Andreas Schäfer : Das Gartenzimmer

Das Gartenzimmer
Das Gartenzimmer Originalausgae DuMont Buchverlag, Köln 2020 ISBN 978-3-8321-8390-5, 347 Seiten ISBN 978-3-8321-7026-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Prof. Adam Rosen beauftragt 1908 den unerfahrenen Architekten Max Taubert, eine Villa für ihn und seine Frau zu entwerfen. Elsa Rosen wohnt nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1928 noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg in der Villa. 1995 erwirbt der Fabrikant Frieder Lekebusch die verfallene Villa Rosen als Wohnsitz für seine Familie und lässt sie renovieren. 2001 erfährt er, was 1943 im Gartenzimmer der Villa geschah ...
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Kritik

Die Villa Rosen − eine Immobilie − kontrastiert mit den Veränderungen der Lebensverhältnisse im Lauf der Jahrzehnte. Durchdacht ist auch der Gegensatz zwischen dem Haus, einem Unikat, und den Bewohnern: Frieder Lekebusch stellt in seinem pharmazeutischen Unternehmen Generika her und Hannah Lekebusch war früher Zahntechnikerin, schuf also Nachbildungen von natürlichen Zähnen.
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1908

Nachdem der Berliner Philosophieprofessor Adam Rosen ein Hanggrundstück am Rand des Grunewalds erworben hat, will er dort für sich und seine Frau ein Haus bauen lassen und sucht nach einem Architekten, der seine Meinung teilt, dass der Jugendstil eine Verirrung gewesen sei und schnörkellose Linien bevorzugt. Er lässt sich einen jungen Zeichner des Architekturbüros Bruno Wagner und Ernst Zimmerlein empfehlen. Max Taubert wurde 1888 in Blumenhagen bei Pasewalk geboren und absolvierte zunächst eine Tischlerlehre bei seinem Vater. Nach dessen Tod zog er nach Berlin und besuchte dort die Kunstgewerbeschule. Seine verwitwete Mutter lebt auf Darß.

Ende 1909 ziehen Elsa und Adam Rosen in das neue Haus. Aber erst nachdem ein Zeitungsartikel über das außergewöhnliche Bauwerk erschienen ist, gibt das Ehepaar am 29. April 1910 einen Empfang und lädt dazu auch Max Taubert ein.

Elsa Rosen kommt nicht über die Vorgänge beim Tod ihres Sohnes hinweg. Robert schwamm trotz eines Badeverbots im Wannsee – und ertrank. Sein Freund zog ihn aus dem Wasser. Vor den Augen der Mutter wurde Robert von zwei herbeigerittenen Polizisten zur Strafe für die Übertretung des Badeverbots geschlagen, obwohl er bereits tot war.

1914

Max Taubert betreibt seit vier Jahren ein eigenes Architekturbüro, aber trotz des Erfolgs mit der Villa Rosen erhält er kaum Aufträge. Er ist inzwischen verheiratet und hat mit seiner Ehefrau Lotta zwei Töchter: Josepha und Monika.

Elsa Rosen ärgert sich darüber, dass ihr Mann ein Dutzend Professorenkollegen eingeladen hat, in der Villa Rosen eine patriotische Erklärung zu verfassen, mit der sie dem Kaiser und den Streitkräften ihre volle Unterstützung versichern.

1924

Lotta Taubert trennt sich von ihrem untreuen Ehemann und zieht mit den Töchtern nach Garatshausen am Starnberger See, wo sie ein Haus gefunden hat. Den Lebensunterhalt will sie mit Mal- und Zeichenunterricht verdienen.

1928

Adam Rosen stirbt im Herbst 1928 nach schwerer Krankheit. Max Taubert verweigert ihm die letzte Ehre und antwortet auch nicht auf die Bitte der Witwe, ein Grabdenkmal für den Toten zu entwerfen. Er baut inzwischen Gebäude mit Flachdächern für Gewerkschaften und will mit der neoklassizistischen Villa Rosen nichts mehr zu tun haben. Aus Verärgerung darüber besticht Elsa Rosen einen Mitarbeiter des Baudezernats und lässt den Namen Max Taubert aus allen Dokumenten über die Villa Rosen entfernen.

