Sebastian Themessl : Wo dein sanfter Flügel weilt

Wo dein sanfter Flügel weilt
Wo dein sanfter Flügel weilt Schuberts letzte Symphonie Ein musikgeschichtlicher Kriminalroman Originalausgabe Hollitzer Verlag, Wien 2020 ISBN 978-3-99012-806-0, 411 Seiten ISBN 978-3-99012-807-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der junge amerikanische Musikwissenschaftler Phil Mason geht in Wien der Frage nach, warum alle Autorinnen und Autoren, die einen Bezug von Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur zu Beethovens 9. Sinfonie entdeckten, kurz darauf ums Leben kamen. Dabei stößt er auf eine global agierende Geheimorganisation: House of Denmark ...
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Kritik

Sebastian Themessl gibt in seinem Roman "Wo dein sanfter Flügel weilt" Adam Mason – den Bruder des Protagonisten Phil − als Chronisten aus. Dadurch entsteht der Eindruck von Authentizität. Die abstrusen Zusammenhänge in dem unterhaltsamen "musikgeschichtlichen Kriminalroman" bleiben allerdings vage.
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Franz Schuberts Große Sinfonie in C-Dur

Im Oktober 2011 fliegt Philip („Phil“) Mason von New York nach Wien. Der Assistent am musikwissenschaftlichen Institut der Princeton University will dort als Stipendiat bei Professor Kolschitzky eine Arbeit mit dem Titel „Mozart in Paris. Die Verbindungen zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Wiener Klassik“ schreiben. Nach der Ankunft bezieht er ein Zimmer bei der Witwe Sophie Witting, die seine Mutter Marianne Dornbusch kannte, als diese in den Sechzigerjahren in Wien Klavier studierte und ihren Mann kennenlernte, mit dem sie dann in die USA zog und zwei Söhne bekam: Phil und Adam.

Phil beschäftigt sich in Wien nicht nur mit Wolfgang Amadeus Mozart, sondern auch mit Franz Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur, und ihm fällt auf, dass im Finale nicht nur die Schritte des Komturs aus der Oper „Don Giovanni“, sondern auch eine Passage aus Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie zitiert wird. Schubert verhöhnt regelrecht die Idee einer Gesellschaft gleichberechtigter, durch Freude und Freundschaft verbundener Menschen im Schlusschor der Beethoven-Sinfonie und konfrontiert dieses Ideal mit dem düsteren Ende der Mozart-Oper.

Die Musik ist eine Wissenschaft, Adam, die Wissenschaft vom Klang. Als solche ist sie Mathematik und gehört zur Physik. Dass sie „Kunst“ sei, ist ein modernes Vorurteil, das etwa mit dem Rokoko einsetzt. Kabbalistisch gesprochen handelt es sich um Magie. Musik ist auch eine Waffe.

Lange Zeit nahm man an, Franz Schubert habe im Sommer 1825 in Gmund und Gastein an einer später verschollenen Sinfonie in E-Dur gearbeitet. Erst in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde erkannt, dass jemand die Datierung des Autografs der C-Dur-Sinfonie – März 1828 – nachträglich hinzugefügt hatte. Tatsächlich war sie 1825 entstanden.

Franz Schubert widmete die C-Dur-Sinfonie der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Die lehnte eine Aufführung ab und ließ das Autograf im Archiv verschwinden.

Robert Schumann entdeckte während eines Aufenthalts in Wien von Oktober 1838 bis April 1839 eine Kopie der Partitur, und Felix Mendelssohn Bartholdy führte die Große Sinfonie in C-Dur von Franz Schubert am 21. März 1839 im Rahmen der Gewandhauskonzerte in Leipzig erstmals auf.

Phil sucht in den Wiener Archiven nach Werkanalysen der Schubert-Sinfonie, aber es scheint nur eine Diplom-Arbeit von Judith Erödy aus dem Jahr 2007 mit dem Titel „Analyse und Unterlagen zu D 944“ zu geben – und die ist unauffindbar. Die Professorin Heidrun Röpke-Etrich, die die Arbeit betreute, kann oder mag dem amerikanischen Musikwissenschaftler nicht weiterhelfen. Judith Erödy wurde kurz nach der Abgabe der Diplom-Arbeit erhängt aufgefunden, aber ihre Kommilitonin Carmen Vlaha glaubt nicht an einen Suizid. Von ihr erhält Phil einen USB-Stick mit einer Kopie der verschwundenen Diplom-Arbeit.

