H. Dieter Neumann : Todeslied

Todeslied
Todeslied Kira Lunds zweite Reportage Originalausgabe Piper Verlag, München 2022 ISBN 978-3-492-50496-6, 325 Seiten ISBN 978-3-492-98832-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zwei Wochen nachdem eine 37-jährige Gutsbesitzerin als vermisst gemeldet wurde, taucht ihre Leiche in der Flensburger Förde auf. Die seriöse TV-Journalistin Kira Lund recherchiert über den Mordfall und tauscht Informationen mit Helene Christ aus, der Leiterin der Mordkommission in Flensburg.
mehr erfahren

Kritik

H. Dieter Neumann entwickelt die Handlung flott und stringent, farbig, lebendig und anschaulich. "Todeslied. Kira Lunds zweite Reportage" ist ein spannender Whodunit- bzw. Küstenkrimi mit einem gut durchdachten Aufbau und einem Gefüge von Zusammenhängen, das wie ein reibungslos laufendes Räderwerk wirkt.
mehr erfahren

Mordfall

Im Konzertsaal des 2007 eingeweihten Kultur- und Forschungszentrums Alsion in Sønderborg/Sonderburg an der Flensburger Förde soll 2021 eine Generalprobe des dort heimischen Sinfonieorchesters Sønderjylland/Südjütland und des aus Flensburg angereisten Kammerchors „conticum novum“ stattfinden. Aber der Chorleiter Prof. Siegfried Sagebiehl und Lena Haber, die Erste Vorsitzende, warten ebenso wie alle anderen Sängerinnen und Sänger vergeblich auf die als Solistin vorgesehene Sopranistin Susanna von Hohenmarschen-Klamroth.

Zwei Wochen später wird die Leiche der 37-Jährigen angeschwemmt – mit durchschnittener Kehle. Jesper Bohn, der Polizeichef von Sonderburg, beauftragt den Politikommissær Arne Jacobsen mit den Ermittlungen, und weil es sich bei dem Opfer um eine Deutsche handelt, arbeiten die Dänen eng mit der Hauptkommissarin Helene Christ und dem Kommissar Nuri Önal von der Mordkommission in Flensburg zusammen.

Kira Lund

Michael de Jong, der Leiter eines Fernsehstudios in Flensburg, ruft die Reporterin Kira Lund an und drängt sie, ihren Urlaub vorzeitig abzubrechen, um mit ihrem bereits nach Sonderburg entsandten Kollegen Tim Scholler („Scholli“) in der Sendung „Unser Land am Abend“ über den Mordfall berichten zu können.

Kira Lund ist die Tochter eines dänischen Ehepaars, das ein halbes Jahr vor ihrer Geburt von Tønder/Tondern nach Husum gezogen war, wo Preben Lund dann als Pastor der dänischen Kirche wirkte – bis zu einem Autounfall vor fünf Jahren, den er zwar schwer verletzt überlebte, bei dem jedoch seine Frau und der 16-jährige Sohn Torben ums Leben kamen. Kira war damals 24 Jahre alt und studierte Journalistik in Hamburg. Ihr Vater lebt inzwischen in einem Seniorenheim in Husum.

Die zur dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein zählende Reporterin wohnt mit ihrem Lebensgefährten, dem Meteorologen Lukas, in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen in Nordfriesland. Das Paar unternimmt gerade einen Segeltörn auf der Ostsee. Den Bernhardiner-Labrador-Mischling Ditch haben die beiden in der Obhut  ihrer Nachbarn Asmus und Greta Ketelsen zurückgelassen, die ihren Bauernhof in der fünften Generation betreiben.

