Dana Vowinckel : Gewässer im Ziplock

Gewässer im Ziplock
Originalausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2023 ISBN 978-3-518-47360-3, 365 Seiten ISBN 978-3-518-77764-0 (eBook) Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Berlin 2024 ISBN 978-3-518-47444-0
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der als Chasan ausgebildete Israeli Avi Fuchs zeugte mit der amerikanischen Linguistik-Doktorandin Marsha Markovitz in Jerusalem eine Tochter: Margarita. Sie zogen nach Deutschland, und als das Kind zwei Jahre alt war, kehrte Marsha allein in die USA zurück. Inzwischen ist Margarita 15 Jahre alt und erfährt bei einem Besuch ihrer Großeltern in Chicago, dass ein Wiedersehen mit ihrer Mutter in Jerusalem geplant ist.
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Kritik

"Gewässer im Ziplock" ist nur beiläufig ein Adoleszenz-Roman. Dana Vowinckel geht es um mehr, um Identität und Zugehörigkeit am Beispiel jüdischer Menschen. Die Zusammenhänge in ihrem Debütroman hat sie gründlich durchdacht und sorgfältig komponiert.
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Avi, Marsha und Margarita

Margarita Rachel Fuchs ist 15 Jahre alt. Ihr 45-jähriger Vater Avi Fuchs wuchs in Israel auf. Sein Vater Itzik war vier Jahre alt gewesen, als die Eltern mit ihm 1935 die Türkei verlassen hatten. Itzik wurde Zahnarzt in Israel – und mit Ende 40 heiratete er Stella, eine elf Jahre jüngere Patientin, die 1942 in Israel als Tochter einer aus Breslau geflohenen deutsch-jüdischen Familie zur Welt gekommen war. Inzwischen sind beide tot.

Avi war bei der Luftwaffe und wollte Pilot werden, aber daraus wurde nichts und er leistete seinen Militärdienst in einem Kontrollturm im Negev. Danach ließ er sich in Jerusalem zum Chasan ausbilden, und mit 26 lernte er die drei Jahre ältere Amerikanerin Marsha Markovitz kennen.

Die Tochter eines Universitätsprofessors und einer Grundschullehrerin – Daniel („Dan“) und Selma Markovitz – hatte an der University of Chicago Linguistik studiert und war zur Promotion nach Jerusalem gekommen.

Als Avi Fuchs und Marsha Markovitz ein Kind bekamen, zogen sie nach Hannover. Von dort wollte Marsha zurück in die USA, doch Avi bezweifelte, dass sie sich das Leben dort leisten könnten. Die Tochter Margarita war zwei Jahre alt, als die Mutter ihre Absicht verwirklichte und der Vater, der das alleinige Sorgerecht bekam, mit Margarita nach Berlin zog, wo er als Chasan der Synagoge in der Oranienburger Straße anfing.

Von Chicago nach Jerusalem

Avi und Marsha haben sich seit der Trennung vor 13 Jahren nicht mehr gesehen. Margarita hat zwar die Sommerferien regelmäßig in Chicago verbracht, aber nicht bei Marsha, sondern bei den Großeltern.

Inzwischen besucht Margarita das Jüdische Gymnasium in Berlin. Und im Sommer besucht sie wieder die Großeltern in Chicago. Da überrascht Selma ihre Enkelin mit der Ankündigung, sie werde mit Avi gemeinsam ein Treffen von Mutter und Tochter organisieren, und zwar in Jerusalem, wo Dr. Marsha Markovitz ein Fellowship an der Hebrew University bekommen hat.

Im Flugzeug sitzt Lior Cohen neben Margarita, ein 17-jähriger Israeli, der von einem Urlaub in den USA zurückkehrt. Sie tauschen Telefonnummern aus.

Marsha versprach, ihre Tochter vom Flughafen in Tel Aviv abzuholen, aber Margarita sucht vergeblich nach ihr. Sie hat weder eine Telefonnummer noch eine Adresse von ihrer Mutter. Auch die Großmutter, die sie anruft, obwohl es in Chicago Nacht ist, hat sich keine Kontaktdaten ihrer Tochter in Jerusalem notiert. Avi bucht Margarita von Berlin aus ein Hotel in Jerusalem, aber sie zieht es vor, die Nacht mit Lior in Tel Aviv zu verbringen. Weil dessen Eltern noch in den USA sind, schläft er mit Margarita in seinem Zimmer.

Geheimnisse

Als Margarita ihrer Freundin am Telefon berichtet, dass sie Sex mit einem Kerl aus dem Flugzeug gehabt habe, erzählt Anna von ihrer neuen Liebesbeziehung mit Zoé und gibt sich damit als lesbisch zu erkennen.

Marsha entschuldigt sich damit, dass sie sich geirrt und die Ankunft ihrer Tochter erst einen Tag später erwartet habe. Um Margarita Israel zu zeigen, mietet sie einen Leihwagen und unternimmt eine Rundreise mit ihr.

Margarite erfährt, dass ihre Mutter zuletzt in New York lebte und nach dem Fellowship in Jerusalem wieder in Chicago wohnen wird, denn sie hat eine Professur an der Northwestern University in Evanston bekommen.

Schließlich erklärt Marsha ihrer Tochter auch, warum sie damals fortging.

