Joachim Meyerhoff : Alle Toten fliegen hoch. Amerika
Inhaltsangabe
Kritik
Schüleraustausch
Joachim, der 17-jährige Sohn eines Psychiaters, fährt von der norddeutschen Kleinstadt, „in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin“ nach Hamburg, um sich für ein Jahr als Austauschschüler in den USA zu bewerben.
Er hat zwei ältere Brüder. Der älteste studiert bereits in München, der mittlere will in Kürze ein Medizinstudium in Gießen beginnen.
Ich war kein verschreckter, armer Außenseiter, der von seinen Mitschülern gequält […] wurde. Eher sogar umgekehrt. Ich gehörte oft zu den Quälgeistern. Was ich von meinen Brüdern einstecken musste, teilte ich in der Schule wieder aus. […] Alles in allem war ich ein zufriedener und behüteter Siebzehnjähriger. Ein Siebzehnjähriger mit miserablen Schulnoten und großer Sportleidenschaft. […] Mit hübscher Regelmäßigkeit ergriff mich ein rasender, roter Furor, der mir selbst das größte Rätsel war. […] Ich hasste meinen Zorn. Er machte mich zornig. Er kam mir vor wie eine Krankheit. Ein Anfallsleiden, das mich erniedrigte und entmündigte. […] Meine Brüder nannten mich: die blonde Bombe! Sie wussten, wie man mich zündete! Und sie taten es gerne.
Im Zug nach Hamburg erinnert sich Joachim unter anderem daran, wie ihn der älteste Bruder absichtlich gegen die Glasschiebetür zur Terrasse rennen ließ und er spürt noch einmal die Panik bei einem Schulausflug, als er in einer Rutsche stecken blieb, weil seine kurze Lederhose bremste.
Ich war eine einzige Vollbremsung. Nichts an mir rutschte. […] Da rauschte das nächste Kind in das Kind hinter mir, prallte mit dem Gesicht gegen die Röhre und brüllte los: „Ahhhhhhh!“ […] Eine Sandale traf mich am Hals, direkt in mein Ohr schrie es: „Setz dich bin, du Idiot! Jetzt rutsch doch endlich, du Spasti!“
Nach dem Halt in Rendsburg überquert die Bahntrasse den Nord-Ostsee-Kanal auf der Rensburger Hochbrücke, und Joachim denkt daran, dass in der Rendsburg-Schleife die Fäkalien aus den Zugtoiletten die darunter im Freien zum Trocknen aufgehängte Wäsche sprenkeln. (Das bleibt bis zur Jahrtausendwende so.)
In Neumünster kam eine Frau zu mir ins Abteil: strähnige Haare, hohlwangig, abgemagert, nur mit einer hautengen Jeans, kaputten Turnschuhen und einem T-Shirt bekleidet. […] Sie nahm mich gar nicht wahr. […] Die Fingerkuppen der einen Hand waren bis in die Fingernägel hinein gelbbraun verfärbt, die Adern auf ihrem Handrücken geschwollene bläuliche Würmer.
Im Vergleich zu seinen Mitbewerberinnen und Mitbewerbern, die augenscheinlich fast alle aus der Großstadt kommen, fühlt sich Joachim deplatziert. Deshalb beantwortet er die Multiple-Choice-Fragen nicht wahrheitsgemäß, sondern als wäre er ein tief religiöses, naturverbundenes Landei. Er glaubt ohnehin nicht, dass er einen der Plätze bei Gastfamilien in den USA bekommen wird.
Bevor er wieder nach Hause fährt, schaut er sich bei den besetzten Häusern in der Hafenstraße um. Und in der Herbertstraße sucht er nach einer dunkelhäutigen Prostituierten. Im zweiten Anlauf findet er eine und wählt aus dem Angebot einen „Tittenfick“ für 80 Mark. Wie die tätowierte Frau seinen Penis mit den Brüsten rubbelt, findet er interessant, aber die Stimulation wirkt nicht, und nach ein paar Minuten schickt ihn die Prostituierte fort.
Er kommt sich wie ein Versager vor, aber drei Wochen später erhält er die Zusage für ein Austauschjahr in den USA, uns seine Großeltern übernehmen die Kosten.
Amerika: Gastfamilie
Im Sommer 1985 fliegt Joachim über den Atlantik. Ursprünglich träumte er von einem Jahr in New York, aber seine Gastfamilie – Stan und Hazel Atkinson mit den Söhnen Bill, Brian und Donald – lebt in Laramie/Wyoming.
Einen so riesigen Kühlschrank sah Joachim noch nie, und er staunt auch über die Deckenventilatoren, aber zum Inbegriff der Neuen Welt wird für ihn das Wasserbett.
