Arno Geiger : Das glückliche Geheimnis

Das glückliche Geheimnis
Das glückliche Geheimnis Originalausgabe Carl Hanser Verlag, München 2023 ISBN 978-3-446-27617-8, 240 Seiten 978-3-446-27785-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Arno Geiger zog 25 Jahre lang fast jede Woche einmal einen halben Tag lang durch Wien, um in Altpapier-Containern zu wühlen. Anfangs suchte er Bücher und andere Gegenstände, die er auf dem Flohmarkt verkaufen konnte, aber schon bald verlagerte sich sein Interesse zu privaten Briefen und Tagebüchern. Für seine Arbeit als Schriftsteller wurde das stilprägend.
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Kritik

Arno Geiger erzählt von seinem "glücklichen Geheimnis" und teilt mit uns Gedanken über das Schreiben bzw. die Literatur. Wer eine Handlung erwartet, könnte enttäuscht sein. Statt zu inszenieren, spricht Arno Geiger zu uns. Unvermittelt beginnt er, seine Eltern zu porträtieren. Und immer wieder lesen wir von seinen "Geschichten mit Frauen".
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Die Anfänge

Im Alter von 24 Jahren lebt Arno Geiger mit seiner Freundin M., einer angehenden Journalistin, in einem abbruchreifen Mietshaus in Wien. Im Sommer jobbt er seit Jahren als Technikgehilfe bei den Festspielen in Bregenz. Er steht kurz vor dem Abschluss des Studiums, aber um eine Anstellung bemüht er sich nicht, denn er will Schriftsteller werden.

Bücher holt er sich auf dem Flohmarkt – oder aus dem Müll. So fängt es an.

Es gibt dunkle Geheimnisse, und es gibt glückliche Geheimnisse. Mein glückliches Geheimnis bestand fünfundzwanzig Jahre lang darin, dass ich in Wien ausgedehnte Streifzüge machte und die an den Straßen stehenden, für Altpapier vorgesehenen Behältnisse erkundete auf der Suche nach für mich Interessantem. […] Unsere Gesellschaft ist ein auf Hochtouren laufender Wegwerfbetrieb, er produziert einen nicht abreißenden Strom aus Abfall. Aus diesem Strom, der täglich an uns vorbeiflutet, mächtig wie der Mekong, zog ich zwischendurch ein Stück heraus.

In überraschender Regelmäßigkeit stieß ich auf große Mengen teils wertvoller Bücher, Briefmarkensammlungen, historische Wertpapiere, alte Comics, alte Autoprospekte, Druckgrafiken und Plakate, die ich ins Auktionshaus trug. Zum Verkauf des weniger Wertvollen stellten M. und ich uns dreimal im Jahr auf den Flohmarkt.

1996, kurz vor seinem 28. Geburtstag, nimmt Arno Geiger „am Wettlesen in Klagenfurt“ (Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb) teil. Die Resonanz ist nicht besonders positiv, und frühere Mitschüler äußern sich spöttisch über ihn.

Wenn ein junger Mensch erstmals mit etwas Eigenem hervortritt, steht der ganze Lebensentwurf auf dem Prüfstand. Wird der Text abgetan, wird auch der Lebensentwurf abgetan.

Aber im Januar 1997 beschließt der Carl Hanser Verlag in München, seinen Roman „Kleine Schule des Karussellfahrens“ zu veröffentlichen. Während er sich in seinen beruflichen Plänen bestätigt fühlt, scheitert seine acht Jahre zuvor begonnene Liebesbeziehung mit M. Um sich zu befreien, bewirbt sich Arno Geiger für ein Aufenthaltsstipendium in Berlin, erhält eine Zusage des Literarischen Colloquiums und zieht für einige Zeit in die Gründerzeitvilla der Einrichtung am Wannsee. 1998 erhält er den Abraham Woursell Award und reist nach New York.

Deutscher Buchpreis

Arno Geiger ist mit L. liiert, als er bei einer Geburtstagsfeier am 1. Mai 1999 in Vorarlberg die zwei Jahre jüngere Assistenzärztin K. kennenlernt, die in seinem Leben noch eine große Rolle spielen wird. Sie erzählt, dass ihr langjähriger Freund demnächst von Wien nach Bregenz umziehen werde.

Dort kreuzen sich die Wege von K. und Arno Geiger erneut.