Die Gutsbesitzer-Familie

Susanna kam 1984 als einziges Kind von Jan-Karl von Hohenmarschen (1938 – 2000) und seiner Ehefrau Lieselotte, geborene von der Tann (1947 – 2005), zur Welt. Seit dem Tod ihrer Mutter ist sie die Alleineigentümerin des Guts Hohenmarschen auf Eiderstedt, das als Kulisse für das „Gut Nordfelde“ in der Soap „Das Erbe der Väter“ diente. Susanna sah sich gezwungen, ihr Gesangsstudium abzubrechen und eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren, um das Gut nach dem frühen Tod der Eltern übernehmen zu können. 2007 – kurz nach ihrer Hochzeit mit dem 12 Jahre älteren Hamburger Architekten Jens Klamroth – wurde die Betriebsgesellschaft Gut Hohenmarschen gegründet, und ihr Ehemann übernahm die Geschäftsleitung. Am 16. Oktober 2009 wurde ihr Sohn Nicolaus („Nick“) geboren, dessen Familienname nicht Klamroth, sondern von Hohenmarschen lautet.

Als die Leiche seiner Frau im Alsensund gefunden wird, vergnügt sich Jens Klamroth in seinem Ferienhaus in Elani auf Kassandra, dem westlichen der drei „Finger“ der Halbinsel Chalkidiki, mit der griechischen Schönheit Aspasia. Weil er offiziell auf einer Großbaustelle in Dubai zu tun hat, legt er seinen Rückflug von Thessaloniki nach Hamburg so, dass er fast gleichzeitig mit einer Maschine aus Dubai eintrifft.

Selbstmord

Helmut Tessmann, ein Sänger des Kammerchors „conticum novum“ Mitte 40, erhängt sich und hinterlässt ein paar Zeilen, aus denen hervorgeht, dass er Susanna von Hohenmarschen-Klamroth liebte.

Kira Lund erfährt von der Sopranistin Siri Vanstatt, dass Helmut Tessmann bis vor zwei Jahren eine Affäre mit der Sängerin Jana Hellmann hatte und sie dann wegen Susanna sitzen ließ, die aber vor einem halben Jahr Schluss mit ihm machte.

Aus einer früheren Ehe hatte Helmut Tessmann einen Sohn, der in den USA lebt. Im Hauptberuf arbeitete er als Ingenieur beim Bauamt.

Ermittlungergebnisse

Außerhalb von Sonderburg brennt eine Scheune nieder, in der das Wrack des Autos gefunden wird, mit dem Susanna von Hohenmarschen-Klamroth von ihrem Gut gekommen war. Auf einem Bootssteg in der Nähe stellt die Polizei Blutreste sicher, und die DNA-Analyse erhärtet den Verdacht, dass Susanna von Hohenmarschen-Klamroth vom Steg ins Wasser gestoßen wurde.

Als Kira Lund dort eintrifft, hat die Polizei das Areal bereits abgesperrt und Sichtblenden aufgestellt. Aber Mads Sievertsen, der in Aarhus Journalismus studiert und gerade ein Praktikum bei der Webausgabe der Zeitung Lynet absolviert, zeigt der Journalistin Fotos des Autowracks, die er noch machen konnte.

Die Aufdeckung einer Lüge

Tim Scholler findet heraus, dass die Betriebsgesellschaft Gut Hohenmarschen seltsame Geschäfte zu Lasten des Guts macht. In jüngster Vergangenheit wurden Grundschulden eingetragen, und das Geld floss offenbar Jens Klamroths Architekturbüro zu. Damit gründete er 2016 in Griechenland eine Filiale, die aber lediglich aus einem Haus in Elani besteht.

Als Tim Scholler Flugdaten überprüft, stellt sich heraus, dass das Flugzeug aus Dubai, mit dem Jens Klamroth angeblich zurückkam, wegen eines technischen Defekts ausfiel und die Ersatzmaschine erst Stunden später in Hamburg eintraf.

Die Polizei hat seine Alibis für die Tatzeit überprüft und nichts Auffälliges gefunden, aber Jens Klamroth könnte einen Mord in Auftrag gegeben haben.

