Peter Weiss : Abschied von den Eltern

Abschied von den Eltern
Abschied von den Eltern Originalausgabe Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1961 173 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Tod der Eltern veranlasst Peter Weiss, über sich und die Familie nachzudenken. Schon in der Kindheit fühlt er sich als Außenseiter. Der Vater, ein Fabrikant, bringt für den verträumten Sohn, der Künstler werden möchte, ebenso wenig wie die Mutter Verständnis auf. In diesem auf Ordnung bedachten Elternhaus findet Peter keinen Raum für die Entfaltung nach eigenen Vorstellungen.
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Kritik

"Abschied von den Eltern" ist keine flammende Anklage, sondern ein nachdenklicher Versuch, die Zusammenhänge retrospektiv zu verstehen. Peter Weiss wechselt assoziativ zwischen Reflexionen und Erinnerungen. In dem autobiografischen Monolog gibt es weder Kapitel noch Absätze.
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Der Tod der Eltern

Ein Vierteljahr nach der Mutter (Dezember 1958) stirbt auch der Vater (März 1959). Peter Weiss lässt die Leiche des in Gent Gestorbenen in Belgien einäschern und bringt die Urne dann mit zurück ins Elternhaus, wo der 33-Jährige von den beiden Halbbrüdern aus der ersten Ehe der Mutter mit ihren Frauen, der Bruder, die Schwägerin, die Schwester und der Schwager erwartet wird. Sie teilen den Hausrat unter sich auf, „plündern“ das Haus.

In den folgenden Tagen vollzog sich die endgültige Auflösung der Familie.

Die Trauer galt der Erkenntnis eines gänzlich missglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten.

Nach dem Tod der Eltern denkt Peter Weiss über sich nach und erinnert sich an seine Kindheit und Jugend.

Kindheit

Er galt als Träumer, war Schlafwandler und litt als Kind regelmäßig unter Fieber. Das Bild seiner Mutter ist verzerrt.

Da ist das Gesicht meiner Mutter. Ich flog zu diesem Gesicht empor, gehoben von ihren Armen, die alle Räume durchmessen konnten. Das Gesicht nahm mich auf und stieß mich von sich. Aus der großen, warmen Masse des Gesichts, mit den dunklen Augen, wurde plötzlich eine Wolfsfratze mit drohenden Zähnen. Aus den heißen, weißen Brüsten züngelten, wo eben noch tropfende Milchdrüsen waren, Schlangenköpfchen hervor. Früher als das Gesicht waren die Hände da. Sie packten mich, rissen mich in die Höhe, schüttelten mich, sprangen mir an die Ohren und ins Haar. Alles dröhnte und wogte um die Gestalt meiner Mutter.

Am ersten Schultag flüchtet Peter. Die Mutter bringt ihn zurück in die Schule. Verspätet betritt er das Klassenzimmer – und fühlt sich sogleich als Außenseiter. Der Lehrer schlägt ihm mit dem Rohrstock auf die Hände, der Mitschüler Friederle, ein Sohn des Hausbesitzers, bei dem die Familie Weiss zur Miete wohnt, mobbt Peter.

Der zieht sich in sein Zimmer zurück, liest verbotenerweise Bücher aus der Bibliothek der Eltern, malt und zeichnet.

Die Wände hatte ich angefüllt mit Bildern von Masken und Dämonen und mit meinen eigenen Zeichnungen, die mit schreienden Figuren den Eintretenden zurückschreckten. Ich fühlte die Sprengkraft, die in mir lag, und ich wusste, dass ich mein Leben dem Ausdruck dieser Sprengkraft widmen musste, zuhause aber sah man meine Versuche als Verwirrungen an, mit denen man nicht ernsthaft zu rechnen brauchte.

Die Mutter, die ihrer zweiten Familie eine erfolgreiche Schauspiel-Karriere opferte, versucht die Kinder mit Schlägen zu disziplinieren und erwartet auch vom Vater, dass er als „züchtigende Instanz“ auftritt. Diese Rolle spielt der Geschäftsmann nur ungern.

Es hat im Leben dieses Mannes ein unablässiges Mühen um die Erhaltung von Heim und Familie gegeben.

Wenn er muss, legt er Peter übers Knie. Alle schreien bei der Ritualhandlung.

