Annette Pehnt : Die schmutzige Frau

Die schmutzige Frau
Die schmutzige Frau Originalausgabe Piper Verlag, München 2023 ISBN 978-3-492-07107-9, 165 Seiten ISBN 978-3-492-60417-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Frau, deren Kinder erwachsen sind, wünscht sich ein eigenes Apartment, um ungestört schreiben zu können, und ihr wohlhabender Ehemann arrangiert das für sie. Er versorgt sie dort auch mit allem, was sie benötigt. Aber die ersehnte Freiheit kippt in Abhängigkeit um, und obwohl die Frau die Türe jederzeit öffnen könnte, wird die Wohnung zum Gefängnis für sie.
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Kritik

Der Versroman "Die schmutzige Frau" von Annette Pehnt kann als psychologische Studie gelesen werden. Die Protagonistin verfasst sieben Geschichten über eine "schmutzige Frau". Die letzte davon schließt die eigentliche Handlung ab. Da vereinigen sich also die Realitätsebene und die Fiktion in der Fiktion, die Ich-Erzählerin und die "schmutzige Frau".
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Die Situation

Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, wohnt seit längerer Zeit (sie hat bereits alle Jahreszeiten dort erlebt) allein in einem Apartment in der siebten Etage eines Hauses, die der wohlhabende Ehemann für sie aussuchte. Sie hat weder Telefon noch Internet, um ungestört schreiben zu können. Ebenso unangemeldet wie unregelmäßig besucht sie ihr Mann und versorgt sie dabei auch mit allem, was sie benötigt. Sie schlafen miteinander, aber über Nacht bleibt er nie.

Früher fragte sie ihn, wann sie die Wohnung verlassen und in das große Haus zurückkehren könne, aber sie erhielt jedes Mal die gleiche Antwort. Er wies sie darauf hin, dass niemand sie hier gefangen halte. Tatsächlich ist die Tür nicht abgeschlossen. Sie habe doch schon immer schreiben wollen und sich einen Rückzug-Raum gewünscht, meint er.

Es gefällt ihm, dass ich eine künstlerische Neigung habe
Nun habe ich einen Ort ganz für mich, an dem ich mich entfalten kann

[…] ich vertraue seinen Entscheidungen, er wusste immer, was gut für uns ist, und so wird es auch dieses Mal gewesen sein

Du wolltest doch allein leben und schreiben, sagt er, es war deine Entscheidung
Wir können alles sofort ändern, das weißt du, niemand hält dich hier oben gefangen
Du kannst jederzeit zu mir zurückkommen
Du hast es genau so gewollt
Das stimmt nicht, wende ich ein
Ich wollte gehen, aber nicht eine Wohnung, die er mit gekauft hat, in ein Bett, das er mir aufgebaut, an einen Schreibtisch, den er mir hergerichtet hat

Du machst mir Angst, sage ich schnell, und das weiß du
Er winkt ab, über solche Dinge reden wir nicht
Wir sind jetzt der Grenze des Erlaubten gefährlich nahe
Er macht eine wegwerfende Handbewegung […]
Und weil du mir Angst machst, bin ich hier
Er starrt mich an

Sie haben eine Tochter, M, und einen Sohn, O. Aber die Frau hat keinen Kontakt zu ihnen und weiß auch gar nicht, wo sie leben.

Ich wartete, bis ich kleiner war als sie und ein wenig den Kopf in den Nacken legen musste, um mit ihnen zu reden
Damals fing es an, dass ich mich jünger zu fühlen begann als sie, und die Kinder nahmen es bereitwillig hin
Wenn sie mir nun etwas erklärten, ein technisches Gerät oder eine Reiseroute oder eine Computerfunktion, schlich sich ein geduldiger Ton in ihre freundlichen Anweisungen
Meinmann nahm diesen Ton auf, sodass mir nun die ganze Familie stetig Zuspruch gab und Unterweisungen erteilte
Ihr habt mich überholt, sagte ich zu M

Eindringlinge

Überraschend bringt ihr Mann bei einem seiner Besuche eine Frau K mit, die nur wenig älter als die Tochter M ist. Die Ich-Erzählerin tut von sich aus so, als halte sie sich in einer Ferienwohnung auf, und K kann sich vorstellen, diese für Gäste ihres Instituts zu mieten.

