Ulrich Alexander Boschwitz : Der Reisende

Der Reisende
The Man Who Took Trains Hamish Hamilton, London 1939 The Fugitive Harper, New York 1940 Der Reisende Hg.: Peter Graf Klett-Cotta, Stuttgart 2018 ISBN 978-3-608-98123-0, 302 Seiten ISBN 978-3-608-11011-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Handlung beginnt mit dem Pogrom am 9. November 1938 und endet wenige Tage später. Der jüdische Geschäftsmann Otto Silbermann in Berlin, der im Ersten Weltkrieg an der Front kämpfte und ein Leben wie jeder andere Deutsche auch führte, entschließt sich zu spät zur Emigration. Vermeintliche Freunde nutzen seine Lage aus, pressen ihm sein Haus und die Hälfte seines Vermögens ab. Er irrt umher, die Flucht ins Ausland misslingt, und am Ende verliert er alles, auch den Verstand.
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Kritik

Als der 23-jährige Student Ulrich Alexander Boschwitz den Roman "Der Reisende" Ende 1938 innerhalb weniger Wochen im Exil verfasste, konnte er noch nichts vom Holocaust ahnen, aber er schildert eindringlich, was die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten bedeutete. Das Bild, das er stringent aus der subjektiven Perspektive der Hauptfigur entwickelt, ist anschaulich und einprägsam, die Handlung packend und spannend.
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Silbermann und Becker

Silbermann und Becker waren drei Jahre lang zusammen an der Westfront und sind seit damals befreundet. Nach dem Krieg machte der Berliner Kaufmann Otto Silbermann seinen arbeitslosen Freund zum Prokuristen. Dass der Unternehmer Jude ist, spielte in den Zwanzigerjahren keine Rolle, zumal er wie jeder andere Deutsche auch lebt und seine Frau Elfriede evangelisch ist.

Inzwischen verfügt Becker nominell über 51 Prozent des Unternehmens und es heißt jetzt auch „Becker Schrott G.m.b.H.“, denn Juden wie Otto Silbermann dürfen aufgrund der nationalsozialistischen Gesetze nicht mehr Haupteigentümer einer Firma sein. Becker befürwortet zwar die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten, aber er hält seinen langjährigen Freund nicht für einen „richtigen“ Juden, zumal Silbermanns Aussehen nicht dem Klischee entspricht.

„Alte Freunde wie wir! Drei Jahre Westfront, zwanzig Jahre Zusammenarbeit und Zusammenhalt – […].
[…] für mich bist du bist du ein Mann – ein deutscher Mann, kein Jude.“
„Doch, doch, ich bin ein Jude“, sagte Silbermann […].
„Ich bin ein Nationalsozialist. Weiß Gott, ich habe dir nie etwas vorgemacht. Wenn du ein Jude wärst wie andere Juden, eben ein richtiger Jude, dann wäre ich vielleicht dein Prokurist geblieben, dein Sozius wär‘ ich nie geworden!“

Silbermann und Findler

Während Becker am 9. November 1938 nach Hamburg fährt, um dort einen Handel abzuschließen, empfängt Otto Silbermann in seiner Wohnung Theo Findler, der daran interessiert ist, das Mietshaus des Geschäftsfreundes zu kaufen.

„Ihre Frau muss etwas gegen mich haben. Sie lässt sich überhaupt nicht sehen. Verstehe das nicht. Nimmt sie mir übel, dass wir Sie neulich abends gegrüßt haben? Aber Menschenskind, das konnten wir doch nicht! Das Lokal war voller Nazis!“

Findler weiß, dass er den Kaufpreis drücken kann, weil Silbermann gezwungen ist, das Haus zu verkaufen:

„Hahaha, Silbermann, in aller Freundschaft! Ich nehme Ihnen die Bude ab, wenn ich’s nicht mache, macht’s der Staat. Der gibt Ihnen keinen Sechser.“

Während der Verhandlung ruft Otto Silbermanns Schwester Hilde an und teilt aufgeregt mit, dass ihr Ehemann Günther festgenommen worden sei.

Bevor Silbermann und Findler zu einem Ergebnis kommen, hämmert es gegen die Wohnungstür und mehrere Männer grölen: „Aufmachen, Jude, aufmachen!“ Findler ergreift die Chance, drängt Silbermann, durch den Hinterausgang zu fliehen und jagt ihm das Haus im letzten Moment für einen Spottpreis ab.