In der ersten Nacht schreckt er hoch. Alles ist voll Blut.
Wie aus einer freundlichen Quelle sprudelte mir im Takt meines erschrockenen Herzens das Blut aus der Nase. […] Das Bett sah aus wie nach einem Kapitalverbrechen.
Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Gasteltern zu wecken. Hazel macht sauber und überzieht das Bett frisch.
Die Gasteltern fahren frühmorgens zur Arbeit, und wenn sie abends nach Hause kommen, liest Stan die Zeitung, bis Hazel das Essen fertig hat. Danach sitzen sie vor dem Fernseher, bis sie schlafen gehen.
Eine Abwechslung gibt es, als der Pudel der Atkinsons unter dem Haus ein Stinktier aufstöbert und sich der Gestank überall in Haus und Garten ausbreitet.
Konfrontation mit dem Tod
Weil Joachim ohnehin davon ausgeht, dass er das Schuljahr in Deutschland wiederholen wird, wählt er an der High School in Laramie nur angenehme Fächer.
Dass in der Schultoilette 15 WCs ohne Trennwände aufgereiht sind, findet er ekelhaft.
Als Coach Kaltenbach vorhat, seinen als Gefängnisaufseher im Wyoming State Penitentiary in Rawlins angestellten Bruder zu besuchen, fragt er Joachim, ob er mitkommen wolle. Vor dem Staatsgefängnis sind schätzungsweise 300 Autos geparkt, und Joachim erfährt, dass der Staat Wyoming den gesamten Besitz der Häftlinge konfisziert – mit Ausnahme des Autos. Deshalb stehen die Fahrzeuge mitunter jahrzehntelang vollgetankt herum, und eigens dafür abgestellte Mechaniker sorgen dafür, dass die Eigentümer nach der Freilassung einsteigen und wegfahren können.
Kaltenbachs Bruder führt die Besucher auch durch den Todestrakt. Einer der 17 zum Tod Verurteilten spricht Joachim auf Deutsch an und drängt ihn, ihm zu schreiben. Er heißt Randy Hart. Als Sohn einer Deutschen und eines GIs wuchs er in Deutschland auf. Als er 15 Jahre alt war, zog sein inzwischen verwitweter Vater mit ihm nach Wyoming. Als Armeeangehöriger kam Randy Hart dann nach Deutschland zurück. Beim Raubüberfall auf eine Tankstelle in Babenhausen ermordete er zwei Menschen. Zwei Jahre lang war er auf der Flucht, bis er in Griechenland gefasst und dann in Wyoming zum Tod verurteilt wurde. Seit 16 Jahren wartet er hier auf seine Hinrichtung.
Tatsächlich lässt Joachim sich auf einen Briefwechsel mit dem Doppelmörder ein.
Drei Tage, bevor sein mittlerer Bruder das Medizinstudium in Gießen begonnen hätte, kommt er mit seiner Freundin bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Joachim fliegt zur Beerdigung nach Deutschland, aber drei Wochen später ist er froh, zu seiner Gastfamilie in Laramie zurückkehren zu können.
Maureen
Mit viel Geduld bringt Joachim Dons vernachlässigtes Pferd dazu, nicht mehr nach ihm zu schnappen, sondern ihn sogar reiten zu lassen.
Coach Travis Carter, der von deutscher Disziplin schwärmt, nimmt Joachim ins „The Plainsmen“ genannte Basketballteam der Laramie High School auf. Das verschafft ihm Anerkennung.
Er wird zu einer Whirlpoolparty im Freien eingeladen. Auf Pick-ups transportiert man um die 20 Whirlpools an, stellt sie im Kreis auf und schaufelt sie mit Schnee voll, der beim Aufheizen schmilzt. Anfangs lassen die meisten noch ihre Unterhosen an, aber im Lauf der Zeit ziehen sich die meisten ganz aus, und obwohl Joachim in Deutschland eine feste Freundin zurückgelassen hat, treibt er es hier im Beisein der anderen mit einem Mädchen, dessen Namen er erst danach erfährt. Sie heißt Maureen.
Maureen nimmt Joachims dritte Einladung zu einem Date an, zeigt sich allerdings verblüfft darüber, dass der Deutsche keinen Führerschein hat. Sie erklärt sich bereit, ihn mit dem Auto abzuholen. Dass er im Restaurant nicht für sie mitbezahlt, ist hier offenbar ebenfalls ungewöhnlich. Nach 90 Minuten setzt sie ihn wieder bei seiner Gastfamilie ab. Aber sie verabredet sich auch weiterhin mit ihm.