Bald darauf kommt der Ehemann mit mehreren Gästen, und das wiederholt er, obwohl sich seine Frau durch die „Eindringlinge“ gestört fühlt, denen er sie stolz als Kunstschaffende präsentiert.

Die Wende

Wasser tropft von der Zimmerdecke, aber die Bewohnerin hat kein Telefon und kann deshalb weder ihren Mann noch einen Klempner anrufen. Als ihr Ehemann einige Tage später die Tür öffnet, steht Wasser auf dem Parkett und auch die Möbel sind nass.

Nach einem Moment der Irritation meint er selbstsicher, er werde den Wasserschaden mit Hilfe von Handwerkern beheben. Er geht, und sie vermutet, dass er erst einmal in der Etage darüber nachschaut.

Die Ich-Erzählerin schiebt die Geschichten, die sie im Apartment über „die schmutzige Frau“ geschrieben hat, in eine Klarsichthülle und verlässt damit die Wohnung und das Haus.

Obwohl es spät abends ist, geht sie zu ihrem früheren Bekannten G. Sie spürt, dass sie den eigenbrötlerischen Handschriftenforscher stört, aber zurück kann sie auch nicht, denn sie hat keinen Schlüssel für das Apartment. Sie übernachtet im Gästezimmer.

Und schreibt eine siebte Geschichte über „die schmutzige Frau“. Da heißt es:

Zur Not kann ich herausfinden, wo die Kinder leben
Allzu weit weg wird es schon nicht sein
Vielleicht wohnen sie sogar in dieser Stadt […]
Vielleicht haben sie sogar schon Kinder

Sie endet mit den Worten:

Fröstelnd stehe ich in einer gemauerten Gasse, niemand kennt mich, nichts wartet auf mich
Und ich brauche einen Kaffee

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Eine Frau, deren Kinder erwachsen sind, wünscht sich ein eigenes Apartment, um ungestört schreiben zu können, und ihr wohlhabender Ehemann arrangiert das für sie. Er versorgt sie dort auch mit allem, was sie benötigt. Aber die ersehnte Freiheit kippt in Abhängigkeit um, und obwohl die Frau die Türe jederzeit öffnen könnte, wird die Wohnung zum Gefängnis für sie. Warum sie sich darauf eingelassen hat, erfahren wir nicht so genau, auch wenn zu erkennen ist, dass die Ehe der unsicheren Frau mit dem dominanten, alles kontrollierenden Mann toxisch ist.

Der Roman „Die schmutzige Frau“ von Annette Pehnt kann als psychologische Studie gelesen werden. Er dreht sich um Unterdrückung und Unterordnung, Tatkraft und Passivität, Isolation und Einsamkeit, Mangel an Selbstvertrauen und fehlenden Halt, aber auch um Emanzipation.

Annette Pehnt schlüpft in die Rolle einer Ich-Erzählerin und hält deren Perspektive konsequent bei.

Bemerkenswert ist die Ambivalenz der Wahrnehmung, die bereits in den ersten Zeilen des Romans „Die schmutzige Frau“ irritiert:

Meinmann: kaum verändert
An manchen Tagen kaum noch derselbe Mensch
Während ich ihn früher groß gewachsen fand, scheint er mir heutzutage eher klein

Die namenlose Protagonistin schreibt sieben „Geschichten“ über eine „schmutzige Frau“, die kursiv in den Text eingefügt sind und zunächst unabhängig zu sein scheinen. Aber das täuscht: Die letzte der Geschichten setzt die eigentliche Handlung fort und schließt sie ab. Da vereinigen sich also die Realitätsebene und die Fiktion in der Fiktion, die Ich-Erzählerin und die „schmutzige Frau“.

Während sechs der eingefügten „Geschichten“ in Prosa und in der dritten Person Singular verfasst sind, hat Annette Pehnt für den kammerspielartigen Hauptteil von „Die schmutzige Frau“ die Form des Versromans gewählt, in dem sie die Satzenden durch Zeilenumbrüche statt Schlusspunkte markiert. Und wenn sie in der siebten und letzten Geschichte an die Haupthandlung anknüpft, wechselt sie auch beim kursiv gedruckten Text zur Versform. Diese Gestaltung zegt Annette Pehnts schriftstellerisches Können.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Piper Verlag

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