Marco Missiroli : Alles haben

Alles haben
Avere tutto Giulio Einaudi editore, Turin 2022 Alles haben Übersetzung: Esther Hansen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023 ISBN 978-3-8031-3359-5, 170 Seiten ISBN 978-3-8031-4379-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Seinen beim Tod der Mutter gefassten Vorsatz, mit dem auch finanziell ruinösen Glücksspiel aufzuhören, kann Sandro Pagliarani nicht umsetzen. Vier Jahre später steht er seinem sterbenden Vater bei. Durch die Erbschaft wären ihm noch größere Spieleinsätze möglich – aber vielleicht gelingt es ihm nach dem Verlust eines weiteren geliebten Menschen, sein Leben endlich zu ändern.
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Kritik

Marco Missiroli lässt in seinem berührenden Roman "Alles haben" über eine Vater-Sohn-Beziehung und einen Spielsüchtigen einen Ich-Erzähler auftreten und entwickelt die Handlung konsequent aus dessen Blickwinkel. Der Ton wirkt unaufgeregt, beinahe sachlich und distanziert. Ungewöhnlich sind die immer wieder übergangslos eingeschobenen Absätze mit Erinnerungen.
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Der Tänzer

Sandro Pagliarani lebt und arbeitet als Werbedesigner in Mailand. Don Paolo, der mit ihm zusammen studiert hatte, bevor er Pfarrer wurde, ruft ihn im Juni 2019 aus Rimini an. Er berichtet dem 41-jährigen Freund, dass dessen Vater Nando jede Nacht mit seinem uralten Auto unterwegs sei. Besorgt fährt Sandro nach Rimini, um nach seinem Vater zu schauen.

Ferdinando („Nando“) Pagliarani war in seinem Leben

Telekommunikations- und Elektrotechniker, Ticketverkäufer für Ausflugsbusse an der Adria, Eisenbahner, Inhaber einer Caffè-Bar, Programmierer bei der Eisenbahn. Und was er nie in seinen Ausweis schreiben wollte: Tänzer.

1997 konnte er nach einem transmuralen Herzinfarkt nicht mehr bei der Eisenbahn weiterarbeiten und musste im Alter von 50 Jahren in Frührente gehen. Am Tag nach Sandros Ankunft wird er 72. Seine Frau Caterina, Sandros Mutter, starb vor vier Jahren an einem Herzinfarkt.

Als Nando nachts wegfährt, folgt Sandro ihm und findet auf diese Weise heraus, dass der Vater wieder zu tanzen angefangen hat, und zwar beim Freizeitwerk der Eisenbahner. Das ist der Grund für die nächtlichen Ausflüge. Das Geheimnis ist gelüftet. Tanzen war die große Leidenschaft von Nando und Caterina. Sie hatten sich 1970 beim Tanzen in Milano Marittima kennengelernt.

Der Spieler

Sandros Geheimnis entdeckten die Eltern schon vor langer Zeit.

Bei einer Hochzeitsfeier im August 2003 in Longiano stellte ausgerechnet Nando seinen Sohn einem Mann namens Bruni vor, der Sandro zu Pferdewetten überredete und dann zum Spielsüchtigen in illegalen Runden am Kartentisch machte.

Die Wohnungen, in denen wir spielten, wechselten von Mal zu Mal. Es gab nur wenige wiederkehrende, sichere, meist wurden sie von einem Vertrauensmann oder einem Immobilienmakler zur Verfügung gestellt, der damit einen Leerstand überbrückte. Halbe Tage, sechs Stunden, manchmal ganze Tage.

Sandro bestahl die Eltern. 2007 merkten sie es zum ersten Mal. Ohne ihn zur Rede zu stellen, ließen sie ihm Geld zukommen.

Im Zeitraum von vier Jahren und fünf Monaten: elf Überweisungen auf mein Konto. Insgesamt einundvierzigtausend Euro. Im Verwendungszweck: Finanzspritze.

Einmal hatten sie im Sommer an Ferragosto nachts einen Anruf erhalten mit der Drohung, dass die Familie in Gefahr schwebe, wenn ihr Sohn seine Spielschulden nicht begleiche.

Wenn die Eltern Sandro sahen, fragten sie: „Ist es unser Sohn oder der andere, der Zocker?“

Sieben Jahre nach dem ersten Spiel begriff Sandro, was ihn zum Spieler machte.

