Thomas Mann : Doktor Faustus

Doktor Faustus
Doktor Faustus Manuskript: Mai 1943 - Januar 1947 Erstveröffentlichung: 1947 S. Fischer Verlag, Frankfurt/M
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Figur des syphilitischen Künstlers: Als Dr. Faust und dem Teufel Verschriebener. Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf in entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufel: Paralyse." (Notiz Thomas Manns aus dem Jahr 1905)
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Kritik

Durch den fiktiven Biografen Serenus Zeitblom gewinnt Thomas Mann eine zweite Zeitebene und eine zusätzliche Perspektive, aus der heraus berichtet und kommentiert wird. Auf diese Weise wird das Leben des 1930 zusammengebrochenen Protagonisten in Bezug zum Untergang des nationalsozialistischen Reiches gesetzt.
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Am 23. Mai 1943 beginnt der 60-jährige Dr. Serenus Zeitblom, die Biografie seines seit knapp drei Jahren toten Freundes Adrian Leverkühn zu verfassen.

Serenus Zeitblom wurde 1883 in Kaisersaschern an der Saale bei Merseburg als Sohn eines Apothekers geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er in Gießen, Jena, Leipzig und Halle Altphilologie. Als 26-Jähriger erhielt er eine Anstellung als Gymnasiallehrer in seiner Geburtsstadt, und bald darauf heiratete er Helene, die Tochter seines Fakultätskollegen Ölhafen.

Frühzeitig, bald schon nach meiner Bestallung in Kaisersaschern, habe ich mich vermählt – Ordnungsbedürfnis und der Wunsch nach sittlicher Einfügung ins Menschenleben leiteten mich bei diesem Schritt.

Er beschreibt sich als einen altmodischen Menschen, „stehengeblieben bei gewissen, mir lieben romantischen Anschauungen, zu denen auch der pathetisierende Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit gehört“.

Als mäßiger Mann und Sohn der Bildung hege ich zwar ein natürliches Entsetzen vor der radikalen Revolution und der Diktatur der Unterklasse, die ich mir von Hause aus schwerlich anders als im Bilde der Anarchie und Pöbelherrschaft, kurz, der Kulturzerstörung vorzustellen vermag.

Den zwei Jahre jüngeren Adrian Leverkühn lernte er auf dem Gymnasium kennen.

Adrian stammte aus einer Familie von Landwirten und Handwerkern. Er kam 1885 in dem zu Oberweiler gehörenden Dorf Buchel bei Weißenfels zur Welt. Sein Bruder Georg war fünf Jahre älter, seine Schwester Ursel fünf Jahre jünger. Sein Vater Jonathan Leverkühn galt wegen seiner absonderlichen Forschungen als „ein Spekulierer und Sinnierer“. Bei der Mutter Elsbeth handelte es sich um eine stille, einfache und sachliche Frau mit einer auffallend wohlklingenden Sprache.

Eine seltsame Freundschaft verband den kleinen Jungen mit der Stallmagd Hanne, einer „Person mit Schlotterbusen und nackten, ewig mistigen Füßen“, die viel mit ihm zusammen sang.

Adrian wurde nicht in die Dorfschule geschickt, sondern nachmittags zu Hause vom Schullehrer unterrichtet. Damit er das Gymnasium besuchen konnte, nahm ihn sein in Kaisersaschern wohnender Onkel Nikolaus Leverkühn auf, ein Witwer, der Geigen baute und mit Musikinstrumenten handelte. Obwohl Adrian die Schule für „gleichgültig und sozusagen nebensächlich“ hielt, galt er als Primus.

Als Nikolaus Leverkühn die musikalische Begabung seines Neffen erkannte, schickte er ihn zum Klavierlehrer Wendell Kretzschmar. Der etwa 26 oder 27 Jahre alte, in Pennsylvania geborene Sohn deutsch-amerikanischer Eltern hielt auch hochinteressante aber wenig besuchte Vorträge über Musik, obwohl er stotterte.

Es war ein besonders schwer und exemplarisch ausgebildetes Stottern, dem er unterlag, – tragisch, weil er ein Mann von großem, drängendem Gedankenreichtum war, der mitteilenden Rede leidenschaftlich zugetan.

