Kathy Page : Alphabet

Alphabet
Alphabet Weidenfeld & Nicolson, London 2004 Alphabet Biblioasis, Windsor/Ontario 2014 Alphabet Übersetzung: Beatrice Faßbender Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021 ISBN 978 3 8031 3337 3, 320 Seiten ISBN 978 3 8031 4315 0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Simon Austen wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Erst im Gefängnis lernt er lesen und schreiben. Briefe, Bücher und Bildung werden für ihn wichtig. Viel länger dauert es, bis er in der Lage ist, auch seine eigene Entwicklung in den Erkenntnisprozess mit einzubeziehen.
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Kritik

"Alphabet" ist vor allem eine differenzierte psychologische Studie über einen zu lebenslanger Haft verurteilten Mörder. Dabei versetzt sich Kathy Page in den Protagonisten und stellt ihn vielschichtig und widersprüchlich dar.
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Simon Austen

Simon Austen wurde vor mehr als acht Jahren wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Im Alter von vier Jahren wurde er von seiner Mutter Sharon verlassen. Sie ließ das Kind in einem Park zurück, und einige Zeit später nahm sie sich das Leben. Er wuchs dann bei Pflegeeltern auf: Iris und John Kingswell.

Im Gefängnis hat Simon lesen und schreiben gelernt. Er holte den mittleren Schulabschluss nach und belegte einen Kurs in Maschineschreiben. Aber dann verlegte man ihn in eine Haftanstalt in London, in der ihm keine weiteren Bildungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Simon ist jetzt − 1988 − 29 Jahre alt.

Brieffreundschaften

Ohne Erlaubnis fängt er eine Brieffreundschaft an, wobei die Freundin eines Mithäftlings Kurierdienste leistet. Simon gibt sich gegenüber der Witwe Vivienne Anne Whilden als 47-jähriger Künstler mit Namen Joseph Manderville aus. Ihr Mann Hal Brodrick starb vor drei Jahren nach 27 Jahren Ehe. Kennengelernt hatte sie ihn als Studentin an der Kunstschule, an der er lehrte.

Als Vivienne ahnungslos eine gemeinsame Kunstreise nach Barcelona vorschlägt, täuscht Simon alias Joseph Manderville vor, er sei erkrankt. Kurz darauf beendet Vivienne die Brieffreundschaft.

Die nächste Brieffreundschaft beginnt Simon ganz offen. Das heißt, er klebt seine Briefkuverts vor dem Abschicken nicht zu, damit die Gefängnisleitung ihre stichprobenartigen Kontrollen durchführen kann, und er verheimlicht Tasmin Rolls-Hamilton auch nicht, dass er eine Haftstrafe wegen Mordes verbüßt. Sie schreibt, sie sei 17 Jahre alt und studiere in London. Als sie erfährt, dass er gern eine Schreibmaschine hätte, schickt sie ihm eine.

Die Tat

Weil Tasmins mehrmals nach Einzelheiten seiner Tat fragt, tippt er Ende 1988 einen langen Brief, in dem er berichtet, wie er zum Mörder wurde.

Damals arbeitete er als Teppichleger. Als er einen Auftrag in einem Sportcenter in London zu erledigen hatte, lernte er Amanda („Mandy“) Brooks kennen, die dort beschäftigt war. Am 2. September 1979 begleitete ihn die 20-Jährige nach dem Essen in einem chinesischen Restaurant in seine Einzimmer-Wohnung im Stadtteil New Cross. Dort folgte sie seinem Wunsch und zog ihr Oberteil aus.

„Willst du gar nichts machen?“, hat sie mich anfangs gefragt, während sie ihre Titten so hielt, wie ich es ihr sagte.
„Das ist meine Art, es zu machen“, sagte ich.

Dann lief alles schief. Statt sich vor ihm schrittweise weiter zu entkleiden, kam sie völlig nackt aus dem Bad und trug statt ihrer Brille Kontaktlinsen. Dass sie eigenmächtig handelte, statt auf seine Anweisungen zu warten, machte ihn rasend. Er warf sie zu Boden und erwürgte sie.

Weil der Brief zu dick ist, schickt ihn die Gefängnisleitung zurück. Am selben Tag wird er zum Gefängnisdirektor R. F. Grange geführt. Der hat gerade ein Schreiben von Tasmins Vater erhalten.

„Einer der Insassen Ihrer Einrichtung, Simon Austen, hat mit ­meiner Tochter korrespondiert. Sie ist vierzehn Jahre alt und in einer verletzlichen, verzweifelten und möglicherweise manisch-­depressiven Verfassung. Zurzeit befindet sie sich unter ärztlicher Aufsicht. Ich bin nicht gewillt, weitere Briefe folgen zu lassen, und schreibe Ihnen mit der Forderung, dass Mr Austen diese Korrespondenz unverzüglich beendet.“

Als Simon dann zu der neuen Betreuerin Bernadette („Bernie“) Nightingale gebracht wird und sie ihn auffordert, von seinem Verbrechen zu berichten, übergibt er ihr den von der Gefängnisleitung nicht weitergeleiteten Brief.

Er verspürt ein ungeheures Gefühl der Erleichterung, als sie ihm den Brief abnimmt.

Nachdem sie ihn gelesen hat, spricht sie mit ihm darüber.

„Ganz anders als Ihre Aussage von damals“, sie deutet auf die Akte, „aber es fühlt sich wahr an“, sagt sie.
„Das ist es auch“, sagt er. „Mein Anwalt hat auf Eifersucht gesetzt. Von Anfang an meinte er, die Leute würden eher verstehen, dass ich ausgerastet und auf sie los bin, weil sie mich verarscht hat …“

Wentham

Bernadette Nightingale erreicht, dass Simon 1989 in das Therapie-Programm des Forschungsbereichs der Wentham Sondereinrichtung für Gewaltstraftäter aufgenommen wird.

