Birgit Rabisch : Unter Markenmenschen

Unter Markenmenschen
Unter Markenmenschen Originalausgabe Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2002 Überarbeitete Neuausgabe Verlag duotincta, Berlin 2020 ISBN 978-3-946086-52-9, 142 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Wer es sich leisten kann, zeugt Kinder nicht wild, sondern lässt sie aus kryokonservierten Eizellen in Retorten entwickeln, denn in der hier beschriebenen Gesellschaft werden nur schöne, gesunde und genetisch optimierte Markenmenschen akzeptiert, No Names dagegen verachtet und ausgegrenzt.
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Kritik

In ihrer Dystopie "Unter Markenmenschen" warnt Birgit Rabisch vor einer Gesellschaft, in der es nur auf Äußerlichkeiten ankommt und Andersartigkeit nicht als Bereicherung wahrgenommen wird. Die Autorin entwickelt die berührende Geschichte aus der Sicht einer 17-jährigen Tagebuch-Schreiberin.
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Simone und Benjamin

Simone wohnt mit ihrem 18 Jahre älteren Halbbruder Benjamin in einem Villenviertel. Ihre Mutter Alina starb an Kindbettfieber, und als Simone sechs Jahre alt war, folgte auch Tante Isabelle, die sie bis dahin umsorgt hatte, der jüngeren Schwester ins Grab. Seither versucht Benjamin, ihr die fehlenden Eltern zu ersetzen. Simone ist mittlerweile 17 Jahre alt.

Benjamin schenkt ihr ein Tagebuch und einen Füller, alte Sachen, die er in einem Antiquariat entdeckte. Kaum noch jemand schreibt mit der Hand. Wozu hat jeder ein Allphone und eine Medienstation? Simone beginnt jedoch am 7. Februar des Jahres X ihr Tagebuch. In den Aufzeichnungen schildert sie Erlebnisse und reflektiert darüber.

Eine wilde Geburt

Zur Zeit ihrer Großeltern diente die genetische Kontrolle mit der Genschere CRISPR noch zur Ausmerzung erblicher Krankheiten. Inzwischen geht es längst um Standardisierung, Ästhetisierung und Optimierung. Jedes Ehepaar, das es sich leisten kann, erfüllt sich den Kinderwunsch mit einem Markengenom aus der Retorte. So auch Benjamins Eltern. Er ist ein Produkt der Marke Dike.

Sein Vater starb als Passagier bei der Explosion einer Luna Touristik IV-Rakete.

Als Benjamin 18 Jahre alt war, nahm die Mutter Alina, eine weltweit anerkannte Bio-Ingenieurin, einen Forschungsauftrag des Jennifer Doudna-Instituts in Bangalore an. Ihre ältere Schwester Isabelle besuchte sie in Indien – und brachte dann ein Neugeborenes mit zurück: Benjamins Halbschwester Simone. Vom Vater weiß man lediglich, dass es sich um einen Inder handelte. Simone kann nicht verstehen, warum ihre Mutter sie wild empfangen und wie von der Natur geschaffen ausgetragen hat, obwohl sie sich ein zweites Markenkind hätte leisten können. Simone leidet darunter, kein Markenprodukt zu sein, denn in der Schule und auch sonst überall gelten No Names als hässlich und minderwertig. Sie leben gewöhnlich in schäbigen Stadtvierteln, Gettos, die vom organisierten Verbrechen kontrolliert werden. Simone hat da noch Glück, denn sie teilt sich mit Benjamin die von der Mutter hinterlassene Villa in einer vornehmen Gegend.

Der Doktorand

Benjamin forscht und lehrt als Professor für die Geschichte des 20. Jahrhunderts an der nach dem australischen Philosophen Peter Singer benannten Universität. Am 7. März lädt er einen Doktoranden namens Jean-Paul zum Mittagessen ein, der über den Wechsel von Integration und Inklusion zu Ausgrenzung am Ende des 20. Jahrhunderts promoviert.

Jean-Paul ist ein Klon des berühmten Sängers Albert Nannère. Der Weltstar konnte es sich leisten, eine Kopie seiner selbst in Auftrag zu geben und zwang dem Klon schon als Kind Gesangsunterricht auf. Aber Jean-Paul musste mehrmals wegen einer Kehlkopfentzündung aussetzen, die schließlich chronisch wurde, und so erfüllte er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht.