1934

Nachdem Max Rosen zehn Jahre lang nichts von sich hören ließ, bittet er Elsa Rosen 1934 um eine Unterredung. Wegen seiner Arbeit für Gewerkschaften beabsichtigen die Nationalsozialisten, ihn aus der Reichskammer der bildenden Künste auszuschließen, was einem Berufsverbot gleichkäme. Elsa Rosen soll ihm erlauben, einen einflussreichen Mann des Regimes durchs Haus zu führen, damit er zeigen kann, dass er auch Giebeldächer mit Gauben gestalten kann.

Widerstrebend lässt sich Elsa Rosen darauf ein und beobachtet einige Tage später, wie zwei Limousinen vor dem Haus halten. Aus dem vorderen Auto steigen Sicherheitskräfte, aus dem hinteren Max Taubert und Alfred Rosenberg. Der führende Ideologe der NSDAP, der 1930 das Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ veröffentlichte, zeigt sich sehr beeindruckt von der Villa – und überrascht Elsa Rosen bald darauf mit einem zweiten Besuch, diesmal ohne den Architekten. Er hat es auf das Bauwerk abgesehen und droht mit Enteignung für den Fall, dass die Besitzerin nicht zum Verkauf bereit ist. Als Elsa Rosen ihn kniend anfleht, sie nicht aus dem Haus zu vertreiben, lenkt er ein und beschränkt seine Forderung auf das Gartenzimmer im Kellergeschoss, das wegen der Hanglage vom unteren Teil des Gartens betreten werden kann.

Von Max Taubert hält Alfred Rosenberg nichts. Der von den Nationalsozialisten verschmähte Architekten wandert nach Amerika aus. Später richtet er ein Architekturbüro in Boston ein. Dort stirbt er 1972.

1943

Ende 1934 wurde zwar im Gartenzimmer der Villa Rosen ein Büro oder Archiv eingerichtet, aber ab Sommer 1935 benutzte man es offenbar nur noch als Lager. 1943 ändert sich das. Der Unbekannte, der nun im Gartenzimmer tätig ist, wundert sich, als er Elsa Rosen und ihrer Haushaltshilfe Liese begegnet, denn er hielt die Villa für unbewohnt. Er rät ihnen, auf den Gauleiter zu hören, der Frauen und Kinder aufgefordert hat, Berlin zu verlassen.

Liese Grabow zog erst vor kurzem von ihrer Mietwohnung in die Villa Rosen. Sie umsorgt dort ihren Sohn Kurt, einen bei Charkow erblindeten und verstümmelten Minenentschärfer.

Die Innentür des Gartenzimmers bleibt zumeist abgeschlossen, aber der dort Arbeitende benutzt die Toilette im Untergeschoss. Die Frauen entdecken Kartons mit dem Aufdruck des 1927 in Berlin-Dahlem gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie. Im Vertrauen sagt der Fremde, geheime Laborräume seien von Bomben zerstört worden und er habe das Gartenzimmer als Ersatz zugewiesen bekommen. In Kürze schon werde er durch seine Forschungen die Überlegenheit der arischen Rasse wissenschaftlich nachweisen können.

Als Elsa Rosen wegen eines Fliegeralarms nach unten geht, um im Heizungskeller Schutz zu suchen, fällt der Strom aus. Im Dunkeln stürzt jemand aus der Tür zum Gartenzimmer und prallt mit ihr zusammen. Sie schleudert die Stablampe, die sie bei sich hat und schreit. Der Mann bricht zusammen. Liese Grabow kommt mit einer Lampe aus der Waschküche und sieht, dass der Mann am Kopf getroffen wurde und tot ist.

