Herta Müller : Atemschaukel

Atemschaukel
Atemschaukel Manuskript: März 2009 Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2009 ISBN: 978-3-446-23391-1, 303 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Januar 1945 wird der 17-jährige Leopold Auberg aus Hermannstadt zusammen mit anderen Siebenbürger Sachsen in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert. Fünf Jahre lang kämpft er dort darum, nicht zu verhungern und die Willkür der Aufpasser zu überleben. Seinen Eltern darf er nicht schreiben, und er erhält von ihnen 1947 eine einzige Karte mit dem aufgenähten Foto eines Säuglings. Da denkt er: "Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen." – 1950 kommt er nach Hause.
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Kritik

Herta Müller lässt den (fiktiven) Siebenbürger Sachsen Leopold Auberg in der Ich-Form erzählen, was er von 1945 bis 1950 in einem sowjetischen Arbeitslager erlebte. Der aus einer Aneinanderreihung von 64 Kapiteln bestehende Roman "Atemschaukel" ist ebenso anspruchsvoll wie ergreifend.
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Am 15. Januar 1945 um 3 Uhr nachts holen zwei Polizisten in Hermannstadt den siebzehnjährigen Leopold Auberg in der Wohnung seiner Eltern ab und bringen ihn zusammen mit anderen Siebenbürger Sachsen zu einem Sammellager.

Sein Vater ist Zeichenlehrer, und während der Saison geht er sonntags auf die Jagd.

Montags sah ich ihm zu, wie er den geschossenen Hasen das Fell abzog. So nackig gehäutet, bläulichsteif und langgestreckt glichen die Hasen den sächsischen Turnerinnen an der Stange. Die Hasen wurden gegessen. Die Felle an die Schuppenwand genagelt und nach dem Trocknen auf den Dachboden in eine Blechtruhe gelegt. Alle halbe Jahr kam der Herr Fränkel sie abholen. Dann kam er nicht mehr. Mehr wollte man nicht wissen. Er war Jude, rotblond, groß, schlank fast wie ein Hase. Auch der kleine Ferdi Reich und seine Mutter, die bei uns unten im Hof wohnten, waren nicht mehr da. Mehr wollte man nicht wissen.
Es war leicht, nichts zu wissen. Es kamen Flüchtlinge aus Bessarabien und Transnistrien, sie wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es kamen deutsche Soldaten aus dem Reich, wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es gingen Nachbarn und Verwandte und Lehrer in den Krieg zu den rumänischen Faschisten oder zum Hitler. Und es kamen manche in den Fronturlaub und andere nicht. Und es gab Scharfmacher, die sich vor der Front drückten, aber zu Hause hetzten und in Uniform auf den Tanzball und ins Kaffeehaus gingen. (Seite 56)

Leopold ist froh, aus Hermannstadt fortzukommen, denn er ist homosexuell und lebte in ständiger Furcht davor, beim „Wildwechsel“ im Erlenpark oder mit einem Partner im Neptunbad erwischt zu werden. Er wäre dann hart bestraft worden. Allerdings erwarten Leopold keine Ferien, sondern er wird wie die anderen zwischen siebzehn und fünfundvierzig Jahre alten Männer und Frauen im Viehwaggon zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gebracht.

[…] die Prozedur des Einsteigens habe ich vergessen, weil wir so lange Tage und Nächte im Viehwaggon fuhren, als wären wir schon immer drin gewesen. (Seite 16)

In dem Waggon, der zwei Wochen lang unterwegs ist, sitzt Leopold neben Trudi Pelikan. Sie kommen in das Arbeitslager Nowo-Gorlowka und werden in eines der fünf Arbeitsbataillone eingeteilt.

Wir stellten uns auf in Reih und Glied – welch ein Ausdruck für diese fünf Elendsregimenter aus dicken Augen, großen Nasen, hohlen Wangen. Die Bäuche und Beine waren aufgepumpt mit dem dystrophischen Wasser. Ob Frost oder Gluthitze, ganze Abende vergingen im Stillgestanden. Nur die Läuse durften sich rühren an uns. Beim endlosen Durchzählen konnten sie sich vollsaufen und Paradegänge absolvieren über unser elendiges Fleisch, uns stundenlang vom Kopf bis in die Schamhaare kriechen. Meist hatten sich die Läuse schon satt gesoffen und in die Steppnähte der Watteanzüge schlafen gelegt, und wir standen immer noch still. Der Lagerkommandant Schischtwanjonow schrie noch immer. Seinen Vornamen kannten wir nicht. Er hieß nur Towarischtsch Schischtwanjonow. Das war lang genug, um vor Angst zu stottern, wenn man es aussprach […]
Ich übte beim Appell, mich beim Stillstehen zu vergessen und das Ein- und Ausatmen nicht voneinander zu trennen. Und die Augen hinaufzudrehen, ohne den Kopf zu heben. Und am Himmel eine Wolkenecke suchen, an die man seine Knochen hängen kann. Wenn ich mich vergessen und den himmlischen Haken gefunden hatte, hielt er mich fest. Oft gab es keine Wolke, nur einerlei Blau wie offenes Wasser.
Oft gab es nur eine geschlossene Wolkenecke, einerlei Grau.
Oft liefen die Wolken, und kein Haken hielt still.
Oft brannte der Regen in den Augen und klebte mir die Kleider an die Haut.
Oft zerbiss der Frost mir die Eingeweide.
An solchen Tagen drehte mir der Himmel die Augäpfel hinauf, und der Appell zog sie hinunter – die Knochen hingen ohne Halt nur in mir allein. (Seite 27f)

Die russischen Befehle hörten sich an wie der Name des Lagerkommandanten Towarischtsch Schischtwanjonow, ein Knirschen und Krächzen aus Ch, Sch, Tsch, Schtsch. Den Inhalt der Kommandos verstanden wir sowieso nicht, aber die Verachtung. An Verachtung gewöhnt man sich. Mit der Zeit klangen die Befehle nur noch wie ständiges Räuspern, Husten, Niesen, Schnäuzen, Spucken – wie Schleimauswerfen. (Seite 30)

Der Kapo Arthur („Tur“) Prikulitsch ist kein Russe, sondern er stammt aus dem Gebirgsdorf Lugi im Dreiländereck der Karpato-Ukraine, aber er gehört gewissermaßen zu den Russen. Er hat eine Geliebte im Lager, sie heißt Beatrice („Bea“) Zakel, kommt ebenfalls aus Lugi und saß als Kind mit Tur in derselben Schulbank.

In der Nähe des Lagers werden sechs Wohnhäuser für Russen gebaut.

Zement reichte nie. Kohle gab es mehr als genug. Auch Schlackoblocksteine, Schotter und Sand gab es genug. Der Zement aber ging immer aus. Er wurde von sich aus weniger. Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte zum Alptraum werden. Nicht nur von sich aus, sogar in sich selbst konnte Zement verschwinden. Dann war alles voller Zement, und es war kein Zement mehr da.
Der Brigadier schrie: Auf Zement muss man aufpassen.
Der Vorarbeiter schrie: Zement muss man sparen.
Und wenn es regnete oder schneite: Zement darf nicht nass werden.
Zementsäcke sind aus Papier. Das Zementsackpapier ist zu dünn für einen vollen Sack. Man kann den Sack allein oder zu zweit tragen, am Bauch oder an seinen vier Ecken packen – er reißt. Mit einem zerrissenen Sack kann man Zement nicht mehr sparen. Bei einem trockenen zerrissenen Zementsack läuft die Hälfte auf den Boden. Bei einem feuchten zerrissenen Zementsack bleibt die Hälfte am Papier kleben […]
Man schuftet und hört seinen eigenen Herzschlag und: Zement darf nicht nass werden, Zement darf nicht wegfliegen. Aber Zement streut sich, ist selbstvergeuderisch und mit uns geizig bis ins Letzte. (Seite 36 / 39)

Plötzlich ist ein gellender Schrei einer Zwangsarbeiterin namens Irma Pfeifer zu hören.

Wir sind mit Schaufeln und Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir mussten alles aus den Händen fallenlassen. Ruki na sad, Hände auf den Rücken – mit einer erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen.
Die Irma Pfeifer lag mit dem Gesicht nach unten, der Mörtel machte Blasen. Erst schluckte der Mörtel ihre Arme, dann schob sich die graue Decke bis zu den Kniekehlen hoch. Ewig lang, ein paar Sekunden, wartete der Mörtel mit gekräuselten Rüschen. Dann schwappte er mit einem Mal bis zur Hüfte. Zwischen Kopf und Mütze wackelte die Brühe. Der Kopf sank und die Mütze hob sich. Mit den gespreizten Ohrenklappen trieb die Mütze langsam an den Rand wie eine aufgeplusterte Taube. Der Hinterkopf, kahlgeschoren mit den verkrusteten Läusebissen, hielt sich noch oben wie eine halbe Zuckermelone. Als auch der Kopf geschluckt war, nur noch der Buckel herausschaute, sagte der Bauleiter: Schalko, otschin Schalko. (Seite 68)

Der Bauleiter behauptet, Irma Pfeifer sei absichtlich in die Mörtelgrube gesprungen, aber die Häftlinge vermuten, dass sie einen nassen Zementsack vor dem Bauch trug und deshalb nicht sah, wohin sie ihren Fuß setzte.

Nach der Arbeit geht Leopold mit einem gestohlenen Stück Anthrazitkohle im Russendorf betteln.