Kira Lund teilt die von ihrem Kollegen herausgefundenen Neuigkeiten mit Helene Christ, die den Architekten daraufhin ins Polizeipräsidium bittet, um ihn mit ihrem Kollegen Nuri Önal gemeinsam zu befragen. Jens Klamroth kommt mit seinem Rechtsanwalt Dr. Stewens, dem es schwerfällt, seine Verärgerung zu verbergen, als die Polizei seinen Mandanten mit den Flugdaten konfrontiert und dieser zugeben muss, dass er nicht aus Dubai, sondern aus Thessaloniki kam.

Helene Christ und Nuri Önal überlassen ihn schließlich Kriminalrat Hagedorn, der den Architekten darüber aufklärt, dass die Staatsanwaltschaft wegen Wirtschaftsstraftaten gegen ihn ermittelt.

Ein Fluch?

Als Kira Lund sich zum ersten Mal auf dem Gut Hohenmarschen umsah, stieß sie auf die greise Haushälterin Line Lessing, die weinend darüber klagte, alles hier sei verflucht.

Beim zweiten Besuch lernt Kira Lund den zwölfjährigen Nicolaus („Nick“) von Hohenmarschen kennen, der begeistert mit dem ebenso riesigen wie gutmütigen Hund Ditch spielt. Seine Tante Sylvia – die Schwester seines Vaters – passe auf ihn auf, erzählt er, bis er wieder ins Internat zurückkehre. Line sei inzwischen nach Husum in ein Krankenhaus gebracht worden. Wegen des Hundes fasst Nick Vertrauen zu der Fremden und zeigt ihr zwei Zettel, die ihm jemand im Abstand weniger Tage unter den Sattel seines abgestellten Fahrrads klemmte:

Deine Mutter war eine Verbrecherin.
Deshalb musste sie sterben.

Du bist der Sohn einer Verbrecherin.
Was du erbst, gehört dir nicht.

Es fällt Kira Lund nicht schwer, Line Lessing in einem Geriatriezentrum bzw. einer Fachklinik für Demenz in Husum aufzuspüren. Die geistig verwirrte alte Frau deutet an, dass Susanna im Alter von 16 Jahren ein Kind bekam, das ihr Vater Jan-Karl von Hohenmarschen am Tag nach der Geburt wegbrachte. Das sei ein Familiengeheimnisn, erklärt sie, aber sie habe alles aufgeschrieben, um es nicht zu vergessen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Vorgeschichte

Kira Lund wäre keine Journalistin, wenn sie nicht versuchen würde, an Line Lessings Aufzeichnungen zu kommen, um herauszufinden, was damals geschah und möglicherweise mit dem Mord zusammenhängt.

Sie telefoniert mit Nick. Der Junge weiß, wo der Schlüssel zu Lines Wohnung im ehemaligen Backhaus des Guts versteckt ist. Notfalls käme man auch durch die alte Waschküche hinein, meint er, als Kira Lund eintrifft. Tatsächlich findet sie nach längerem Suchen ein Tagebuch.

In diesem Augenblick taucht Mads Sievertsen auf. Aber er ist nicht als Praktikant gekommen, sondern weil er seinen Halbbruder Nick beschattete.

Mads Sievertsen wurde im November 2000 von Susanna auf dem Gut Hohenmarschen geboren und am Tag darauf von seinem Großvater zu einem 300 Kilometer entfernt in einem ehemaligen Forsthaus wohnenden Paar gebracht. Während der Rückfahrt erlitt Jan-Karl von Hohenmarschen im Auto einen Herzinfarkt und starb.

Bald darauf verschwand die Pflegemutter, und der hilflose Junge blieb mit einem alkoholkranken Sadisten zurück, der ihn immer wieder grausam verprügelte – bis jemand im Jahr 2006 Anzeige erstattete. Der misshandelte und verwahrloste Junge, dessen Identität nicht aufgeklärt werden konnte, kam nach einem Krankenhausaufenthalt in ein Kinderheim und wurde dann von Amelie und Hans Sievertsen in Kopenhagen adoptiert. Der Sadist kam nach acht Jahren Haft wieder frei.