Atemlos, schweißbedeckt, saß mein Vater da, nachdem er seine Kräfte verausgabt hatte, und nun musste er getröstet und gehegt werden, er hatte seine Schuldigkeit getan, nun kam die Versöhnung, nun kam der kranke Familienfrieden, auch die Mutter eilte hinzu, und wie ein einziger Block lagen wir ineinander verschlungen, weinend in den Tränen der Erleichterung. Gemeinsam gingen wir jetzt hinab in das Haus, das wir gemeinsam bewohnten, und wir aßen Kuchen und tranken Schokolade mit Schlagsahne.

Einen anderen Umgang mit Kindern erlebt Peter bei einer befreundeten Familie, deren drei Kinder – ein Sohn, zwei Töchter – im Alter von Peter und seinen Schwestern Irene und Margit sind. Während eines Besuchs tollen Fritz W.s Kinder nackt im Garten herum. Das Ehepaar Weiss ist entsetzt, aber das kümmert Fritz W. nicht: kurzerhand zieht er Peter und dessen Schwestern aus.

Und wir erlebten nun, was wir jeden Sommertag hätten erleben können, aber was nie wiederkam, wie wir in unserer Nacktheit lebendig wurden. Gras, Blätter, Erde und Gestein fühlten wir jetzt mit all unseren Poren und Nerven, balgend und jubelnd verloren wir uns in einem kurzen Traum ungeahnter Möglichkeiten.

Fritz W. erweist sich dann auch als Retter, als Peter mit dem Eintrag „nicht versetzt“ im Zeugnis nach Hause kommt. Der beruflich erfolgreiche Freund der Familie weist lachend darauf hin, dass er selbst viermal eine Klasse habe wiederholen müssen. So ergehe es allen begabten Männern. Daraufhin bleibt die von Peter befürchtete Katastrophe aus.

Als er pubertiert, säubert die Mutter seinen Penis. Das Zurückziehen der engen Vorhaut empfindet Peter nicht nur als peinlich, sondern auch als schmerzhaft. Aber die Mutter erklärt ihm:

[…] das ist Schmutz, du musst dich sauber halten, unbedingt sauber halten, der Schmutz kommt von den vielen kranken Gedanken, die du hast.

Nachts schleicht Peter nackt ins Zimmer seiner Schwester Margit, und die beiden erkunden ihre Körper.

Die Mutter, die davon nichts ahnt und auch nicht wissen darf, dass die Köchin Elfriede sich bei der „Gymnastik“ mit Peter bis auf Slip und BH auszieht, versucht ihm einzuprägen:

[…] leben heißt arbeiten, arbeiten und arbeiten und immer wieder arbeiten.

Und der Vater ergänzt, dass Leben „Ernst, Mühe, Verantwortung“ sei.

Von seinem Stiefbruder Gottfried erfährt Peter eines Tages beiläufig, dass der Vater jüdischer Herkunft sei.

[…] und so war ich mit einem Male ganz auf der Seite der Unterlegenen und Ausgestoßenen […]

Auf Veranlassung des Vaters verlässt Peter Weiss das Gymnasium vorzeitig und wechselt zu einer Handelsschule.

Jugend

Kurz bevor die Familie (Anfang 1935) nach London zieht, kommt Peters zwölf Jahre alte Schwester Margit bei einem Autounfall in Berlin ums Leben.

Dies war der Anfang von der Auflösung der Familie.

In einem leerstehenden Raum über einer Garage in London bereitet Peter Weiss seine erste Ausstellung vor, aber niemand folgt der Einladung, seine Bilder anzuschauen.

Die Zimmer von Peter und Elfriede, die auch in London für die Familie Weiss kocht, liegen nebeneinander. Bei offener Tür zieht Elfriede sich aus, und der Jugendliche geht erregt hinüber.

Elfriede öffnete meine Hose, und ich war eingespannt in den Zwang einer unverständlichen Aufgabe. Elfriede, erregt atmend, umfingerte mich und zog mich nah an die Öffnung ihres Leibes. Die Bestandteile und Formeln der gestellten Aufgabe waren zusammenhanglos und ergaben keinen Sinn. Elfriede, mein Eindringen erwartend, schloss die Augen, als sie die Augen wieder öffnete, war ich verschwunden.

Der Vater nimmt ihn mit zu einem Termin beim Chef eines Warenhauses, dem der Textilfabrikant seine Kollektion zeigen möchte.

