Teppichen gewachsen, und in den Regalen nisten Vögel und Insekten, als stehe das Haus schon seit Ewigkeiten leer. Nur im Bad leuchtet alterslos das Blau.
Im Erdgeschoss hat das Wasser seine Spuren hinterlassen. Die Tapeten wellen sich, und die Schränke stehen aufgedunsen da. Und überall modernde Bücher. Mutter bemüht sich, nicht auf sie zu treten. Das Telefon liegt verrenkt in der Ecke, der Hörer noch immer daneben.
Bevor sie wieder geht, vergräbt sie ihre Zähne – mit Ausnahme der vier Eckzähne – im Garten.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Eine Frau, die Katharina Mevissen in ihrer Erzählung „Mutters Stimmbruch“ nur „Mutter“ nennt, lebt allein in ihrem großen Haus mit Garten. Der Mann hat sie verlassen, und inzwischen sind auch die erwachsen gewordenen Kinder fortgezogen. Mutters Zähne schmerzen. So wie ihr Körper gealtert ist, müsste auch das Haus renoviert werden. Aber an den Heizungskeller, das Herz des Hauses, lässt sie keinen Handwerker heran.
Und dann passiert es: „Das Herz des Hauses hat aufgehört zu schlagen.“ Eine durchs Mauerwerk vorgedrungene Wurzel der Weide im Garten hat ein Wasserrohr platzen lassen. Der Keller steht unter Wasser. Mutter, die auf der Kellertreppe gestürzt ist und sich die Schneidezähne ausgeschlagen hat, lässt sich auch die restlichen Zähne reißen und kehrt von der Zahnarztpraxis nicht zurück, sondern mietet eine Neubauwohnung. Erst durch die Selbstentwurzelung wird ein Aufbruch möglich.
Katharina Mevissen erzählt in „Mutters Stimmbruch“ eine märchenhafte, absurde und surreale Geschichte über eine skurrile Frauenfigur. Leitthemen der atmosphärisch dichten und bildhaften Darstellung sind Brüste und Zähne, Sprache, Telefon und Wasser, Haus und Heizung. In den poetischen Text von Katharina Mevissen sind Zeichnungen von Katharina Greeven eingestreut.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach
Katharina Mevissen: Ich kann dich hören