[…] nicht der Rausch, nicht der Adrenalinschub, nicht die Ungewissheit oder die Hoffnung auf das große Glück. Es ging auch nicht um Kompensation und oder die Lust am Risiko, nicht um das Heißlaufen oder die Erregung. Als ich den Platz verließ, verstand ich endlich, was der Typ aus Novara gemeint hatte, als er vor Monaten am Ende einer nervenaufreibenden Partie gesagt hatte: Ganz schön intensiv heute.
Ganz schön intensiv. Die höchstmögliche Konzentration von Leben in der kürzest möglichen Zeit. Die Intensität, die Dichte.

Nachdem er elf Monate lang ohne Spiel durchgehalten hatte, fing Sandro wieder an – und verlor das für Anschaffungen vorgesehene Guthaben von ihm und seiner Lebensgefährtin Giulia.

Als Giulia den Fehlbetrag auf dem gemeinsamen Konto bemerkte, versprach ich ihr nichts, und sie wollte auch keine Versprechen mehr hören. Sie kam einfach ihre Sachen abholen, als ich bei der Arbeit war.

Nach dem Tod seiner Mutter wollte Sandro mit dem Spielen aufhören, schaffte es jedoch nicht. Er ist ständig in finanziellen Schwierigkeiten, zumal die Auftraggeber des Freiberuflers ihre Rechnungen nicht zuverlässig begleichen.

 

Der Sterbende

Es gibt noch ein weiteres Geheimnis: Nando hat Krebs und wird nicht mehr lange leben. Erst jetzt erfährt Sandro davon.

Ein 30-Jähriger namens Amedeo unterstützt ihn bei Nandos Pflege, und auch ein Palliativdienst muss in Anspruch genommen werden.

Sandro schlägt seinem Vater vor, noch einmal zum Friedhof von San Zaccaria und weiter nach Montescudo nach zu fahren. Dort kaufte Nando 1993 das von seinem Vater Aurelio Pagliarani errichtete, inzwischen verfallene Steinhaus und baute es wieder auf. Aurelio war 1969 gestorben.

Im November stirbt Nando.

Ausblick

Einige Zeit nach der Beerdigung seines Vaters fährt Sandro mit der 32-jährigen Biologin Beatrice („Bibi“) Giacometti, die während seines Aufenthalts in Rimini ein paar Mal mit ihm geschlafen hat, zum Notar, der das Testament eröffnet.

Er hat mir achtzehntausend Euro hinterlassen und ein nicht bebaubares Wiesengrundstück in San Zaccaria im Wert von neuntausend Euro, plus die Immobilien in Rimini und Montescudo. Das hat mir Notar Lorenzi am Telefon mitgeteilt, als er mir kondolierte. Außerdem gibt es einen Briefumschlag, über dessen Inhalt Lorenzi nichts weiß. Er will ihn mir geben, wenn ich zum Unterzeichnen in die Kanzlei komme.

Das versiegelte Kuvert enthält einen mit der Bank abgesprochenen Sparplan. Sandro steht es frei, ihn zu unterschreiben oder nicht. Als er den damit befassten Filialleiter aufsucht, erläutert dieser ihm die Einzelheiten. Am Ende meint Sandro, er werde darüber nachdenken.

Nach längerer Zeit ruft er wieder einmal Bruni an und lässt sich ein Spiel vermitteln. Als er vor dem Haus eintrifft, in dem es stattfinden soll, erwartet ihn dort sein Freund Lele und drängt ihn, nicht wieder mit dem Spielen anzufangen, aber Sandro lässt sich nicht aufhalten.

Das Spiel beginnt. Sandro lässt seine Karten zugedeckt liegen und erklärt schließlich: „Ich bin raus.“

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Der Roman „Alles haben“ von Marco Missiroli dreht sich um eine Vater-Sohn-Beziehung und um einen Spieler, der sich nach dem Tod seiner Mutter zwar vornimmt, die auch finanziell ruinöse Sucht zu bekämpfen, es aber nicht schafft, mit dem Spielen aufzuhören. Vier Jahre später steht er seinem sterbenden Vater bei. Durch die Erbschaft wären ihm noch größere Spieleinsätze möglich – aber vielleicht gelingt es ihm nach dem Verlust eines weiteren geliebten Menschen, sein Leben endlich zu ändern.

Marco Missiroli lässt in „Alles haben“ den Spielsüchtigen Sandro Pagliarani als Ich-Erzähler auftreten und entwickelt die Handlung konsequent aus dessen Blickwinkel. Der Ton wirkt unaufgeregt, beinahe sachlich und distanziert. Ungewöhnlich ist, dass Marco Missiroli immer wieder übergangslos Absätze mit Erinnerungen Sandros in den laufenden Text einschiebt.

„Alles haben“ ist ein ruhiger und gerade deshalb berührender Roman mit Tiefgang.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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