Ein Mädchen mit platinblondem Haar […] Sie öffnete uns eine Tür, und aus der blendenden Helligkeit des Zimmers trat uns der Chef des Warenhauses entgegen, mit elegant eingezogener Taille und breit ausladenden, gestopften Schultern, goldglitzernd, sprudelnd, lachend. Mit seiner Hand beklopfte er meinen Vater, wie man ein Pferd beklopft, leitete ihn an einen Tisch, wie an eine Krippe, half ihm, die Mustertasche zu entleeren.

Der Warenhauschef willigt ein, Peter Weiss als Volontär einzustellen. Er erhält die Aufgabe, das Material zur Dekoration des Schaufensters zusammenzusuchen.

Einen Berg von Waren schichtete ich vor dem Schaufenster auf, und da der Dekorateur verschwunden war, dekorierte ich selbst das Schaufenster. In dem heißen, gläsernen Terrarium pries ich den Überfluss des Warenhauses, umgab mich mit Schirmen und Birnen, Stäben und Fäden, Scheren und Gewehren, Kämmen und Schwämmen, Bürsten und Würsten, Nägeln und Kegeln, Pfeifen und Seifen, Hüten und Tüten, Beilen und Pfeilen, und nahm selbst die Gestalt einer verzückt sich darbietenden Puppe an. Und draußen, hinter dem Glas, spendete die Straße mir Beifall […]. Doch von hinten ergriffen mich Hände und rissen mich empor, und eine gelbe Rollgardine knallte am Fenster herab, und scharfe Augengläser blitzten mich an […].

Danach streikt Peter – und das Volontariat endet vorzeitig. Stattdessen muss er nun monatelang bei seinem Vater im Kontor arbeiten, bevor dieser ihn als Lehrling eines Textilunternehmens nach Prag schickt. Dort hält Peter es nicht lang aus. Er flüchtet und findet Hilfe bei Max P., einem 20 Jahre älteren Mann, dessen Adresse er von „Harry Haller“ bekam, mit dem er in Kontakt getreten war und der seinen Brief beantwortet hatte. Max P. vermittelt Peter Weiss einen Illustrationsauftrag für eine Zeitschrift und bringt ihn mit dem Leiter einer grafischen Schule zusammen, der ihn einem Professor der Kunstakademie in Prag empfiehlt. Der Kunstprofessor, der Peter Weiss (im Herbst 1937) als Studenten annimmt, schreibt sogar dessen Eltern (die seit dem Winter 1936/37 nicht mehr in London, sondern im böhmischen Warnsdorf/Warnoćicy leben).

Und meine Eltern resignierten, als sie den Brief der Autorität erhielten.

Nach dem Münchner Abkommen vom Oktober 1938 emigriert das Ehepaar Weiss nach Schweden, wo Peters Vater Geschäftsführer einer Textilfabrik wird, die gerade erst gebaut wird.

Peter Weiss setzt sich nach einem Jahr in Prag zunächst in die Schweiz ab. Er begegnet Frauen, die bereit wären, sich mit ihm sexuell einzulassen, aber seine „Funktion als Mann wurde dadurch nicht geweckt“. Erst nach einiger Zeit gelingt es ihm zum ersten Mal, eine Frau zu penetrieren.

[…] wir standen umarmt auf einem Balkon über dem See, und sie zog mich zurück in ihr Zimmer, auf ihr Bett, und es war kein Kampf und keine Anstrengung, es war spielend leicht, das Leben spielte mit uns, und ich lehnte mich nicht mehr dagegen auf.

Nach einem halben Jahr in der Schweiz reist Peter Weiss den Eltern nach.

Unfähig, aus eigener Kraft zu leben, musste ich in das Heim der Eltern zurückkehren. […] Ich kam als verlorener Sohn, dem man die Gnade einer Bleibe bot.

In Schweden erfährt er, dass seine Mutter alle seine Bilder, die er ihr zur Aufbewahrung anvertraut hatte, vernichtete, und zwar unter dem Vorwand, die düsteren Darstellungen hätten bei der Ausreise das Misstrauen der Grenzbeamten wecken können.

Mit ihren eigenen Händen hatte sie die Bilderwelt meiner Jugendjahre, diese Totentänze, Weltuntergänge und Traumlandschaften, vernichtet. Mit dieser Vernichtung hatte sie sich von der Drohung befreit, die diese Bilder auf die Geordnetheit und Behütetheit ihres Heims ausgeübt hatten.