Fünf Jahre nach seiner Flucht aus Wien kehrt er mit K. nach Wien zurück. Die Ärztin nimmt allerdings kurz darauf an einer medizinischen Expedition im Himalaya teil. Und danach setzt sie ihre Ausbildung zur Kinderärztin an der Universitätsklinik in Innsbruck fort.

Im Mai 2004 fährt Arno Geiger mit einem polnischen Stipendium nach Pommern – und beginnt dort eine langjährige Liebschaft mit O., einer mexikanischen Malerin, die „zwischen Drogenbaronen und Prostituierten“ in Tijuana aufgewachsen und als Jugendliche mit ihren Eltern nach New York übersiedelt war. K. beschwert sich darüber, dass er ohne Kondom mit der anderen Frau schlief, denn das hält sie für ihr Vorrecht, und als Ärztin weiß sie über das Risiko von Geschlechtskrankheiten Bescheid.

Es stimmt also gar nicht, was man außenstehend eventuell annehmen könnte: dass es sich zwischen zwei Frauen recht gut leben lässt.

Arno Geiger vertraut O. an, dass er in Mülltonnen wühlt.

Sie sagte, sie beneide mich, dass ich sechsunddreißig Jahre alt sei und noch immer ein glückliches Geheimnis besäße, als Kind habe sie ebenfalls glückliche Geheimnisse gehabt, jetzt nicht mehr.

Ich berichtete von den zahllosen, in den Jahren zuvor gelesenen Briefen, und dass ich viel gelernt hätte, sprachlich, denn die Sprache erzähle von ihrem alltäglichen Gebrauch, im Guten wie im Schlechten. Und handwerklich: Die Selbstverständlichkeit, mit der Dinge vorausgesetzt würden, weil der Adressat über Grundsätzliches Bescheid wisse. Die begleitenden Informationen, die in Romanen oft geliefert würden, untergrüben die Lebendigkeit des Textes, sie seien ein Element der Ordnung. Doch das beherrschende Prinzip im Leben der Menschen sei Unordnung. Man müsse so schreiben, als sei das, was beschrieben werde, schon da. Die meisten Texte ließen sich anmerken, dass Geschichte und Figuren zuerst erschaffen werden müssten. Große Kunst setzte später an, wenn alles schon existiere.

Arno Geiger besucht K. in Innsbruck und wundert sich darüber, dass sie sofort mit ihm Sex haben möchte. Am Abend davor war sie mit einem anderen Mann im Bett – und sie ist glücklich.

Also hatte auch K. sich in die Arme eines anderen Mannes geworfen. Und auch O. hatte einen anderen. Er kam aus Buenos Aires, die beiden trafen sich in Warschau.

Anfang Dezember 2004 endet Arno Geigers Aufenthalt in Polen. Nach ein paar Wochen als Single in Wien wohnt er mit K. in seinem Elternhaus in Wolfurt. Er hat Affären mit anderen Frauen und verheimlicht sie weder K. noch O.

Regelmäßig absolviert er seine Runden und inspiziert Altpapiercontainer.

Und die vielen gefundenen Briefkonvolute, die ich las, schärften meinen Wirklichkeitssinn. Die Vielfalt der Stimmen, die Vielfalt der Perspektiven, die vielen unterschiedlichen Vergleichsmaßstäbe: sie bildeten ein ständig wachsendes Nervengeflecht.

In vielen Briefen stieß ich auf eine beiläufige Offenheit, die mir gefiel, eine gänzlich unverkrampfte Direktheit, die mich zuerst beeindruckte, dann beeinflusste und schließlich mein Schreiben veränderte. Meine Offenheit in diesem Buch steht damit in direktem Zusammenhang. Diese Offenheit passiert mir nicht einfach, ich entscheide mich bewusst für sie, weil ich glaube, dass sie das Leben sichtbar macht. Das ist es, worum es mir in der Literatur geht: das Leben sichtbar und dadurch verständlicher machen.

Kurz nachdem Arno Geiger im Frühjahr 2005 in Bad Homburg den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg bekommen hat, bringt der Carl Hanser Verlag seinen vierten Roman heraus ‒ „Es geht uns gut“ ‒ und verkauft davon pro Tag so viele Exemplare wie von „Schöne Freunde“ insgesamt. Arno Geiger wird für „Es geht uns gut“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Ein halbes Jahr lang ist er fast ununterbrochen auf Lesereise.

Sein „glückliches Geheimnis“ gibt er nicht auf.