Im Januar 2019, nach dem Abitur, überfiel Mads Sievertsen seinen Peiniger, fesselte ihn, schlug ihn tot und zündete das ehemalige Forsthaus an, nachdem er eine volle Gasflasche neben den Ofen gestellt hatte.

Danach fing er an, seine leibliche Mutter zu observieren. Als sie zu der geplanten Generalprobe nach Sonderburg fuhr, lockte er sie mit einer SMS („dein erster Sohn“) in eine Scheune und schnitt ihr die Kehle durch.

Das Ende

Mit immer neuen Fragen hat Kira Lund den mit einer Pistole bewaffneten Mörder zum Reden gebracht und Zeit gewonnen.

In der Tür zur ehemaligen Waschküche taucht Jens Klamroth mit einem Jagdgewehr auf und verlangt von dem Mann, der seinen Sohn und die Reporterin bedroht, dass er die Waffe fallen lässt. Stattdessen dreht sich Mads Sievertsen um und zielt nun auf Jens Klamroth ‒ bis eine Schrotladung seinen Kopf zerfetzt.

Später erfährt Kira Lund, dass Jens Klamroth auf der Suche nach seinem Sohn Licht in der leer stehenden Wohnung der Haushälterin bemerkte, kurz durchs Fenster blickte und daraufhin sein Jagdgewehr holte.

Nick wird nach dem Schock in einer Hamburger Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie betreut.

Kira Lund sucht Hilfe bei der Psychotherapeutin Rana Salinger. In dem Augenblick, in dem sie beobachtete, dass Mads Sievertsen die Pistole auf Jens Klamroth richtet, begriff sie, dass er sterben wollte, weil er seinen Rachefeldzug vollendet hatte.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Mit „Haie unter dem Eis“ begann H. Dieter Neumann 2021 eine Romanreihe über die zur dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein zählende TV-Journalistin Kira Lund und die Flensburger Hauptkommissarin Helene Christ. „Kira Lunds zweite Reportage“ steht denn auch im Untertitel des Kriminalromans „Todeslied“ (2022). Ein dritter Band mit dem Titel „Stumme Gräber“ ist für 2024 geplant.

„Todeslied“ spielt im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Dass H. Dieter Neumann viel vom Segeln versteht, wird bei seiner konkreten Darstellung deutlich. So wird „Todeslied“ zum Küstenkrimi. Das gibt dem Buch schon eine Sonderstellung. Aber es hebt sich außerdem durch das Gespann der beiden Hauptfiguren vom Mainstream ab: In „Todeslied“ ermittelt zwar eine Kommissarin, aber sie erhält entscheidende Hinweise von der seriösen Reporterin Kira Lund, die mit ihrem Kollegen Tim Scholler ebenfalls versucht, den Mordfall aufzuklären und dabei vom Vertrauensverhältnis mit Helen Christ profitiert.

H. Dieter Neumann entwickelt die Geschichte flott und stringent, farbig, lebendig und anschaulich. Dabei greift er nur selten zu drastischen Bildern, denn es kommt ihm nicht auf Effekthascherei an, sondern auf eine präzise Entwicklung der Handlung. „Todeslied. Kira Lunds zweite Reportage“ ist ein spannender Whodunit-Krimi mit einem gut durchdachten Aufbau und einem Gefüge von Zusammenhängen, das wie ein reibungslos laufendes Räderwerk wirkt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Piper Verlag

H. Dieter Neumann: Mord an der Förde
H. Dieter Neumann: Drakon. Tod unter Segeln

Hansjörg Schneider - Hunkeler und die Augen des Ödipus
In dem Regionalroman "Hunkeler und die Augen des Ödipus" erzählt Hansjörg Schneider zwar bedächtig und unaufdringlich von der Aufklärung eines Verbrechens, aber v. a. vom Alltag eines gelassenen älteren Mannes.
Hunkeler und die Augen des Ödipus