Meine Mutter sagte einmal zu mir, Du bist mir immer fremd gewesen, ich habe dich nie verstehen können. Dies zu hören war schwerer, als ihre Schläge entgegenzunehmen.

Zwei Jahre lang arbeitet Peter Weiss in der von seinem Vater geführten Textilfabrik in Schweden – dann bricht er auf.

Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach einem eigenen Leben.

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Der Tod der Eltern veranlasst Peter Weiss, über sich und die Familie nachzudenken.

Schon bei der Einschulung fühlt er sich als Außenseiter, und als er später eher beiläufig erfährt, dass sein Vater jüdischer Herkunft sei, verstärkt sich dieser Eindruck. Der Vater ist zwar ein zurückhaltend veranlagter Mann, aber zugleich ein Fabrikant voller Tatendrang, der sich in die Gesellschaft integriert. Für seinen verträumten Sohn, der Künstler werden möchte, bringt er ebenso wenig wie die Mutter Verständnis auf. In diesem auf Ordnung bedachten Elternhaus findet Peter keinen Raum für die Entfaltung nach eigenen Vorstellungen.

„Abschied von den Eltern“ ist keine flammende Anklage Peter Weiss‘ gegen seine Eltern, sondern ein nachdenklicher Versuch, die Zusammenhänge retrospektiv zu verstehen.

Wenn man so will, repräsentiert der Vater als Fabrikant auch das Wirtschaftssystem. Und so kann man „Abschied von den Eltern“ auch als Kritik am Kapitalismus verstehen, dessen Zwänge eine freie, selbstbestimmte Lebensführung oder gar künstlerische Karriere behindern.

Die Ereignisse, an die sich Peter Weiss in „Abschied von den Eltern“ erinnert, fanden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts statt, also vor dem Hintergrund der Weimarer Republik und den Anfängen des NS-Regimes. Aber die politischen Entwicklungen erwähnt Peter Weiss nur kurz und nebenbei.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass es in „Abschied von den Eltern“ weder Kapitel noch Absätze gibt. Beim Text handelt es sich um einen furiosen Monolog. Peter Weiss wechselt assoziativ zwischen Reflexionen und Erinnerungen, Analysen und prägnanten, aufwühlenden Szenen bzw. Episoden.

Die Erzählung „Abschied von den Eltern“ von Peter Weiss weist sowohl Züge einer Autobiografie als auch eines Künstler- bzw. Entwicklungromans auf.

Mit „Harry Haller“ meint Peter Weiss Hermann Hesse. Tatsächlich schrieb er dem Autor des Romans „Der Steppenwolf“ 1937 und erhielt einen Antwortbrief. 1938 besuchte er Hermann Hesse in Montagnola.

Peter Weiss‘ autobiografische Erzählung „Abschied von den Eltern“ erschien 1961 im Suhrkamp Verlag.

„Abschied von den Eltern“ gibt es auch als ein fast fünf Stunden langes Hörbuch, gesprochen von Robert Stadlober (Bayerischer Rundfunk, 2013). Ein weiteres Hörbuch hat Walter Andreas Schwarz gesprochen.

Astrid Johanna Ofner drehte mit dem Schauspieler Sven Dolinski den Spielfilm „Abschied von den Eltern. Farewell“.

Originaltitel: Abschied von den Eltern. Farewell – Regie: Astrid Johanna Ofner – Drehbuch: Astrid Johanna Ofner nach der Erzählung „Abschied von den Eltern“ von Peter Weiss – Kamera: Peter Roehsler, Astrid Johanna Ofner – Schnitt: Astrid Johanna Ofner, Eva Rammesmayer, Marion Kesmaecker – Darsteller: Sven Dolinski, Lawrence Tooley, Anna Conradi, Nora Conradi, Coline Cisar, Selma Bindewald, Johanna Schmidt u.a. – 2017; 80 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Peter Weiss (kurze Biografie)

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Adolf Muschg beschäftigt sich mit den drei Reisen, die Johann Wolfgang von Goethe in die Schweiz unternahm, aber es geht ihm nicht um faktenreiche Reiseberichte, sondern er verknüpft damit erbauliche Betrachtungen über Goethes Versuche, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und "leben zu lernen".
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