Als junger Mann hatte ich mich geschämt für meine geheime Tätigkeit. Jetzt wuchs das Selbstvertrauen. Nicht nur die Zeiten und Konventionen hatten sich geändert. Heute ist es in mancher Hinsicht hip, sich nach Weggeworfenem zu strecken. Vor allem aber hatte sich meine Lebenssituation verändert. […] Durch den sich nun einstellenden beruflichen Erfolg und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg veränderte sich die Perspektive, veränderte sich das Sinnbild. Jetzt standen die Runden für Eigensinn, waren Ausdruck der Fähigkeit, unkonventionelle Wege zu gehen. […] Hier tauchte jemand nach Abfall nicht, weil er ganz unten angekommen war, sondern weil er sich diese Freiheit nahm.

Wenn er in den Altpapier-Containern wühlt, trägt Arno Geiger zwar derbe Sachen, aber er tut es bei Tageslicht und verkleidet sich nicht. Dennoch wird er kein einziges Mal in all den Jahren erkannt. Selbst wenn jemand weiß, wie der Schriftsteller aussieht, bringt er den Mann an der Mülltonne nicht damit in Verbindung; es sind zwei verschiedene Welten.

Ich war jetzt achtunddreißig Jahre alt, eine kleine Berühmtheit, hatte viel Arbeit, viele Ängste, zwei Frauen und unabhängig davon zwei Leben.

Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Kinderärztin kehrt K. nach Wien zurück, zieht bei Arno Geiger ein, nimmt sich aber rasch eine eigene Wohnung. Sie arbeitet in einer Kinderarztpraxis und beginnt eine Ausbildung zur Psychotherapeutin.

K. und Arno Geiger heiraten.

Die Eltern

Bei Arno Geigers Geburt war sein Vater 42 Jahre alt. Die Mutter Erika ist 15 Jahre jünger. Als das jüngste der vier Kinder in den Kindergarten kam, kehrte sie in ihren Beruf als Lehrerin zurück. Sie legte großen Wert auf Eigenständigkeit, und der Vater ließ sich von ihr sogar im Auto fahren. Das war damals noch ungewöhnlicher als eine berufstätige Mutter.

Ungewöhnlich für eine Frau ihrer Generation, kann sie trotz der vier Kinder auf ein beinahe lückenloses Berufsleben verweisen. Im dörflichen Wolfurt war sie eine Exotin — sehr ungewöhnlich, dass sie ihre Berufstätigkeit gegen viele Widerstände durchzog in dem unbedingten Willen zur Selbstständigkeit. Mein Frauenbild ist davon geprägt, es schlägt sich in all meinen Büchern nieder.

Sie geduldete sich, bis das jüngste Kind die Schule beendet hatte. Dann verließ sie Wolfurt und zog zunächst allein in ihre Geburtsstadt St. Pölten, später nach Wien. Aber nach ihrer Pensionierung half sie bei der Betreuung des Vaters ihrer Kinder, der inzwischen dement geworden war.

Fünf Wochen nach der Eheschließung ihres Sohnes Arno mit K., einige Tage vor ihrem 72. Geburtstag, erleidet sie einen Schlaganfall.

Zu meiner Mutter fällt mir das Wort lebensgierig ein. Ausgerechnet bei ihr wurden die Fäden durchgeschnitten wie bei einer Marionette. Sie saß im Rollstuhl, die rechte Seite lahm, und wenn sie den Mund öffnete, kam nichts heraus. Das kannte ich von meinem Vater, diesen trostlosen Griff ins Leere. Meine Mutter wusste nicht einmal mehr, dass Nicken ja bedeutet und Kopfschütteln nein, sie verwechselte es ständig.

Privates wird zum Dokument

Anders als manche Buchautoren haben private Briefschreiber etwas zu sagen, denn sonst würden sie sich nicht die Mühe machen. Durch das Studium zahlreicher Briefe und Tagebücher weiß Arno Geiger, dass die Menschen komplizierter sind als die meisten Romanfiguren. Und weil er nicht auf einige wenige Korrespondenzen beschränkt bleibt, erhält er Einblick in verschiedene Milieus, entgeht also der Gefahr, sich gedanklich nur in einer Blase Gleichgesinnter zu bewegen.