Von Musikaufführungen hielt Adrian Leverkühn nicht viel. Es kam ihm nicht darauf an, zu musizieren oder Musik zu hören, er strebte weder die Karriere eines Virtuosen („Instrumental-Gaukler“), noch die eines Dirigenten („stabführende Frack-Primadonna“) an, sondern begeisterte sich für „Musik in reiner Abstraktheit“, die mathematische Strenge der Musik und die Verbindung zur Zahlenmystik. Immer wieder dachte er sich musikalische Probleme aus und löste sie wie Schachaufgaben.

Als Serenus Zeitblom den Klavierlehrer ermahnte, seinen Freund zu zügeln, entgegnete er:

„Ja, lieber Freund, wenn Sie für Gesundheit sind, – mit Geist und Kunst hat die denn wohl freilich nicht viel zu tun, sie steht sogar in einem gewissen Kontrast dazu, und jedenfalls hat das eine ums andere sich nie viel gekümmert.“

Einmal sagte Adrian zu Serenus:

„Für ein Kultur-Zeitalter scheint mir eine Spur zuviel die Rede zu sein von Kultur in dem unsrigen, meinst du nicht? Ich möchte wissen, ob Epochen, die Kultur besaßen, das Wort überhaupt gekannt, gebraucht, im Munde geführt haben. Naivität, Unbewusstheit, Selbstverständlichkeit scheint mir das erste Kriterium der Verfassung, der wir diesen Namen geben. Was uns abgeht, ist eben dies, Naivität, und dieser Mangel, wenn man von einem solchen sprechen darf, schützt uns vor mancher farbigen Barbarei, die sich mit Kultur, mit sehr hoher Kultur sogar, durchaus vertrug.“

Jedem in Kaisersaschern, der Adrian kannte, war klar, dass der Junge als erster in seiner Familie studieren würde. Tatsächlich immatrikulierte er sich an der theologischen Fakultät der Universität Halle. Dabei war ihm von Anfang an klar, dass er kein Seelsorger werden, sondern eher eine akademische Laufbahn einschlagen wollte. Serenus Zeitblom:

Die bürgerliche, empirische Seite jeder Berufsart wollte mir seiner nicht würdig erscheinen, und vergebens hatte ich mich immer nach einer umgesehen, bei deren praktischer, gewerbsmäßiger Ausübung ich ihn mir recht vorstellen konnte.

Ein halbes Jahr nach Adrians Studienbeginn in Halle folgte ihm Serenus dorthin.

1905 zog Adrian nach Leipzig und wechselte von der Theologie zur Musik. In einem Brief berichtete er seinem Freund von einem seltsamen Erlebnis. Bald nach seiner Ankunft hatte er sich von einem Fremdenführer die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen lassen und dann nach einem Gasthaus gefragt, weil er hungrig geworden war. Der Fremdenführer setzte ihn vor einem Bordell („Schlupfbude“) ab. Durch die sechs oder sieben kaum bekleideten Prostituierten geriet der sexuell völlig unerfahrene Student in Verlegenheit, durchquerte den Raum, steuerte auf das Klavier zu und schlug im Stehen zwei, drei Akkorde an.

Adrian und Serenus verloren sich für einige Jahre aus den Augen. Später erfährt Serenus Zeitblom, dass Adrian Leverkühn ein Jahr lang der Versuchung widerstand, die Prostituierte aufzusuchen, die ihn vor dem Klavier kurz am Arm berührt hatte. Er gab ihr den Namen Esmeralda. 1906 fragte er nach ihr, aber sie war nicht mehr in Leipzig. Er fand sie schließlich in Pressburg, und obwohl sie ihn wegen ihrer Syphilis-Erkrankung warnte, bestand er „auf dem Besitz dieses Fleisches“.

Fünf Wochen später bemerkte er ein Geschwür an seinen Genitalien. Der erste Arzt, den er konsultierte, Dr. Erasmi, starb gleich zu Beginn der Behandlung, und Dr. Zimbalist, dem er sich daraufhin anvertraute, wurde aus irgendeinem Grund verhaftet. Danach verzichtete Adrian auf eine Behandlung, zumal die Primärsymptome abklangen und sich keine Sekundärsymptome zu manifestieren schienen.

1910 heiratete seine inzwischen 20 Jahre alte Schwester Ursula den aus der Schweiz stammenden, etwa zehn oder zwölf Jahre älteren Optiker Johannes Schneidewein. Die beiden bekamen vier Kinder: Rosa wurde 1911 geboren, Ezechiel 1912, Raimund 1913 und Nepomuik 1923.