„Also dann, machen Sie man zu! Ich brauche Sie noch lebendig für den Notar.“

Als Silbermann fort ist, öffnet Findler die Tür und hält dem halben Dutzend Jugendlichen sein Parteibuch hin. Aber bevor er erklären kann, dass er nicht der Gesuchte ist, tritt ihm einer in den Unterleib, und er geht zu Boden.

Berlin – Hamburg – Berlin

Silbermann denkt auf der Flucht:

Menschenwürde, […] man hat doch Menschenwürde, die darf man sich nicht nehmen lassen.

Vor zehn Minuten ging es noch um mein Haus, einen Teil meines Vermögens. Jetzt geht es schon um meine Knochen. Wie schnell das geht.

Er ruft seinen Rechtsanwalt an, aber Dr. Löwenstein wurde auch bereits abgeholt.

Silbermann beschließt, die Nacht in einem guten Hotel zu verbringen. Aber der Geschäftsführer, der ihn gut kennt, weil er schon häufig Gast war, bedeutet ihm mit großer Höflichkeit, dass man ihm kein Zimmer mehr geben könne.

„Herr Silbermann“, sagte Rose so leise und höflich, wie man es von ihm als einem im Hotelfach Altgewordenen in allen Lebenslagen erwarten konnte. „Es ist mir außerordentlich peinlich. Sie sind uns ein alter, lieber Gast. Aber … Sie verstehen? Es ist ja nicht meine Schuld, und es wird sicherlich auch nicht dabei bleiben, aber …“
[…]
„Sie wollen mich also hinauswerfen?“, fragte [Silbermann] endlich mit trockener Stimme den Geschäftsführer und sah ihn dabei an.
„Bitte, fassen Sie es nicht so auf“, flehte Herr Rose […]

Nachdem er das Hotel in Berlin verlassen musste, fährt Silbermann nach Hamburg und sucht dort nach Becker. Der ist in Begleitung von zwei Sturmführern und tut so, als kenne er ihn nicht.

Als Becker gleich darauf mit den SS-Offizieren nach Berlin fährt, bleibt Silbermann nichts anderes übrig, als ebenfalls den Zug zu nehmen.

Erst später erfährt er, dass Becker die beiden Sturmführer eigens aus Berlin nach Hamburg kommen ließ, um die widerspenstigen Geschäftspartner einzuschüchtern. Nun entzieht er Silbermann die Freundschaft, wechselt vom Du zum Sie und kündigt die Auflösung der Firma an. Immerhin beansprucht er nicht das gesamte von Silbermann eingebrachte Gesellschaftskapital, sondern zahlt ihm die Hälfte davon – 41500 Mark – in bar aus .

Silbermann kauft eine Aktentasche, um die Banknotenbündel zu verstauen.

Von Elfriede erhält er die Nachricht, dass sie bei ihrem Bruder Ernst Hollberg in Küstrin Zuflucht suchen werde. Sie rät ihm, zum bereits nach Paris emigrierten Sohn Eduard zu fliehen und meint, sie könne dann nachkommen.

Ziel: Belgien

Im Zug nach Aachen lernt Silbermann den jüdischen Tischler Robert Lilienfeld kennen, der sich ebenfalls ins Ausland absetzen will, nachdem man sein Geschäft zertrümmert hat. Er will zu einem Mann namens Hermann Dinkelberg in Dortmund, von dem es heißt, dass er Juden gegen Geld zur Flucht über die Grenze verhelfe.

Von Aachen aus ruft Silbermann seinen Sohn in Paris an, aber Eduard ist es noch immer nicht gelungen, ein Visum für die Eltern zu bekommen. Deshalb fährt Silbermann nach Dortmund zurück und sucht nach Hermann Dinkelberg. Aber der wurde am Vortag verhaftet.

Weil Silbermann die vorgeschriebene Anmeldung mit seinem Namen in einem Hotel scheut, nimmt er ein möbliertes Zimmer und zahlt auch gleich die für einen Monat im Voraus geforderte Miete. Dann überlegt er es sich doch anders und fährt noch am selben Abend wieder nach Aachen.