Virtuelle Welt

Phil freundet sich mit dem Komponisten Azmir an, der sich mit IT beschäftigt hatte, bevor er zur Musik kam und noch immer in der Lage ist, beispielsweise einen Facebook-Server zu hacken. Er meint:

„Die Realität führt ein Schattendasein hinter der reproduzierten Welt.“

Azmirs Geliebte, die Künstlerin Adrijana Popovic, reißt bei einer Vernissage in einer Wiener Galerie eines ihrer Bilder von der Wand, zerfetzt es und uriniert darauf. Das von einer Begleiterin gefilmte Happening geht im Netz viral, und Armir erklärt Phil:

„Die mediale Verbreitung ist heute das Werk.“

Moskau

Phil findet heraus, dass alle Autorinnen und Autoren, die über den Zusammenhang zwischen Schuberts C-Dur- und Beethovens 9. Sinfonie geschrieben hatten, kurz darauf ums Leben kamen. Beispielsweise wurde der Musiktheoretiker Theodor Friedrich Altmann 1841 in Leipzig bei einem Pistolenduell von dem Jenaer Burschenschafter Erich Kassler getötet.

Weil die Polizeiakten von damals 1945 ins Sonderarchiv Moskau kamen, reist Phil dorthin. Juri Korkow und Natalja Levedkova, zwei neue Freunde aus Wien, begleiten ihn. Juris Onkel Jaroslaw Michailowitsch Nikitin arbeitet in Moskau bei der Stadtverwaltung und vermittelt den Besuchern einen Kontakt mit dem zwielichtigen Historiker Wladimir Bashmenkov. Der bringt Phil in seiner Datscha mit Lew Josefowitsch Freudenthal zusammen, der den Amerikaner nachts ins Sonderarchiv führt. Sie können gerade noch die Seiten der Polizeiakte Erich Kassler fotografieren, da suchen bewaffnete Männer nach den Eindringlingen. Phil und Freudenthal gelingt es, zu entkommen. Aber Wladimir Bashmenkov und sein Chauffeur, die im Auto auf sie warteten, wurden erschossen.

Mit gefälschten Papieren nehmen Phil und Natalja den Nachtzug nach Warschau. Kurz vor der Ankunft steht ein Fremder in der Abteiltür und erschießt Natalja. Phil wird drei Wochen lang vernommen, dann darf er nach Wien weiterreisen. Der im Zug gefasste Mörder wird wegen Raubmordes angeklagt, aber Phil weiß, dass es bei dem Verbrechen nicht um einen Raub ging.

Verschwörung

In Wien erhält Phil ein Dossier von Lew Josefowitsch Freudenthal über Erich Kasslers Vater Johann Jakob Kassler, der im Frühjahr 1792 im Auftrag der 1742 gegründeten Geheimorganisation House of Denmark (HoD) an der Vergiftung des Kaisers Leopold II. beteiligt war. Mozart hatte den Habsburger vergeblich durch die 1791 uraufgeführte Oper „Titus“ zu warnen versucht. Heute würde man von einem Regime Change sprechen. Nachfolger des am 1. März 1792 gestorbenen Kaisers wurde sein Sohn Franz, eine Marionette der Verschwörer, der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation durch den Krieg gegen Napoleon zerstören sollte und das auch tat.

Das war die Grundvoraussetzung zur Durchsetzung der Kapitalinteressen und der kapitalistischen Philosophie am Kontinent. Österreich musste vernichtet werden, da der ganze Süden, Zentral- und Südosteuropa daran hing, verstehst du? Ich meine damit den gesamten, weltweiten politisch-katholischen Raum geostrategisch betrachtet, nachdem Spanien erledigt war.