„Margarita, dein Vater weiß das nicht. Aber ich bin nicht deswegen gegangen, sondern weil ich zutiefst unglücklich war, und Avi hat mich nicht verstanden, und das war der letzte Ausweg, ich bin anders nicht zu ihm durchgedrungen, ich dachte, ihr kommt hinterher, ich habe monatelang gewartet, dass ihr kommt […].“

Und sie vertraut Margarita ein Familiengeheimnis an: Selmas leibliche Eltern – Margaritas Urgroßeltern – waren Katholiken. Aus Not brachten sie das Kind in ein Waisenheim, und später wurde Selma von einem jüdischen Paar adoptiert. Weil die Zugehörigkeit zum Judentum über die Frauen vererbt wird, sind weder Selma, noch Marsha oder Margarita Jüdinnen. Das verwirrt Margarita, die sich als Jüdin und Deutsche gleichermaßen fühlt.

Vermisst

Als Marsha am Morgen nach einem Streit mit ihrer Mutter aufwacht, ist Marsha fort. Zornig fährt Margarita mit einem Bus nach Tel Aviv, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Erst in Tel Aviv stellt sie fest, dass der Akku ihres Handys leer ist und sie weder ein Ladekabel noch Geld für ein Hotel bei sich hat. Zuflucht sucht sie deshalb bei Lior. Dessen Eltern Eran und Batya Cohen sind inzwischen mit der achtjährigen Tochter Laila ebenfalls aus dem Urlaub zurück – und verhalten sich abweisend gegenüber der Fremden aus Deutschland. Nur widerwillig lassen sie Margarita auf einem Sofa übernachten, und Lior hilft ihr auch nicht. Am nächsten Morgen verlässt sie die Wohnung und sucht den Weg zum Busbahnhof, um nach Jerusalem zurückzufahren.

Sie ahnt nicht, dass ihr von Marsha alarmierter Vater bereits von Berlin nach Israel unterwegs ist. Auf diese Weise sehen sich ihre Eltern nach 13 Jahren erstmals wieder. Marsha dachte sich nichts weiter dabei, als sie am Morgen des vorigen Tages zum Einkaufen ging, während Margarita noch schlief. Inzwischen sind auch Margaritas Großeltern in Chicago voller Sorge.

Zurück in Chicago

Kurz nachdem Margarita bei Avi und Marsha in Jerusalem eingetroffen ist, heißt es, ihre Großmutter sei im Krankenhaus. Weil Selma wegen der Sorge um ihre vermisste Enkelin nicht schlafen konnte, wollte sie nachts eine Lasagne zubereiten und hob deshalb eine Keramikform aus einem Hängeschrank. Sie fiel ihr auf den Kopf. Dabei erlitt sie nicht nur eine Gehirnerschütterung, sondern auch eine Hirnblutung.

Bevor Avi, Marsha und Margarita am Nachmittag nach Chicago fliegen, besuchen sie noch Yad Vashem.

Eine zweite MRT zeigt, dass Selma an einem chronischen Subduralhämatom leidet. Die Operation verläuft erfolgversprechend, aber die Ärzte behalten die Patientin erst einmal in einem künstlichen Koma.

Marsha, die ihr Fellowship in Jerusalem abgebrochen hat, drängt Margarita, bei ihr in Chicago einzuziehen. Sie hat eigens ein Zimmer für ihre Tochter hergerichtet. Avi ist strikt dagegen, Margarita zunächst unschlüssig.

(Am Ende entscheidet sie sich für Berlin, und wir können hoffen, das Selma noch einige Jahre lebt.)

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Bei Margarita, der Hauptfigur, handelt es sich um eine Heranwachsende, aber „Gewässer im Ziplock“ ist nur beiläufig ein Adoleszenz-Roman. Dana Vowinckel (*1996) geht es um mehr.

Anfangs ist Margarita bei ihren Großeltern in Chicago, ihr Vater Avi in Berlin und ihre Mutter Marsha in Jerusalem. Mehrere gewollte und ungewollte Ortswechsel spiegeln die jüdische Grunderfahrung der Heimatlosigkeit. Margarita, die sich als jüdisch und deutsch gleichermaßen fühlt und erst jetzt mit 15 erfährt, dass sie gar keine Jüdin ist, wächst mit Iwrit,  Deutsch und Englisch auf. Ihr Großvater Daniel spricht sieben Sprachen und versteht weitere fünf. Das korrespondiert mit der Frage nach Identität und Zugehörigkeit, um die sich Dana Vowinckels Roman dreht.

Dana Vowinckel hat die Zusammenhänge in ihrem Debütroman „Gewässer im Ziplock“ gründlich durchdacht und sorgfältig komponiert.

Sie entwickelt die Handlung abwechselnd aus zwei Perspektiven, der des verlassenen, einsamen und alleinerziehenden jüdischen Vaters Avi und der seiner Tochter, die verzweifelt versucht, sich über ihre Identität klar zu werden und sich selbst zu finden. Bemerkenswert ist, dass Dana Vowinckel die Mutter Marsha nur „von außen“ darstellt.

„Gewässer im Ziplock“: da habe ich erst einmal nach einem Ort gegoogelt, aber Dana Vowinckel bezieht sich auf Ziplock Bags, Plastikbeutel mit einem Reißverschluss, wie sie bei Flugreisen zur Mitnahme von Fläschchen mit Flüssigkeiten benutzt werden. Und aus Flüssigkeiten im Ziplock Bag ist der Titel „Gewässer im Ziplock“ geworden.

Dana Vowinckel benutzt zahlreiche hebräische Ausdrücke und erläutert einige davon in einem zweiseitigen Glossar.

Den Roman „Gewässer im Ziplock“ von Dana Vowinckel gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Jaron Löwenberg, Lili Zahavi und der Autorin.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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