In seinem Abteil sitzt eine junge Stenotypistin aus Dortmund. Arglos erzählt sie, dass ihr Bräutigam Franz bei einem Berliner Direktor als Chauffeur angestellt sei. Sie besuche ihn nun in Aachen, wo er sich derzeit mit seiner Herrschaft aufhalte. Die beiden würden gern heiraten, aber dafür fehlt ihnen das Geld.

Mit 1000 Mark erreicht Silbermann, dass Franz ihn mit dem Wagen des Direktors zur belgischen Grenze bringt. Auf der anderen Seite wird der Flüchtling von zwei gutmütigen Gendarmen entdeckt. Sie lassen sich nicht bestechen, aber statt ihn den Deutschen zu übergeben, schieben sie ihn über die grüne Grenze ab.

Silbermann gelingt es, einen Lastwagen anzuhalten. Der Fahrer nimmt ihn mit nach Mönchengladbach, und dort steigt der Flüchtling in einen Zug nach Berlin.

Fortsetzung der Odyssee

Zu ihm ins Abteil setzt sich eine Frau, die ihm gefällt. Sie heißt Ursula Angelhof und ist gerade dabei, sich von ihrem Ehemann Dr. Hermann Angelhof zu trennen. Dass Otto Silbermann Jude ist, stört sie nicht.

„Mein Mann ist Rechtsanwalt“, sagte sie eifrig. „Er ist auch bei der Partei und sehr gut angeschrieben, aber leider kann ich nicht mit ihm sprechen. Sonst würde er sofort etwas für Sie unternehmen.“

Von Berlin fährt Silbermann weiter nach Küstrin. Dort ruft er seinen Schwager an und fragt, ob er für ein paar Tage zu ihm kommen könne.

„[…] um mal wieder zur Besinnung zu kommen. Seit drei Tagen habe ich in keinem Bett mehr geschlafen.“
„So? Ja, das geht aber leider nicht, weißt du? Um Elfriede brauchst du dir keine Sorgen machen. Sie kann bei uns bleiben, solange sie will, aber du, nein, das ist leider unmöglich.“

Otto Silbermann bleibt nichts anderes übrig, als nach Berlin zurückzukehren. Dort läuft ihm ein jüdischer Bekannter über den Weg. Im Unterschied zu ihm weist Hamburgers Nase die auf Zeichnungen im „Stürmer“ betonten Merkmale eines Juden auf.

„Sie kompromittieren mich ja“, stieß Silbermann gereizt und verdrossen hervor.

Gleich darauf bereut er seine Äußerung. Hamburger hat jedoch verstanden und verabschiedet sich von ihm.

Silbermann kauft eine Zugfahrkarte nach München, steigt allerdings bereits in Dresden aus und beabsichtigt zunächst, den Anschlusszug nach Leipzig zu nehmen, geht dann aber zum Zug nach Berlin.

Er bricht noch im Bahnhof in Dresden zusammen. Im Krankenhaus kommt er zu sich und fragt als Erstes nach seiner Aktentasche. Die ist bei seinen Utensilien. Weil Silbermann argwöhnt, dass man ihn vom Krankenhaus ins Gefängnis bringen könnte, verlässt er es, obwohl er sich noch schwach und benommen fühlt.

Zurück in Berlin

Im Zug schläft er erschöpft ein und wacht erst kurz vor Berlin wieder auf. Beim Aussteigen merkt er, dass seine Aktentasche mit dem Geld fehlt. Die beiden Männer, die mit ihm im Abteil saßen, sind auch nicht mehr da. Man hat ihn bestohlen.

Obwohl ihm der Zugführer rät, den Diebstahl unverzüglich bei der Bahnpolizei zu melden, sucht er erst am nächsten Morgen eine Polizeiwache auf, um Anzeige zu erstatten, denn er befürchtet, dass dies einem Selbstmord gleichkommt.

„Ich will sogleich noch eine zweite erstatten … Banditen haben meine Wohnung überfallen, meine Möbel zerschlagen, meinen Freund Findler verletzt …“

Zwei Polizisten packen den Randalierer und sperren ihn in eine Zelle. Am nächsten Tag meint der Kommissar:

„Wenn ich will, kann ich Sie unverzüglich in ein Konzentrationslager überführen lassen. Sie zwingen einen ja fast dazu.“

Der Kommissar will einen ehemaligen Frontsoldaten nicht länger festhalten und fordert deshalb einen Polizisten auf, Silbermann vor die Tür zu setzen.