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Lateinamerika

Phil vermutet das Geheimarchiv des House of Denmark in der Siedlung Nueva Germania 150 Kilometer nordöstlich von Asunción in Paraguay, die der mit Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth verheiratete Gymnasiallehrer Bernhard Forster 1886 für ein „Arier“-Projekt gegründet hatte..

Er reist mit seinem als Reiseschriftsteller für „The New Yorker“ arbeitenden Bruder Adam zunächst nach Santa Fe de la Vera Cruz in Argentinien, wo sie von Ruben Abramovic erwartet werden, den Phil in Wien kennengelernt hat. Der hilft ihnen, unbemerkt über die Grenze nach Paraguay zu kommen.

In Nueva Germania gibt es kein Archiv, aber ein beinamputierter Greis verrät Phil für viel Geld, dass er von einem Archiv in der 60 Kilometer südlich gelegenen Stadt San Pablo wisse.

Dort entdeckt Phil unter einer Mennoniten-Kirche eine riesige unterirdische Anlage – in der ihn Brenner erwartet, ein Mann, den er wiederholt in „Lenny’s Bar“ in Wien sah. Bereitwillig führt ihn der Ministerialrat durch das umfangreiche Archiv von Schriften, die das House of Denmark im Lauf der Jahrhunderte verschwinden ließ.

Brenner bietet Phil eine Mitarbeit beim House of Denmark an, aber der Amerikaner erklärt heroisch, er wähle lieber den Tod.

Es ist dann aber nicht Phil, der sterbend zusammenbricht, sondern Brenner. Der beantwortet zum Schluss noch Phils Frage, wo Wolfgang Amadeus Mozart bestattet sei, denn der Musikwissenschaftler hat längst durchschaut, dass es sich bei dem legendären Armenbegräbnis des Komponisten um eine Inszenierung handelte.

Phil verlässt das unterirdische Archiv und setzt sich mit Adam nach São Paulo ab. Als er dort in der Nähe eine Straße überqueren will, fährt ihn ein Auto tot.

Adam Mason schlägt sich nach Kuba durch und schreibt dort ein Buch über seinen Bruder Phil und dessen Forschungen.

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In seinem „musikgeschichtlichen Kriminalroman“ mit dem Titel „Wo dein sanfter Flügel weilt. Schuberts letzte Symphonie“ schickt Sebastian Themessl einen jungen amerikanischen Musikwissenschaftler von der Princeton University nach Wien, Moskau und Lateinamerika. Phil Mason will eigentlich eine Arbeit über „Mozart in Paris. Die Verbindungen zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Wiener Klassik“ schreiben, geht dann aber der Frage nach, warum alle Autorinnen und Autoren, die einen Bezug von Franz Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur zu Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie entdeckten, kurz darauf ums Leben kamen. Dabei stößt er auf eine im 18. Jahrhundert gegründete, inzwischen global agierende Geheimorganisation, die alles unterdrückt, was dem Kapitalismus schaden könnte: House of Denmark.

Die abstrusen Zusammenhänge in dem unterhaltsamen Kriminalroman bleiben vage und grob gestrickt. Sebastian Themessl entwickelt die Handlung in „Wo dein sanfter Flügel weilt. Schuberts letzte Symphonie“ nicht stringent, sondern mit vielen Abschweifungen, Nebenhandlungen und -figuren. Die Charaktere weisen allerdings keine Nuancen oder gar widersprüchliche Eigenschaften auf. Sebastian Themessl verwendet ein bewährtes Muster, indem er Adam Mason – den Bruder des Protagonisten Phil − als Chronisten ausgibt. Dieser (fiktive) Autor zitiert zwischendurch sowohl aus Phils Notizen als auch aus Dokumenten und tritt im dritten Teil in der Ich-Form auf. Dadurch entsteht der Eindruck von Authentizität.

Beim Buchtitel handelt es sich um ein Zitat aus Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ (1785), die Ludwig van Beethoven im Schlusssatz seiner 9. Sinfonie vertonte:

Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium. Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt. Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.

Sebastian Themessl wurde 1975 in Innsbruck geboren. Er studierte zunächst Geschichte und Philosophie, wechselte dann aber zur Musik. Sein Kompositionsstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien schloss er 2003 mit Auszeichnung ab.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Hollitzer Verlag

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