Im Gespräch mit Serenus wunderte sich Adrian über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Ehe:

„[Theologen haben] dem Teufel die fleischliche Vermischung weggepascht, indem wir ein Sakrament, das Sakrament der christlichen Ehe draus machten. Sehr komisch eigentlich, diese Kaperung des Natürlich-Sündhaften für das Sakrosankte durch die bloße Voranstellung des Wortes ‚christlich‘, – wodurch sich ja im Grunde nichts ändert. Aber man muss zugeben, dass die Domestizierung des Naturbösen, des Geschlechts, durch die christliche Ehe ein gescheiter Notbehelf war.“

Nach Adrian Leverkühns Tod fielen dem Biografen undatierte Aufzeichnungen über eine Teufelserscheinung seines Freundes in die Hände. Der Satan gab sich als Zuhälter von Esmeralda aus und erklärte Leverkühn, er habe im Alter von 21 Jahren einen Vertrag mit ihm geschlossen: der Koitus mit Esmeralda sei die Taufe gewesen. Aufgrund des Pakts müsse er auf Liebe verzichten:

„Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben.“

Adrian Leverkühn wollte wissen, was er von dem Teufelspakt habe:

„So wollt Ihr mir Zeit verkaufen?“
„Zeit? Bloß so Zeit? Nein, mein Guter, das ist keine Teufelsware. Dafür verdienten wir nicht den Preis, dass das Ende uns gehöre. Was für ’ne Sorte Zeit, darauf kommts an! Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht, – und auch wieder ein bisschen miserabel natürlich, sogar tief miserabel, das gebe ich nicht nur zu, ich betone es sogar mit Stolz, denn so ist es ja recht und billig, so ists doch Künstlerart und -natur.“

Der Satan erklärte dem Musiker:

„Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten.“

„Wir schaffen nichts Neues – das ist andrer Leute Sache. Wir entbinden nur und setzen frei. Wir lassen die Lahm- und Schüchternheit, die keuschen Skrupel und Zweifel zum Teufel gehen. Wir pulvern auf und räumen, bloß durch ein bisschen Reiz-Hyperämie, die Müdigkeit hinweg, – die kleine und die große, die private und die der Zeit.“

Und er schilderte ihm die Hölle:

„… ihr Wesen oder, wenn du willst, ihre Pointe ist, dass sie ihren Insassen nur die Wahl lässt zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte, – zwischen diesen beiden Zuständen flüchten sie brüllend hin und her, denn in dem einen erscheint der andre immer als himmlisches Labsal, ist aber sofort und in des Wortes höllischter Bedeutung unerträglich.“

Im Anschluss an eine Italienreise zog Adrian Leverkühn Ende 1912 nach München. Er wohnte dort zunächst in der Pension Gisella, dann in Untermiete bei der aus Bremen stammenden Senatorenwitwe Rodde und ihren beiden Töchtern Ines und Clarissa. Im Jahr darauf quartierte er sich auf dem Bauernhof von Max und Else Schweigestill in Pfeiffering an der Bahnlinie München – Garmisch-Partenkirchen ein. Dort gab es übrigens „auch eine Stallmagd mit Waberbusen und emsig mistigen Barfüßen“, die ihn an seine Kindheit erinnerte, aber Waltpurgis hieß.

Fast zur gleichen Zeit, nach Ostern 1913, erhielt Serenus Zeitblom eine Anstellung am Gymnasium in Freising und zog mit seiner Familie dorthin.

Adrian Leverkühn, der 1913/14 die Orchester-Fantasie „Die Wunder des Alls“ komponierte, klagte:

„Der Tonraum … ist zu beschränkt. Man müsste von hier aus weitergehen und aus den zwölf Stufen des temperierten Halbton-Alphabets größere Wörter bilden, Wörter von zwölf Buchstaben, bestimmte Kombinationen und Interrelationen der zwölf Halbtöne, Reihenbildungen, aus denen das Stück, der einzelne Satz oder ein ganzes mehrsätziges Werk strikt abgeleitet werden müsste.“

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Serenus Zeitblom eingezogen, aber wegen einer Typhus-Erkrankung kam er bereits ein Jahr später wieder nach Hause.

Ines Rodde heiratete im Frühjahr 1915 den Kunsthistoriker Dr. Helmut Institoris, obwohl sie in Adrian Leverkühns Freund, den Geiger Rudolf Schwerdtfeger, verliebt war. Ende 1915 wurde sie von ihrer Tochter Lukrezia entbunden, und zwei Jahre später brachte sie Zwillinge zur Welt. Doch „unter der Decke bürgerlicher Untadeligkeit“ betrog sie ihren Ehemann.