Der nimmt ein Taxi und nennt die Adresse seines Anwalts. Dr. Löwenstein, der vor ein paar Stunden aus der Haft entlassen wurde, packt gerade seine Sachen, um sich nach Holland abzusetzen und fordert seinen Mandanten auf, sich anzuschließen. Als die beiden dann mit dem Aufzug nach unten fahren, stehen dort zwei Herren. Silbermann geht an ihnen vorbei. Dann dreht er sich um und sieht, dass Löwenstein Handschellen angelegt werden. Statt das Haus zu verlassen, fragt er: „Was ist denn los?“

Schon packte ihn einer am Arm. „Sie kennen den Herrn?“
„Natürlich. Er war mein Rechtsanwalt.“
„Dann kommen Sie mal gleich mit zur Wache. Sind Sie auch Jude?“
„Ja“, sagte Silbermann.
Sie wurden abgeführt.

Otto Silbermann wird schließlich in eine geschlossene psychiatrische Anstalt gebracht. Nach allem anderen hat er auch den Verstand verloren.

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Als der 23-jährige Student Ulrich Alexander Boschwitz den Roman „Der Reisende“ Ende 1938 innerhalb weniger Wochen im Exil verfasste, konnte er noch nichts vom Holocaust ahnen, aber er schildert eindringlich, was die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten bedeutete. Die Handlung beginnt mit dem Pogrom am 9. November 1938 und endet wenige Tage später. Ein jüdischer Geschäftsmann in Berlin, der im Ersten Weltkrieg an der Front kämpfte und ein Leben wie jeder andere Deutsche auch führte, entschließt sich zu spät zur Emigration. Vermeintliche Freunde nutzen seine Lage aus, pressen ihm sein Haus und die Hälfte seines Vermögens ab. Er irrt umher und verliert am Ende alles, auch den Verstand.

Das Bild, das Ulrich Alexander Boschwitz in „Der Reisende“ zeichnet, ist anschaulich und einprägsam, die Handlung packend und spannend. Geschickt lässt der Autor seinen Protagonisten immer wieder auf eine Wendung zum Besseren hoffen – und beim Lesen ahnt man, dass es stattdessen schlimmer kommen wird.

Hervorzuheben ist nicht zuletzt die Stringenz, mit der Ulrich Alexander Boschwitz die tragische Handlung entwickelt. Er überlässt zwar nicht einem Ich-Erzähler das Wort, nimmt aber die subjektive Perspektive der Hauptfigur ein. Die Menschen, denen Otto Silbermann begegnet, sind nicht nur gut oder böse. Die Charaktere wirken allesamt ambivalent. Das gilt auch für den Protagonisten, der ein ehrlicher Kaufmann und anständiger Mensch war, sich nun aber auf der Flucht dabei ertappt, wie er einen anderen Juden zurückweist, weil er befürchtet, dass dessen Aussehen ihn verraten könnte.

In einer Zeit, in der Nationalismus, rechtes Gedankengut und Fremdenhass wieder zunehmen, ist „Der Reisende“ eine warnende Lektüre.

Zwar gab es 1939 eine englische Veröffentlichung („The Man Who Took Trains“, Hamish Hamilton, London 1939) und im Jahr darauf eine amerikanische („The Fugitive“, Harper, New York 1940), aber das deutschsprachige Original-Typoskript „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz, das in den Sechzigerjahren ins Deutsche Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main gelangte, blieb 80 Jahre lang unveröffentlicht. Peter Graf brachte 2018 eine von ihm lektorierte Fassung heraus. Auf das Manuskript hingewiesen hatte ihn Reuella Sachaf, eine in Israel lebende Nichte des Autors Ulrich Alexander Boschwitz.

Den Roman „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Torben Kessler (ISBN 978-3-7424-0403-9).

Veranschaulichung der Beziehungen

Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Ulrich Alexander Boschwitz (kurze Biografie)
Ulrich Alexander Boschwitz: Menschen neben dem Leben

Sibylle Lewitscharoff - Blumenberg
Mit ihrem Roman "Blumenberg" hat Sybille Lewitscharoff dem Philosophen Hans Blumenberg ein literarisches Denkmal gesetzt. Ihr Buch ist jedoch keine Biografie, sondern eine poetische Komposition.

Blumenberg