Die meisten Markenmenschen verachten ihn beinahe so wie einen No-Name-Menschen, denn Klone gelten als bloße Reproduktionen veralteter, suboptimaler Modelle.

Benjamin und Jean-Paul freunden sich an, und der Doktorand kommt häufiger zu Besuch in die Villa. Simone kann es kaum glauben, dass sich ein Mann für sie interessiert, aber der zwölf Jahre ältere Freund ihres Halbbruders lädt sie am 25. März zu einem Theaterbesuch ein, und am 10. April schwärmt Simone in ihrem Tagebuch von einem ersten Kuss.

Versäumnis

Simone ist zwar kein Markenmensch, aber Benjamin hätte ihr nach der Menarche den in gehobenen Kreisen üblichen Eingriff bezahlt: Geschlechtsreifen Mädchen werden Eizellen entnommen, bevor man sie sterilisiert und das Hymen entfernt. Jahre später können aus den kryokonservierten Eizellen Retortenbabys mit Markengenom erzeugt werden. Simone hielt es bisher nicht für nötig, sich der Prozedur zu unterziehen, weil sie nicht glaubte, als No Name jemals einen Mann zu finden, aber am 12. April meldet sie sich dafür an und erhält einen Termin in fünf Wochen.

Simone glaubt, Jean-Paul noch so lange hinhalten und auch ihr eigenes Begehren kontrollieren zu können. Aber fünf Tage später lässt sie sich von ihm deflorieren. Dass ihr am Morgen danach schwindlig ist, erklärt er arglos mit einem enthemmenden Mittel, das er ihr heimlich in den Cocktail mischte. Erst jetzt erfährt er, dass seine Annahme, sie sei sterilisiert, falsch war.

Zerwürfnis

Während Simone und Jean-Paul im Liebesglück schwelgen, hat sich Benjamin verändert, und von dem freundschaftlichen Verhältnis des Professors zu seinem Doktoranden ist kaum etwas übrig geblieben.

Am 30. April kommt es zu einem Zerwürfnis der beiden Männer. Professor Konledinos, der zweite Prüfer, benotet Jean-Pauls Dissertation mit einer Fünf. Das war zu befürchten, weil Konledinos im Gegensatz zu Jean-Paul ein überzeugter Anhänger der Ausmerzung suboptimaler Genome ist. Aber der Doktorand rechnete bisher damit, von seinem Freund eine Eins zu bekommen, und in diesem Fall wäre nach den Statuten ein dritter Gutachter hinzugezogen worden. Benjamin benotet die Arbeit jedoch nur mit einer Zwei – und damit ist Jean-Pauls Promotion gescheitert.

Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich bei der Universität Prag für eine Assistentenstelle mit Promotionsmöglichkeit zu bewerben.

Noch ein Zerwürfnis

Vor einiger Zeit schenkte Benjamin seiner Halbschwester einen Wandspiegel und ließ ihn von Handwerkern einbauen. Schon bevor sie Jean-Paul kennenlernte, betrachtete sie darin manchmal ihren nackten Körper. Am 10. Mai führt Jean-Paul sie nackt vor den Spiegel und liebkost sie. Unvermittelt ist ein Stöhnen zu hören, und zwar aus Richtung des Spiegels. Jean-Paul rennt los, und bevor Simone noch die Zusammenhänge begreift, hört sie, wie Jean-Paul ihren Halbbruder in dessen Arbeitszimmer nebenan zusammenschlägt.

Der Voyeur hat sie die ganze Zeit durch den Einwegspiegel beobachtet!

Jean-Paul besteht darauf, dass Simone die Villa verlässt und noch in derselben Nacht zu ihm zieht.

Benjamin nimmt ein Forschungsstipendium der Humboldt-Universität in Berlin an, reist ab und bittet seine Halbschwester in einer Nachricht um Verzeihung.

Dilemma

Als Simone sich am 15. Mai zur Sterilisation meldet, erfährt sie nach der Voruntersuchung, dass sie schwanger ist. Die Ärztin will die Abtreibung gleich mit der Sterilisation zusammen vornehmen, aber Simone zögert und bittet sich eine Woche Bedenkzeit aus.