Ihre Schwester Clarissa war Schauspielerin geworden, aber die große Karriere blieb ihr versagt. In Pforzheim erlag sie eines Abends den Annäherungsversuchen eines Rechtsanwaltes („Schürzenjäger, Coulissen-Habitué und Provinz-Viveur“). Als sich ein junger elsässischer Industrieller bald darauf mit ihr verloben wollte, erpresste sie „jener rechtskundige Lump“ und machte sie mit der Drohung, die Familie ihres Bräutigams über die gemeinsame Nacht zu unterrichten, erneut gefügig. Schließlich verhinderte er die Heirat durch einen anonymen Brief. Daraufhin nahm Clarissa sich im Winter 1921/22 mit Zyansäure das Leben.

Anfang 1925 zog Marie Godeau – die Adrian Leverkühn in Zürich kennen gelernt hatte – mit ihrer Tante Isabeau Ferblantier nach München. Zwei Tage nach einem gemeinsamen Ausflug mit den Damen bat Adrian Leverkühn seinen Freund Rudolf Schwertfeger, für ihn bei Marie Godeau als Brautwerber aufzutreten. Da gestand ihm dieser, ebenfalls in die junge Dame verliebt zu sein, aber er versprach, seine Gefühle für ihn zu opfern. Marie Godeau erklärte Rudolf Schwertfeger jedoch, sie finde Adrian Leverkühn recht interessant, aber sie habe nicht vor, seine Braut zu werden. Daraufhin hielt Rudolf Schwertfeger selbst um ihre Hand an. Aber sein Glück war nicht von langer Dauer, denn Ines Rodde erschoss ihn aus Eifersucht in einer Straßenbahn.

Im Februar 1926 wurde Leverkühns avantgardistisches Oratorium „Apocalipsis cum figuris“ in Frankfurt am Main aufgeführt.

Sein Neffe Nepomuk erkrankte 1928 im Alter von fünf Jahren an Masern. Nach seiner Genesung fuhr Johannes Schneidewein mit Ursula, die durch die Pflege ihres Sohnes sehr mitgenommen war, zur Kur in den Harz. Die drei älteren Kinder blieben allein zu Hause; Nepomuk wurde Adrian Leverkühn in Pfeiffering anvertraut. Der liebte das Kind. „Nepomuk war ein Engel.“ Aber nach zwei Monaten erkrankte Nepomuk, und der Arzt meinte: „Die Sache ist mir nicht ganz geheuer.“ Das Kind war nicht zu retten.

Im Mai 1930 lud der inzwischen 45 Jahre alte Adrian Leverkühn etwa vierzig Freunde nach Pfeiffering ein, um ihnen sein neues Werk in Klavierauszügen vorzustellen: das Oratorium „Doktor Fausti Wehklag“. In seiner Einführung gestand er, in seinem 21. Lebensjahr einen Teufelspakt geschlossen zu haben.

Drum gab ich meiner Hoffahrt Zucker, dass ich theologiam studierte zu Hallen auf der Hohen Schul, doch nicht von Gottes wegen, sondern von wegen des Anderen, und war mein Gottesstudium heimlich schon des Bündnisses Anfang und der verkappte Zug zu Gott nicht, sondern zu Ihm, dem großen religosus. Was aber zum Teufel will, das lässt sich nicht aufhalten noch Ihm wehren, und war nur ein kleiner Schritt von der Gottesfakultät hinüber gen Leipzig und zu der Musik …

Hyphialta, die kleine Meerjungfrau, sei seine Braut gewesen und habe ihm den engelsgleichen Knaben Nepomuk geboren. Weil er aber mit dem Satan vereinbart hatte, dass er kein menschliches Wesen lieben durfte, habe das Kind sterben müssen.

Endlich setzte er sich ans Klavier und öffnete den Mund, aber er brachte nur einen Klagelaut heraus, dann brach er zusammen.

Um die seit 1926 verwitwete Mutter seines Freundes nicht vorzeitig zu beunruhigen, unterrichtete Serenus Zeitblom sie erst, als sich Adrians Zustand nach drei Monaten Behandlung in Dr. von Hösslins Nervenheilanstalt in München-Nymphenburg gebessert hatte. Adrian erfuhr von dem bevorstehenden Besuch, brach aus der geschlossenen Anstalt aus und versuchte sich im Klammerweiher zu ertränken. Aber er wurde gerettet und schließlich von seiner Mutter mit nach Thüringen genommen, wo er ihr wie ein Kleinkind gehorchte.

Als 80-Jährige musste sie im August 1940 den Tod ihres Sohnes erleben.

Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte.

An mehreren Stellen schreibt Serenus Zeitblom über das, was in Deutschland geschieht, während er die Biografie über Adrian Leverkühn verfasst. Ein Beispiel:

Wir sind verloren. Will sagen: der Krieg ist verloren, aber das bedeutet mehr als einen verlorenen Feldzug, es bedeutet tatsächlich, dass wir verloren sind, verloren unsere Sache und Seele, unser Glaube und unsere Geschichte. Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab, – ich will es nicht gewünscht haben, was droht, denn es ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn. Ich will es nicht gewünscht haben, weil viel zu tief mein Mitleid, mein jammervolles Erbarmen ist mit diesem unseligen Volk, und wenn ich an seine Erhebung und blinde Inbrunst, den Aufstand, den Aufbruch, Ausbruch und Umbruch, den vermeintlich reinigenden Neubeginn, die völkische Wiedergeburt von vor zehn Jahren denke – diesen scheinbar heiligen Taumel, in den sich freilich, zum warnenden Zeichen seiner Falschheit, viel wüste Roheit, viel Schlagetot-Gemeinheit, viel schmutzige Lust am Schänden, Quälen, Erniedrigen mischte, und der, jedem Wissenden unverkennbar, den Krieg, diesen ganzen Krieg schon in sich trug –, so krampft sich mir das Herz zusammen vor der ungeheuren Investition an Glauben, Begeisterung, historischem Hoch-Affekt, die damals getätigt wurde und nun in einem Bankrott ohnegleichen verpuffen soll. Nein, ich will’s nicht gewünscht haben – und hab‘ es doch wünschen müssen – und weiß auch, dass ich’s gewünscht habe, es heute wünschen und es begrüßen werde: aus Hass auf die frevlerische Vernunftverachtung, die sündhafte Renitenz gegen die Wahrheit, den ordinär schwelgerischen Kult eines Hintertreppenmythos, die sträfliche Verwechslung des Heruntergekommenen mit dem, was es einmal war, den schmierenhaften Missbrauch und elenden Ausverkauf des Alt- und Echten, des Treulich-Traulichen, des Ur-Deutschen, woraus Laffen und Lügner uns einen sinnberaubenden Giftfusel bereitet. Der Riesenrausch, den wir immer Rauschlüsternen uns daran tranken, und in dem wir durch Jahre trügerischen Hoch-Lebens ein Übermaß des Schmählichen verübten, – er muss bezahlt sein.

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1905 notierte Thomas Mann:

Figur des syphilitischen Künstlers: Als Dr. Faust und dem Teufel Verschriebener. Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf in entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufel: Paralyse.

Die Faust-Legende geht auf Johann Georg Faust (um 1480 – um 1540) zurück. Der ungewöhnliche Mensch aus Württemberg, der ein unstetes Wanderleben führte, stand im Ruf, ein Magier, Astrologe und Alchimist zu sein und mit dem Teufel im Bunde zu stehen. 1587 erschien bei J. Spieß in Frankfurt am Main als erste literarische Gestaltung der Legende die „Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler“. Der unbekannte Dichter dieses Volksbuches erzählt, wie Faust seine Seele dem Teufel verschrieb, um in die Geheimnisse der Welt eingeweiht zu werden. Der Autor stellt den humanistischen Wissensdrang als menschliche Vermessenheit und Aufbegehren wider Gott dar und warnt davor.

Adrian Leverkühn sucht nach der verlorenen Naivität. Der Musiker, der sich vor dem Unschöpferischen und Epigonalen fürchtet, befreit sich durch die Krankheit von den Fesseln der Konventionen. In den euphorischen, rauschhaften Phasen der Erkrankung gewinnt er eine schöpferische Kraft, die nicht durch Verstand und Besonnenheit niedergehalten wird. Für diese Genialität bezahlt er mit depressiven Phasen und am Ende mit dem Tod.