Nach der Explosion der Challenger am 28. Januar 1986 sind Stan und Hazel tagelang verstört.
Bei einem Ausflug mit Stan und Hazel nach Chicago beobachtet Joachim in China Town, wie eine Kundin eine Schildkröte auswählt und der Verkäufer dem lebenden Tier den Panzer abreißt.
Die Schildkröte krümmte sich. Das rosige Fleisch des Rückens begann langsam zu bluten. […] Und dann schrie die Schildkröte. Ein hoher Ton. Lang gezogen.
Ungerührt steckt der Händler das sterbende Tier in eine Plastiktüte, und die Kundin bezahlt.
Zurück in Deutschland
Joachim ist wieder zurück bei seinen Eltern in Norddeutschland, als unvermittelt Randy Hart auftaucht. Er wurde kurz vor der geplanten Hinrichtung begnadigt, und von dem Geld für sein Jahrzehnte altes Auto kaufte er sich ein Flugticket nach Frankfurt. Joachims Vater besorgt ihm nicht nur eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, sondern verschafft ihm auch einen Job in einer Gärtnerei.
25 Jahre später erinnert sich Joachim Meyerhoff an seine Erlebnisse 1985/86.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Joachim Meyerhoff wurde 1967 in Homburg/Saar als jüngster von drei Brüdern geboren. Dort praktizierte sein Vater Hermann Meyerhoff (1932 – 1993) als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie des saarländischen Universitätsklinikums, und die Familie wohnte auf dem Gelände der Einrichtung.
1989 bis 1992 besuchte Joachim Meyerhoff die Otto-Falckenberg-Schule in München. Seither steht er als Schauspieler auf der Bühne, vor allem in Hamburg, Berlin und Wien.
Er führt auch Regie und inszeniert eigene Programme wie seine sechsteilige Autobiografie „Alle Toten fliegen hoch“: „Amerika“ (2007), „Zuhause in der Psychiatrie“ (2008), „Die Beine meiner Großmutter“ (2008), „Theorie und Praxis“ (2008), „Heute wärst Du zwölf“ (2009), „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ (2009). Diesen Theaterzyklus arbeitete er dann zu einer Buchreihe um, ebenfalls mit dem Titel „Alle Toten fliegen hoch“: „Amerika“ (2011), „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ (2013), „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ (2015). Die Bände „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ (2017) und „Hamster im hinteren Stromgebiet“ (2020) schrieb er ohne vorherige Bühnenfassung.
„Amerika“ lautet der erste Teil von „Alle Toten fliegen hoch“. Joachim Meyerhoff erzählt, wie er 1985/86 ein Jahr als Austauschschüler in den USA verbrachte.
Er schreibt 25 Jahre nach dem Austauschjahr in Amerika in der Ich-Form. Der 17-jährige Arztsohn aus einer Kleinstadt trifft in der Metropole Hamburg auf „Lackaffen“. Von ihnen grenzt er sich ab, aber als er dann ein Jahr in der „Neuen Welt“ mit Wasserbetten und Riesenkühlschränken verbringt, beobachtet er alles neugierig und unvoreingenommen. Mit Selbstironie und Augenmerk auf Situationskomik stellt Joachim Meyerhoff aus diesem Erfahrungsschatz wie bei einem Reisebericht eine Reihe von Anekdoten zusammen. Viele davon sind amüsant, aber weniger wäre mehr gewesen, sowohl bei der Anzahl der Episoden als auch bei der Ausführlichkeit der Darstellung, zumal es an Tiefgang und Nachdenklichkeit fehlt.
Joachim Meyerhoff hält sich in seinem autobiografischen Roman „Amerika“ an die Chronologie, fügt aber immer wieder Assoziationen und Erinnerungen ein. Beispielsweise dauert die Zugfahrt des 17-Jährigen von Schleswig nach Hamburg von Seite 7 bis Seite 32, weil er sich unterwegs an mehr als ein halbes Dutzend frühere Erlebnisse erinnert.
Obwohl Joachim Meyerhoff ein Mann der Bühne ist, fehlt es in „Amerika“ an Dramaturgie. Sogar der Unfalltod seines Bruders Martin, der drei Tage später sein Studium beginnen wollte, plätschert so vorbei. Und eine Entwicklung des Protagonisten ist kaum erkennbar. Keiner der Charaktere wird differenziert herausgearbeitet; die schemenhaften Figuren dienen nur dazu, die Anekdoten erzählen zu können.
Den Roman „Alle Toten fliegen hoch. Amerika“ von Joachim Meyerhoff gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch