Javier Marías : Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß
Originalausgabe: Corazón tan blanco Barcelona 1992 Mein Herz so weiß Übersetzung: Elke Wehr Klett-Cotta, Stuttgart 1996
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Gleich zu Beginn bringt sich eine junge Frau um. Erst ganz zum Schluss erfahren wir den Grund. Aber "Mein Herz so weiß" ist kein Kriminalroman; Javier Marías bietet den Leserinnen und Lesern keine aktionsreiche Handlung, sondern sinnt stattdessen schwermütig-pessimistisch über die Ehe nach.
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Kritik

Aus Überlegungen und Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, die das Thema wiederholen, variieren und kontrapunktieren, komponiert Javier Marías auf geniale Weise den Roman "Mein Herz so weiß", der weniger Erzählung als grandiose Poesie ist.
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Suizid

Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, dass eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Esszimmer befand, ihr Herz suchte. Als der Knall ertönte, etwa fünf Minuten, nachdem das Mädchen den Tisch verlassen hatte, stand der Vater nicht sofort auf, sondern verharrte ein paar Sekunden lang wie gelähmt mit vollem Mund und wagte nicht zu kauen noch zu schlucken und noch weniger, den Bissen auf den Teller zurückzuspucken; und als er sich endlich erhob und zum Badezimmer lief, sahen jene, die ihm folgten, wie er, als er den blutüberströmten Körper seiner Tochter entdeckte und die Hände an den Kopf hob, den Bissen Fleisch im Mund hin und her bewegte, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte.

Mit diesen Worten beginnt Javier Marías‘ Roman „Mein Herz so weiß“.

Bei der Selbstmörderin handelt es sich um Teresa Aguilera. Der Witwer Ranz heiratet nach einiger Zeit Juana, die jüngere Schwester der Toten. Er und Juana sind die Eltern des Erzählers Juan.

Juan und Luisa

Vor zweiundzwanzig Monaten lernten Juan und Luisa sich kennen. Sie dolmetschen beide für internationale Organisationen und sahen sich erstmals, als Juan das offizielle Gespräch des spanischen Regierungschefs mit seiner britischen Kollegin übersetzte und Luisa als Ko-Dolmetscherin fungierte. Als die beiden Regierenden sich nichts außer ein paar Politikerphrasen zu sagen wussten, lenkte Juan ihr Gespräch durch frei erfundene Übersetzungen in eine andere Richtung. Erst legte er dem Spanier eine Frage in den Mund: „Sagen Sie, liebt man Sie eigentlich in Ihrem Land?“ Als daraufhin eine Diskussion in Gang kam und Luisa ihn nicht verriet, schob er einen weiteren erfundenen Satz nach: „Wenn ich Sie fragen darf und Ihnen nicht zu nahe trete, haben Sie, in Ihrem Liebesleben, jemanden gezwungen, Sie zu lieben?“

Ein Jahr später heirateten Juan und Luisa. Er war damals 34. Am Tag vor der Hochzeit dachte er über die bevorstehende Änderung ihrer Beziehung nach:

„Ich werde nicht mehr allein schlafen, nur gelegentlich oder auf Reisen“, hatte ich gedacht, während ich nicht recht wusste, ob ich das Licht einschalten oder die Morgendämmerung über den Gebäuden und über den Bäumen aufsteigen sehen sollte. „Von morgen an und vermutlich viele Jahre lang werde ich nicht den Wunsch haben können, Luisa zu sehen, weil ich sie schon sehe, sobald ich die Augen aufschlage. Ich werde mich nicht fragen können, welches Gesicht sie wohl heute hat oder wie sie gekleidet sein mag, weil ich ihr Gesicht von heute an sehen werde, und vielleicht werde ich sehen, wie sie sich anzieht, es kann sein, dass sie sich sogar so anzieht, wie ich ihr sage, wenn ich ihr meine Vorlieben nenne. Von morgen an wird es die kleinen Ungewissheiten nicht mehr geben, die fast ein Jahr lang meine Tage angefüllt haben oder bewirkt haben, dass die Tage auf die bestmögliche Weise gelebt wurden, das heißt im Zustand vager Erwartung und vager Unwissenheit. Ich werde zuviel wissen, ich werde mehr über Luisa wissen, als ich will, ich werde vor Augen haben, was mich an ihr interessiert und was mich nicht interessiert, es wird weder Auswahl noch Wahl geben, die geringfügige oder minimale tägliche Wahl, die darin bestand, sich anzurufen, sich zu verabreden, sich mit suchenden Augen am Eingang eines Kinos oder zwischen den Tischen eines Restaurants zu treffen oder aber sich zurechtzumachen und sich auf den Weg zu begeben, um sich zu besuchen. Ich werde nicht das Ergebnis, sondern den Prozess sehen, der mich womöglich nicht interessiert.