Das letzte große Werk des Nobelpreisträgers Thomas Mann kann als Faust- und Künstlerroman, aber auch als Gesellschafts- und Deutschlandroman verstanden werden, weil der fiktive Biograf Dr. Serenus Zeitblom immer wieder Bezüge zu den Vorgängen im Deutschen Reich herstellt. Es ist kein Zufall, dass der Zusammenbruch Leverkühns im Jahr 1930 mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus zusammenfiel. Vielleicht assoziierte Thomas Mann auch den Teufelspakt des genialen Künstlers mit dem Stalin-Pakt des größenwahnsinnigen „Führers“. Aber zwei grundlegende Differenzen dürfen nicht übersehen werden: Leverkühn ging es um die avantgardistische Kreativität in der Kunst; Hitler dagegen beschwor die Barbarei herauf. Und während Leverkühn seinen Frevel am Ende zerknirscht bereute, war 1945 bei den Deutschen und gar den führenden Nationalsozialisten von Reue nicht die Rede.

Durch den fiktiven Erzähler Dr. Serenus Zeitblom gewinnt Thomas Mann eine zweite Zeitebene und eine zusätzliche Perspektive, aus der heraus berichtet und kommentiert wird. Sowohl Adrian Leverkühn als auch Serenus Zeitblom weisen autobiografische Züge des Schriftstellers auf.

Immer wieder betont Serenus Zeitblom durch Kommentare, Bemerkungen zur Zeitgeschichte und Äußerungen über den Prozess des Schreibens – zum Beispiel Kritik am gerade abgeschlossenen Kapitel, Gedanken zur Kapiteleinteilung und Überlegungen über die Wirkung des Geschriebenen auf den Leser –, dass es sich bei dem Text nicht um eine fiktive „Geschichte“, sondern um einen Bericht handele. Szenische Darstellungen sind dementsprechend selten; es überwiegen zum Teil ermüdend langatmige Schilderungen und Beschreibungen.

In diese parallelen Handlungsstränge montiert Thomas Mann außerdem einen Brief Adrian Leverkühns aus dem Jahr 1905, undatierte Aufzeichnungen des Künstlers über seinen Pakt mit dem Teufel und seitenlange Zitate mündlicher Ausführungen seiner Figuren.

Offenbar verdankte Thomas Mann vieles von dem, was er über Musik schrieb, Theodor W. Adorno (1903 – 1969). Dabei kam es auch zu Fehlern. Zum Beispiel heißt es bei Adorno über eine Sonate von Ludwig van Beethoven: „Hier wird die Melodie gleichsam vom Eigengewicht der Akkorde überwogen.“ Daraus wurde bei Thomas Mann ein absurder Satz, den er Wendell Kretzschmar in den Mund legt: „Bitte zu hören, wie hier – die Melodie vom Fugengewicht – der Akkorde überwogen wird!“

Arnold Schönberg (1874 – 1951) ärgerte sich darüber, dass Thomas Mann die Zwölftonmusik als Erfindung seines Protagonisten (und gewissermaßen als Teufelswerk) darstellte. Thomas Mann entschuldigte sich am 17. Februar 1948 in einem Brief bei dem Komponisten und sorgte dafür, dass ab 1951 am Ende des Buches ein Hinweis auf Schönbergs Urheberschaft steht.

Einige Persönlichkeiten wie Otto Klemperer und Bruno Walter sind – wenn auch in fiktiven Zusammenhängen – namentlich erwähnt. Der Protagonist Adrian Leverkühn weist Übereinstimmungen mit Hugo Wolf und Friedrich Nietzsche auf. Die unterschwellig homoerotische Beziehung von Adrian Leverkühn und dem Geiger Rudolf Schwertfeger lässt an Thomas Manns Freundschaft mit dem Maler und Geiger Paul Ehrenberg denken. Ein anderer Freund Leverkühns, Rüdiger Schildknapp, trägt Züge des mit Thomas Mann befreundeten Lyrikers und Übersetzers Hans Raisiger. Die deutsch-französische Schriftstellerin Jeanette Scheurl erinnert an Annette Kolb. Einige wollen in der Figur des Dr. Helmut Institoris den Bankdirektor Hofrat Löhr erkannt haben. Ob Thomas Mann bei dem Privatdozenten für Religionspsychologie in Halle, Eberhard Schleppfuß, „diesem personifizierten Abfall von Gott“, an Joseph Goebbels dachte? Frau Rodde und ihre Töchter Ines und Clarissa sind offenbar Thomas Manns Mutter Julia und seinen Schwestern Julia und Clara nachempfunden.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Katia Mann

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