Liese stieß die Tür auf und richtete den Strahl der Lampe ins Innere. Die Regaleinbauten wurden ins Licht gerissen und tauchten ins Dunkel zurück, ganze Regalmeter schwarzer Aktenordner blitzten auf, dann, nicht weit von der Tür entfernt, ein schwerer hölzerner Schreibtisch mit einem Drehstuhl, die Sitzfläche mit grünem Leder bezogen. Das Licht flackerte über die vier Säulen am Ende des Raumes und kam linker Hand auf einer Liege zur Ruhe, wie eine Untersuchungsliege beim Arzt, mit Lederriemen an allen vier Seiten. Und fast gleichzeitig nahm Elsa den Geruch wahr, einen leichten, aber nicht zu leugnenden Geruch nach einer Chemikalie.
[…]
„Schauen Sie nicht hin“, sagte Liese mit der beschwichtigenden Stimme, mit der sie Kurt beruhigte, als fürchtete sie, dass der Lichtschein jeden Moment etwas Schreckliches, etwas ganz und gar Unvorstellbares aus der Dunkelheit reißen würde; Elsa überkam das Grauen. […] Ein Wandregal kam wieder in den Blick, und dann sah sie die großen Gläser, angefüllt mit einer trüben Flüssigkeit und gelblichen Kugeln.
„Was ist das? Was schwimmt in den Gläsern?“
„Nichts“, sagte Liese. „Gar nichts.“

Die Haushaltshilfe schickt Elsa Rosen in den Heizungskeller und zerrt den Toten ins Gartenzimmer.

Bald darauf wird das Gartenzimmer von einem Kommando leergeräumt. Auch die Leiche verschwindet. Niemand fragt, was passiert ist.

1945

Aus Lotta Tauberts Tagebuch geht später hervor, dass Elsa Rosen ihr am 29. September 1945 einen Brief schrieb, in dem sie ihr mitteilte, dass im Gartenzimmer Menschenexperimente stattfanden. Kinder vor allem von Sinti wurden mit Chloroform-Injektionen ins Herz ermordet. Im selben Brief schildert Elsa Rosen, wie sie den Forscher des Kaiser-Wilhelm-Instituts im Dunkeln erschlug.

2001

Elsa Rosen verkaufte die Villa 1946 einem Düsseldorfer Notar, und dessen Erben veräußerten sie dann der Stadt Berlin, worauf die Räume als Fotolabor der Freien Universität genutzt wurden. Erst in den Achtzigerjahren fand jemand heraus, dass das Gebäude von Max Taubert entworfen worden war. Daraufhin stellte man es zwar unter Denkmalschutz, aber niemand unternahm etwas gegen den Verfall. Die Villa Rosen stand zehn Jahre lang leer.

1995 erwerben Hannah und Frieder Lekebusch das Anwesen und lassen es renovieren. Das Ehepaar kam vor einiger Zeit aus Karlsruhe nach Berlin und wohnte dort zunächst in einem Altbau in Charlottenburg. Frieder Lekebusch kann die durch Auflagen des Denkmalschutzamtes enorm kostspielige Wiederherstellung finanzieren, denn der Pharmaunternehmer verdient mit Generika viel Geld. Gerade weil er seine Geschäfte gewissermaßen mit Kopien macht, will er jetzt als Belohnung für seinen Erfolg in einem Unikat wohnen.

Hannah Lekebusch, die in Karlsruhe als Zahntechnikerin arbeitete, bietet wöchentliche Hausführungen an und macht aus der Villa Rosen ein Kultobjekt.

Seit 1998 beschäftigt sie eine Haushaltshilfe namens Maria. Die kam 1991 mit ihrer Tochter Ana aus Brasilien. Hannah will den beiden helfen und der ebenso intelligenten wie ehrgeizigen Gymnasiastin Ana eine Praktikantenstelle bei der brasilianischen Botschaft vermitteln. Zu diesem Zweck lädt sie den Botschafter zu einem Empfang ein und bittet ihren 18-jährigen Sohn Luis, Ana als seine Freundin auszugeben, weil sie das Mädchen nicht als Tochter ihrer Putzfrau vorstellen mag.