Arno Geiger überlegt, ob das Sammeln privater Briefe oder gar von Tagebüchern ethisch vertretbar ist. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Weggeworfene zu Abfall wird und sich nicht in etwas Privates zurückverwandelt, wenn er es aus der Mülltonne ihm unbekannter Leute zieht. Stattdessen werden die Texte zu Dokumenten.

Die Kulturwissenschaft ist sich einig, dass man auf der Basis von Abfall zu einer guten Weltdeutung gelangen kann und zu einer guten Kenntnis der Gesellschaft, die diesen Abfall produziert.

Lebenszeugnisse standen mir immer zur Verfügung in großen Mengen. Aber eine Katze, wenn sie auch zehn Kanarienvögel frisst, kann deshalb noch lange nicht singen. Es braucht eine literarische Verwandlung, eine Form, eine Sprache. Und es braucht soziales Gespür, die Fähigkeit, manche Lücken zu füllen und andere zu lassen. Alles nicht weit verbreitet. Das klingt unbescheiden, ich weiß. Doch will ich, wie gesagt, aufrichtig sein. Außerdem will ich nicht dümmer dastehen, als ich bin.

Ich bringe das Erlebte in eine erzählbare Ordnung und bin gleichzeitig viel zu sehr Künstler, als dass eine Art Chronik entstehen könnte. Ich bemühe mich um Aufrichtigkeit, ja klar. Aber auch Aufrichtigkeit ist eine persönliche Sicht der Dinge und nicht realisierbar, selbst nach den strengsten Richtlinien. Das Erzählte ist nie wahr. Die Herausforderung besteht wohl darin, das Selbsterlebte so zu transformieren, dass mehr herauskommt als „nur“ etwas in den eigenen Augen Aufrichtiges. Ein autobiografisches Buch muss so geschrieben sein, dass die Fähigkeit zum Irrtum ausgeglichen wird durch Vertrauenswürdigkeit auf tieferer Ebene. Man schreibt, obwohl man irrt, im Wissen um die eigene Unvernunft.

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In „Das glückliche Geheimnis“ erzählt Arno Geiger (*1968), dass er 25 Jahre lang fast jede Woche einmal einen halben Tag lang durch Wien zog, um in Altpapier-Containern zu wühlen. Anfangs suchte er Bücher und andere Gegenstände, die er auf dem Flohmarkt verkaufen konnte, aber schon bald verlagerte sich sein Interesse zu privaten Briefen und Tagebüchern. Das Gelesene inspirierte ihn, und für seine Arbeit als Schriftsteller wurde es stilprägend, dass er den Alltag aus der Sicht ganz verschiedener Menschen kannte.

Im Zusammenhang damit teilt Arno Geiger mit uns Gedanken über das Schreiben bzw. die Literatur. „Das glückliche Geheimnis“ weist also Züge eines Essays auf, und wer eine Handlung erwartet, könnte enttäuscht sein. Statt zu inszenieren, spricht Arno Geiger zu uns, erzählt und räsoniert. Einige seiner Überlegungen sind aufschlussreich, aber nicht alle sind tiefschürfend.

Generell wird Arno Geiger dafür gelobt, dass er sich als Schriftsteller in seine Figuren hinein versetzt.

Der Literaturkritiker Denis Scheck nannte mich ein Empathiemonster.

Diese Fähigkeit kommt in „Das glückliche Geheimnis“ nicht zum Tragen, weil sich fast alles um Arno Geiger selbst dreht. Auch wenn er hin und wieder auf andere Personen zu sprechen kommt, bleibt die Darstellung egozentrisch ‒ und selbstgefällig.

Arno Geiger beschränkt sich allerdings nicht auf sein „glückliches Geheimnis“ und Gedanken zur Literatur. Unvermittelt beginnt er, seine Eltern zu porträtieren. Und immer wieder lesen wir von seinen „Geschichten mit Frauen“.

[…] ich hatte weiterhin Frauengeschichten oder besser gesagt, Geschichten mit Frauen. K. hatte Männergeschichten oder, besser gesagt, Geschichten mit Männern.

Diese Passagen, die den Autor und seine Lebensgefährtinnen wohl als Freigeister charakterisieren sollen, würden zu einer Autobiografie oder einem Selbstporträt gehören, aber zu „Das glückliche Geheimnis“ passen sie nicht. Warum Arno Geiger diesen Stilbruch in Kauf nimmt, lässt sich zumindest für mich nicht nachvollziehen.

Den Text „Das glückliche Geheimnis“ von Arno Geiger gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Matthias Brandt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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