Trotz des Verbots schreibt Tasmin ihm einen Brief. Die 15-Jährige ist von einem One-Night-Stand in Mexiko schwanger. Die Eltern sind inzwischen geschieden, und sie lebt bei ihrer Tante Jay in York. Statt ihr schriftlich zu antworten, ruft Simon sie an und rät ihr zu einer Abtreibung, aber sie möchte das Kind austragen, obwohl sie nicht weiß, wie sie es ernähren und erziehen soll.

Simon sorgt sich um das junge Mädchen, das nun vorhat, ihn zu besuchen. Um ihn nicht länger dieser Belastung auszusetzen, fährt sein Betreuer Alan Wishart nach York, um mit Tasmin und ihrer Tante zu reden.

„Simons Leben ist ohnehin kompliziert genug“, sagt er zu ihr. „Er macht eine Intensivtherapie. Er muss sich immer wieder mit der Vergangenheit beschäftigen, seine Motive ständig in allen Einzelheiten hinterfragen und versuchen, neue Verhaltensmuster zu etablieren.“

Victor / Charlotte

Dr. Max Mackenzie, der Leiter des Forschungsbereichs der Wentham Sondereinrichtung für Gewaltstraftäter, setzt gegen die Meinung der Betreuer durch, dass Simon bereits nach einem Jahr vorzeitig wieder ins Londoner Gefängnis zurückgebracht wird.

Dort bewirbt sich Simon erfolgreich für ein von einer Stiftung finanziertes Fernstudium. Aber bevor das Startpaket eintrifft, zieht er den Zorn des Mithäftlings Malcolm Teverson auf sich. Eine Gruppe schlägt ihn zusammen und flößt ihm gewaltsam Bleichmittel ein.

Im Krankenbereich lernt Simon den fünf Jahre jüngeren Mithäftling Victor („Vic“) Adams kennen. Der hat bei seinem Arbeitgeber Geld unterschlagen, um die angestrebte Geschlechtsumwandlung bezahlen zu können. Er kämpft für eine Verlegung in ein Frauengefängnis. Auch nach Victors Entlassung bleiben sie in Kontakt.

Eine Operation lässt aus Victor endgültig Charlotte werden. Des Öfteren fährt sie von Brighton, wo sie jetzt lebt, nach London, um Simon im Gefängnis zu besuchen.

Nach dem Grundstudium spezialisiert Simon sich auf Sozialwissenschaften.

Als er zusätzlich zu den neun Monaten in Untersuchungshaft zwölfeinhalb Jahre seiner Haftstrafe verbüßt hat, trifft ein Brief von Amandas Mutter Hazel Brooks ein, deren Ehemann Tom vor kurzem starb. 13 Jahre und drei Monate nach Amandas Tod möchte sie mit dem inzwischen 34 Jahre alten Mörder ihrer Tochter sprechen.

Was er getan hat, wird sich nie in Luft auflösen. Für ihn gibt es keine Scheiß-OP, klar?

Irgendwann wird er entlassen, aber wirklich frei wird er nie sein.

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Mitte der Neunzigerjahre sammelte Kathy Page als Writer in Residence in Her Majesty’s Prison Nottingham ein Jahr lang Erfahrungen in einem britischen Männergefängnis. Sie kennt also die Verhältnisse im Strafvollzug, und das kommt ihrem Roman „Alphabet“ zugute.

Ohne anzuprangern, kritisiert Kathy Page, wie das System mit Häftlingen umgeht. „Alphabet“ ist aber nicht nur Gesellschaftskritik, sondern vor allem eine differenzierte psychologische Studie über einen zu lebenslanger Haft verurteilten Mörder. Der lernt erst im Gefängnis lesen und schreiben. Briefe, Bücher und Bildung werden für ihn wichtig. Viel länger dauert es, bis er in der Lage ist, auch seine eigene Entwicklung in den Erkenntnisprozess mit einzubeziehen. Dabei geht es nicht zuletzt um die grundsätzliche Frage, ob ein Mensch sich verändern könne oder nicht.

Ein Mörder eignet sich gewöhnlich nicht als Identifikationsfigur. Beim Protagonisten des Romans „Alphabet“ ist es anders, denn Kathy Page stellt ihn nicht einseitig, sondern vielschichtig und widersprüchlich dar (Shadowing). Obwohl sie in der dritten Person Singular schreibt, versetzt sie sich in Simon Austen hinein und schildert das ohnehin vorwiegend innere Geschehen mit wenigen Ausnahmen aus seiner subjektiven Perspektive. Weil sein Denken und Fühlen nachvollziehbar ist und es auch sympathische Charakterzüge gibt, leiden wir beim Lesen mit ihm.

Viel Action gibt es in „Alphabet“ nicht. Der vielleicht etwas zu lange Roman ist denn auch weniger mitreißend als bewegend und zum Nachdenken anregend.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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Jessica Au sorgt dafür, dass die Figuren in "Kalt genug für Schnee" schemenhaft bleiben. Sie inszeniert nicht und verzichtet auf sprachliche Eleganz. Trotzdem spürt man beim Lesen etwas poetisch Schwebendes. Dass es keine wörtlich wiedergegebene Dialoge gibt, würde Sinn machen, wenn es die Mutter nur in der Vorstellung der Ich-Erzählerin gäbe. Ist der gesamte Text ein Monolog?
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