Die von Hannah Lekebusch für den Empfang engagierte Sängerin Xenia Moor hält sich nicht an die Vereinbarung, Schumann-Lieder zu Klavierbegleitung vom Band vorzutragen, sondern überrascht die Auftraggeberin mit Liedern des ungarisch-französischen Komponisten György Kurtág, die keiner Begleitung bedürfen.

Bei dem Empfang erhält Luis Lekebusch von dem Journalisten Julius Sander den Brief, den Elsa Rosen am 29. September 1945 Lotta Taubert schrieb. Das Dokument aus dem Nachlass der Tochter Monika entdeckte der Journalist in einem Archiv in Boston. Als Luis dadurch von den Menschenexperimenten in der Villa Rosen erfährt, verstärkt sich sein Abscheu vor dem Haus, aber er unterrichtet nur seinen Vater über das Schriftstück.

Nach dem Empfang zieht Luis zu Ana in die winzige Mietwohnung ihrer Mutter.

2005

Luis und Ana haben inzwischen eine eigene Wohnung. Den Lebensunterhalt verdient Luis, indem er mit antiken Möbeln handelt und dabei ahnungslose Verkäufer skrupellos übervorteilt.

Das Ehepaar Lekebusch trennte sich bald nach dem Empfang. Während Hannah zurück nach Karlsruhe gezogen ist, wohnt Frieder nun mit der Sängerin Xenia in der Villa Rosen.

2010

Ana arbeitet inzwischen als Klinikärztin. Sie verlässt Luis, der sich im Grunde für nichts interessiert, weiter lustlos mit Möbeln handelt und Kokain schnupft.

2013

Eine Maklerin führt eine am Kauf interessierte Familie mit zwei Kindern durch die leerstehende Villa Rosen.

Denkmalgeschütztes Kleinod der Vormoderne. 280 Quadratmeter, 8 Zimmer. Baujahr 1909

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Andreas Schäfer entwickelt die Geschichte im Wechsel zwischen der Gegenwart (2001 – 2013) und der Vergangenheit (1908 – 1945). Auch in die einzelnen Kapitel fügt er Rückblenden in Form von Erinnerungen ein. Die Übergänge sind so elegant komponiert, dass die einzelnen Teile nahtlos ineinander übergehen. Überhaupt ist es vor allem die Gestaltung – die Architektur –, die „Das Gartenzimmer“ zu einem besonderen Leseerlebnis macht.

Die Villa Rosen mit dem Gartenzimmer − eine Immobilie − kontrastiert mit den Veränderungen der Lebensverhältnisse im Lauf der Jahrzehnte. Durchdacht ist auch der Gegensatz zwischen dem Haus, einem Unikat, und den Bewohnern: Frieder Lekebusch stellt in seinem pharmazeutischen Unternehmen Generika her und Hannah Lekebusch war früher Zahntechnikerin, schuf also Nachbildungen von natürlichen Zähnen.

Andreas Schäfer erzählt souverän in einer klaren, unaufdringlichen und eingängigen Sprache. Die Atmosphäre wirkt melancholisch.

Gerhard Matzig hat Parallelen zwischen der Romanfigur Max Taubert und Ludwig Mies van der Rohe (1886 – 1969) entdeckt: In „Das Gartenzimmer“ entwirft der 20-jährige Max Taubert für den Philosophieprofessor Adam Rosen (Initialen AR) eine neoklassizistische Villa am Grunewald. Ludwig Mies, wie er damals noch hieß, erhielt 1907 im Alter von 21 Jahren den Auftrag, für den Philosophen Alois Riehl (Initialen AR) ein Landhaus in Babelsberg zu bauen. Das Haus Riehl wurde allerdings nicht neoklassizistisch gestaltet, sondern in einem Stil, für den später die Bezeichnung Reformarchitektur aufkam. Und das Gebäude wurde von der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ genutzt, während sich in den Räumen der Villa Rosen ein Fotolabor der Freien Universität befand. Beide Gebäude standen zehn Jahre lang leer und verfielen, bevor sie am Ende des Jahrhunderts aufwendig renoviert wurden.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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