Für Jean-Paul ist alles klar: Es wäre unverantwortlich, ein No Name-Kind auszutragen, nicht nur wegen gesundheitlicher Risiken, sondern vor allem weil dieses Kind nur am Rand der Gesellschaft aufwachsen könnte und mit der Verachtung zurechtkommen müsste.

Das weiß Simone auch aus eigener leidvoller Erfahrung. Sie fühlt sich hin und her gerissen. Am Morgen des 22. Mai hat sie sich entschieden:

Ich spüre diese Kraft noch immer in mir.
Ich möchte sie weitergeben.

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In ihrer Dystopie „Unter Markenmenschen“ warnt Birgit Rabisch vor einer denkbaren Entwicklung.

Die Handlung spielt in einer Gesellschaft der Zukunft, in der es auf Äußerlichkeiten ankommt. Nur schöne, gesunde und genetisch optimierte Markenmenschen werden akzeptiert. Klone gelten als Reproduktionen von Auslaufmodellen, No Names werden verachtet, und durch einen Unfall verunstaltete Designer-Menschen sperrt man in entsprechende Horte, denn ihr Anblick ist unerträglich. Die im 20. Jahrhundert angestrebte Integration und Inklusion behinderter Menschen ist nur noch für Historiker ein Thema. Unvorstellbar, dass Abweichungen vom Normalen als Bereicherung wahrgenommen werden könnten („value the differences“).

In dieser Gesellschaft werden Kinder nicht wild gezeugt, sondern von Designern aus kryokonservierten Eizellen in Retorten entwickelt. Die Eizellen entnimmt man Töchtern von Markenfamilien nach der Menarche, bevor man die Mädchen sterilisiert und vom Hymen befreit.

Die weltweit anerkannte Bio-Ingenieurin Alina war nach der Geburt ihres Markensohnes Benjamin aus irgendeinem Grund nicht sterilisiert und brachte in Indien ihre Tochter Simone als No Name zur Welt, bevor sie im Kindbett starb. Obwohl Simone nicht wie andere No Names in einem schäbigen Stadtteil gettoisiert ist, sondern mit ihrem 18 Jahre älteren Halbbruder in einem Villenviertel wohnt, leidet sie unter ihrer Ausgrenzung und verabscheut sich selbst – bis sie wider Erwarten auf einen Mann trifft, der sie liebt. Am Ende des Romans steht die 17-Jährige ebenso wie ihre Mutter damals vor der Frage, ob sie ein wild empfangenes Kind abtreiben oder austragen soll.

Dieser jungen Frau überlässt Birgit Rabisch das Wort. Die Ich-Erzählerin Simone schildert in einem Tagebuch ihre Erlebnisse und reflektiert darüber. Die Perspektive der zwischen dem 7. Februar und dem 22. Mai eines Jahres vorgenommenen Eintragungen ist also konsequent subjektiv.

Birgit Rabisch berichtet auch darüber, wie ihr Science Fiction-Roman „Unter Markenmenschen“ entstand. 1992 veröffentlichte sie die Dystopie „Duplik Jonas 7“, die vier Jahre später unter dem Titel „Jonas 7: clone“ ins Französische übersetzt wurde – was der Autorin eine Einladung zum Festival International de Science-Fiction in Poitiers einbrachte. Für ihren Auftritt schrieb sie einen kurzen Text in Briefform: „Unter Markenmenschen“ / „Entre humains de marque“. Ein paar Jahre später forderte der französische Schriftsteller Jean-Marc Ligny sie auf, eine erotische Science-Fiction-Kurzgeschichte zu schreiben, die er dann in die 2000 veröffentlichte Anthologie „Comic erotica“ aufnahm. Aus dieser Kurzgeschichte „Spiegel, verkehrt“ / „Inversion, Jeu De Miroir“ und dem für das Festival 1996 verfassten Text entwickelte Birgit Rabisch schließlich den dystopen Roman „Unter Markenmenschen“, dessen Originalausgabe 2002 im Verlag S. Fischer erschien. Der Verlag duotincta brachte 2020 eine überarbeitete Neuausgabe heraus.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Verlag duotincta

Birgit Rabisch: Die Schwarze Rosa

Zeruya Shalev - Späte Familie
Der Gedankenfluss der Ich-Erzählerin Ella ergibt seitenlange, nur durch Kommata getrennte Satzketten. "Späte Familie" ist ein sprachgewaltiger, unpathetischer, feinfühliger und erschütternder Roman.
Späte Familie