Bei dem Gedanken an die Ehe fühlte Juan sich unwohl.

Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiss, ob er es will.

Jede Beziehung zwischen Menschen ist immer eine Ansammlung von Problemen, Auseinandersetzungen, auch von Kränkungen und Demütigungen.

Auf ihrer Hochzeitsreise besuchten sie Miami, New Orleans, Mexiko und Havanna. Juans Großmutter – die Mutter von Teresa und Juana Aguilara – stammte aus Havanna. Sie war als Kleinkind 1898 mit ihren Eltern nach Madrid gekommen.

Miriam

In Havanna fühlte Luisa sich eines Nachmittags unwohl und legte sich ins Hotelbett. Juan trat auf den Balkon hinaus. Dort fiel ihm eine etwa 30 Jahre alte Mulattin auf, die offensichtlich mit jemand verabredet war und wartete. Als sie ihn bemerkte, schrie sie von der Straße herauf: „Du, was machst du denn da? Hast denn du nicht gesehen, dass ich seit einer Stunde auf dich warte? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schon raufgegangen bist? […] Ich bring dich um, du Mistkerl! Ich schwör dir, ich bring dich an Ort und Stelle um!“

Luisa richtete sich im Bett auf.

Sie saß aufrecht, ihr Büstenhalter hatte sich verschoben, während sie schlief, oder bei der heftigen Bewegung, mit der sie sich soeben aufgerichtet hatte: er saß schief, eine Schulter und fast eine Brust waren entblößt, er musste in ihre Haut schneiden, sie hatte ihn wohl durch die Bewegungen des eigenen, des im schläfrigen Unwohlsein vergessenen Körpers hinuntergestreift.
„Was ist?“, sagte sie furchtsam.
„Nichts“, sagte ich. „Schlaf weiter.“

Beim Näherkommen merkte die Mulattin die Verwechslung und entschuldigte sich bei Juan. Da ging die Balkontür des Nachbarzimmers auf und ein Mann rief: „Miriam!“ Offenbar handelte es sich um den Mann, auf den sie gewartet hatte. Er hieß Guillermo, und an der Sprache erkannte Juan, dass es sich um einen Spanier handelte. Miriam ging zu ihm ins Zimmer. Als er beteuerte, seine in Spanien zurückgebliebene Frau liege im Sterben, schimpfte Miriam: „Aber sie stirbt nicht. Sie liegt im Sterben, aber sie stirbt nicht, so geht das schon ein Jahr. Bring sie endlich um, du musst mich hier rausholen.“ Und schließlich drohte sie: „Wenn du sie nicht umbringst, bring ich mich um. Du wirst eine Tote haben, sie oder mich.“

Luisa hatte die Auseinandersetzung im Nachbarzimmer offenbar ebenfalls gehört, denn später wird sie zu Juan sagen, sie glaube nicht, dass Miriam noch eine Chance habe, von Guillermo geheiratet zu werden.

„Mit dieser Miriam gibt es keinen künftigen Gewinn, nur den, der jetzt schon da ist und in jedem Fall abnehmen wird, wozu es ändern: weniger hübsch, weniger Begehren, mehr Wiederholung. Diese Frau hat alle ihre Karten ausgespielt, schon von Anfang an blieb ihr keine gute mehr, sie birgt keine Überraschung, sie kann nicht mehr geben als sie schon gibt.“

New York

Einige Wochen nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise, Mitte September, begann in New York eine achtwöchige Sitzungsperiode der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Luisa arbeitete seit der Eheschließung nicht mehr viel und blieb meistens in Madrid, wo sie die Wohnung mit Hilfe ihres Schwiegervaters einrichtete. Juan quartierte sich in New York, wie üblich, bei Berta ein, einer vier Jahre älteren Spanierin, die ebenfalls Dolmetscherin ist und vor 12 Jahren wegen eines Mannes nach New York gegangen war. Nach drei Jahren hatte sie sich scheiden lassen, zwei Jahre später wieder geheiratet, aber auch diese Ehe war nach einem Jahr zerbrochen. Seit einem Autounfall vor sechs Jahren hinkt sie wegen eines verkürzten Beins. Sie hatten sich an der Universität in Madrid kennen gelernt und damals, vor 15 Jahren, auch drei, vier Mal miteinander geschlafen. Seither sind sie gute Freunde.

Berta sucht inzwischen über Partnervermittlungen nach Männerbekanntschaften. Während Juans Besuch im letzten Jahr, von Mitte September bis Mitte November, geriet sie an einen geheimnisvollen Spanier, der sich als Amerikaner ausgab und behauptete, wegen seiner Prominenz vorsichtig sein zu müssen. Sie tauschten Videos aus, aber Bill zeigte sein Gesicht nicht und verlangte zuerst ein Video von Berta, auf dem er ihren nackten Körper sehen konnte. Berta war bereit, sich zu erniedrigen und bat Juan, sie nackt zu filmen. Das Video gefiel Bill offenbar, denn er verabredete sich mit Berta und verbrachte einen Abend mit ihr. (Später erfährt Juan, dass es bei diesem einen Treffen geblieben ist.)

Ranz

Ranz, Juans Vater, war viele Jahre einer der Kunstsachverständigen des Prado-Museums. Inzwischen ist er im Ruhestand. Juana starb vor einiger Zeit.

Juan hatte immer geglaubt, was man ihm als Kind gesagt hatte: seine Tante Teresa sei an einem Herzanfall gestorben. Erst vor einem Jahr erfuhr er von Custardoy jr., dem Sohn eines Freundes von Ranz, dass Teresa sich vor fast 40 Jahren erschossen hatte. Außerdem sprach Custardoy von drei toten Frauen seines Vaters. Da fiel Juan ein, dass seine Großmutter vor etwa 25 Jahren einmal seinem Vater zu bedenken gegeben hatte: „Du hast schon zwei verloren, mein Sohn.“ Aber Ranz sprach nie davon, dass er dreimal verheiratet war.

Im Februar, also ein Vierteljahr nach seiner Rückkehr aus New York, musste Juan für acht Wochen nach Genf. Luisa besuchte ihn dort, und sie aßen mit einem Freund seines Vaters zu Abend: Professor Villalobos war 15 Jahre älter als Juan. Er hatte Teresa noch gekannt. Seine Eltern waren zum Essen eingeladen gewesen, als sie sich umgebracht hatte. Villalobos behauptete, Juans Großvater habe Ranz danach wie den Teufel gefürchtet und sich Sorgen um seine jüngere Tochter Juana gemacht. Den Herzinfarkt, an dem er gestorben war, hielt Villalobos für ein Symptom dieser panischen Angst. Von Ranz‘ erster Frau wusste er nur, dass es sich um eine Kubanerin gehandelt hatte, die bei einem Brand ums Leben gekommen sein soll.

Weil der letzte Freitag im März ein Feiertag war und die Sitzungsperiode in Genf deshalb bereits am Donnerstag endete, kehrte Juan ohne Ankündigung einen Tag früher als geplant nach Madrid zurück. Seine Frau war nicht zu Hause. Er legte sich ins Bett und schlief ein.

Drei Stunden später erwachte er und hörte, wie Luisa mit seinem Vater im Wohnzimmer sprach. Während Ranz einmal die Frage seines Sohnes nach der Vergangenheit brüsk abgewehrt hatte, erzählte er nun Luisa, was geschehen war.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Ranz war von 1956 bis 1958 in Havanna gewesen und hatte dort eine Kubanerin geheiratet. Ein Jahr nach der Hochzeit lernte er Teresa kennen, die mit Mutter und Schwester zu Besuch in Havanna war. Um frei zu sein und Teresa heiraten zu können, brachte Ranz seine Frau im Schlaf um. Dann legte er brennende Zigaretten aufs Bett und ging mit spanischen Unternehmern zum Abendessen; anschließend zog er noch mit ihnen durch die Kneipen. Inzwischen war das Schlafzimmer ausgebrannt und die Leiche seiner Frau verkohlt. Alle nahmen an, dass die junge Frau geraucht hatte und eingeschlafen war. Es gab keine Autopsie und keinen Verdacht. Auf der Hochzeitsreise sagte Ranz in einem Hotel in Toulouse zu Teresa: „Ich liebe dich so sehr, dass ich für dich töten würde.“ Und als sie lachte und ihn nicht ernst nahm, gestand er ihr: „Ich habe es schon getan.“ Das war der Grund für ihren Suizid.

Juana erfuhr dagegen nie etwas davon. Sie starb eines natürlichen Todes.

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Der Titel „Mein Herz so weiß“ ist ein Zitat aus „Macbeth“ von William Shakespeare. Nachdem Macbeth König Duncan erstach, klagt seine Frau: „My hands are of your colour; but I shame to wear a heart so white.“ (Meine Hände sind blutig, wie die deinen, doch ich schäme mich, dass mein Herz so weiß ist. 2. Akt, 1. Szene)

Gleich zu Beginn bringt sich eine junge Frau um. Erst ganz zum Schluss erfahren wir den Grund. Aber „Mein Herz so weiß“ ist kein Kriminalroman; Javier Marías bietet den Leserinnen und Lesern keine aktionsreiche Handlung, sondern sinnt stattdessen schwermütig-pessimistisch über die Ehe nach. Es geht um die Beeinträchtigung der Liebesbeziehung durch die Selbstverständlichkeit des täglichen Zusammenseins (siehe Zitat) und die Versuchung, den Ehepartner umzubringen, um frei zu werden für eine neue Beziehung.

Nicht von ungefähr sind Juan und Luisa Dolmetscher: Die Sprache spielt eine große Rolle; es zeigt sich, dass eine Mitteilung tödliche Folgen haben kann.

Ungewöhnlich ist die zeitliche Struktur des Romans „Mein Herz so weiß“. Im Hier und Jetzt wird nur erzählt; die entscheidenden Ereignisse liegen 40 Jahre zurück. Der Erzähler erinnert sich im Herbst 1991 an seine Hochzeitsreise vor gut einem Jahr, seine Aufenthalte in New York von Mitte September bis Mitte November 1990 und in Genf von Februar bis März 1991. In dieser Zeit erfuhr er – nicht zuletzt durch seine Frau –, was sich im Leben seines Vaters vor etwa 40 Jahren abspielte.

Aus Überlegungen und Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, die das Thema wiederholen, variieren und kontrapunktieren, komponiert Javier Marías einen 360 Seiten langen Roman, der weniger Erzählung als grandiose Poesie ist.

Marcel Reich-Ranicki schwärmte über „Mein Herz so weiß“: „Ich bin überzeugt, und ich scheue mich nicht zu sagen, dass es ein geniales Buch ist. Ich habe seit vielen Jahren, ich kann es nicht präziser sagen, kein Buch gelesen, das mich so getroffen hat. Dies ist ein Meisterwerk, es ist ein ganz großes Meisterwerk.“

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Klett-Cotta

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Die Entscheidung