Ich klopfte an eine Tür. Eine alte Russin öffnete, nahm mir die Kohle ab und ließ mich ins Haus. Das Zimmer war niedrig, in der Wand das Fenster so tief wie mein Knie. Auf einem Hocker standen zwei magere, grauweiß gescheckte Hühner […]
Die alte Frau redete seit einer Weile. Ich verstand nur hie und da ein Wort, spürte aber, worum es ging […] Dass sie einen Sohn in meinem Alter hat, dass er Boris heißt und von zu Hause so weit weg ist wie ich, in der anderen Richtung, in einem Lager in Sibirien, in einem Strafbataillon, weil ein Nachbar ihn denunziert hat […] Sie zeigte auf den Stuhl, und ich setzte mich an die Tischecke. Sie nahm mir die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Sie legte einen Holzlöffel neben die Mütze. Dann ging sie zum Herd und schöpfte aus dem Topf Kartoffelsuppe in eine Blechschüssel. Es war bestimmt ein Liter Suppe. Ich löffelte, sie stand neben meiner Schulter und schaute mir zu. Die Suppe war heiß, ich schlürfte und schielte zu ihr. Und sie nickte. Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß […] Die Suppe heizte mich bis in die Zehen. Meine Nase tropfte. Abadschij, warte, sagte die Russin und brachte aus dem Nebenzimmer ein schneeweißes Taschentuch. Sie gab es mir in die Hand und drückte meine Finger zu, als Zeichen, dass ich es behalten soll. Sie schenkte es mir. Und ich wagte nicht, mich zu schnäuzen. Was da geschah, ging weit über das Geschäftliche des Hausierens und mich und sie und ein Taschentuch hinaus. Es betraf ihren Sohn […] Mir war es peinlich, dass ich da war, dass ich nicht er war. (Seite 76ff)

Das weiße Taschenbuch aus Batist hatte noch niemand benutzt. Auch ich habe es nie benutzt, aber wie eine Art Reliquie von einer Mutter und einem Sohn bis zum letzten Tag im Koffer aufbewahrt. Und schließlich auch nach Hause mitgenommen.
Im Lager hatte so ein Taschentuch nichts zu suchen. Ich hätte es all die Jahre auf dem Basar für etwas Essbares tauschen können. Ich hätte Zucker oder Salz dafür bekommen, vielleicht sogar Hirse. Die Versuchung war da, der Hunger blind genug. Was mich abhielt: Ich glaubte, das Taschentuch ist mein Schicksal. Wenn man sein Schicksal aus der Hand gibt, ist man verloren. (Seite 79f)

Irgendjemand schleppt eine Kuckucksuhr an und hängt sie in der Baracke auf. Allerdings ruft der Kuckuck zu falschen Zeiten. Der Dreher Anton Kowatsch, der im Lagerorchester Schlagzeuger und Trommler ist, erklärt den anderen, in Bezug auf andere Weltzeiten seien die Kuckucksrufe korrekt.

Der Kowatsch Anton war in die ganze Uhr vernarrt […] Aber alle anderen in der Baracke wollten weder in den Weltgegenden des Kuckucks wachliegen noch schlafen. (Seite 98)

Kowatsch will die Uhr reparieren.

Aber bevor er die Gewohnheiten des Kuckucks in den Griff bekam, hatte jemand den Kuckuck aus der Uhr gerissen. Das Türchen des Kuckucks hing schief im Scharnier. Und wenn das Uhrwerk den Vogel zum Singen animieren wollte, ging das Türchen zwar halbwegs auf, aber es trat statt des Kuckucks ein Stückchen Gummi wie ein Regenwurm aus dem Gehäuse. (Seite 98)

Die Zwangsarbeiter, die am Morgen von einer hässlichen Frau namens Fenja ihre Brotration für den Tag bekommen, können die paar Brocken sofort aufessen oder sich wenigstens einen Teil davon für den Abend aufsparen. Als Albert Gion von der Arbeit zurückkommt, fehlt unter seinem Kopfkissen das Brot, das er sich seit fünf Tagen aufgespart hat. Da Karli Halmen an diesem Tag frei hatte und sich allein in der Baracke aufhielt, gibt es keinen Zweifel, wer das Brot gestohlen hat.

Das Brot war nicht da, und Karli Halmen saß in der Unterwäsche auf seinem Bett. Albert Gion brachte sich vor ihm in Stellung und gab ihm, ohne ein Wort, drei Fäuste auf den Mund. Karli Halmen spuckte, ohne ein Wort, zwei Zähne aufs Bett. Der Akkordeonspieler führte Karli am Nacken zum Wassereimer und drückte seinen Kopf unters Wasser. Es blubberte aus Mund und Nase, dann röchelte es, dann wurde es still. Der Trommler zog den Kopf aus dem Wasser und würgte ihm den Hals, bis Karls Mund so hässlich zuckte wie Fenjas Mund. Ich stieß den Trommler weg, zog aber meinen Holzschuh aus. Und es hob mir derart die Hand, dass ich den Brotdieb beinah totgeschlagen hätte. Der Advokat Paul Gast hatte bis dahin von seinem Bett oben zugeschaut. Er sprang mir auf den Rücken, riss mir den Schuh weg und warf ihn an die Wand. Karli Halmen lag angepisst neben dem Eimer und kotzte Brotschleim. (Seite 112f)

Heimlich treffen sich einige der Zwangsarbeiterinnen mit deutschen Kriegsgefangenen zur „Katzenhochzeit“. An Frauen ist Leopold nicht interessiert.

Diskret schau ich mir nach der Arbeit die jungen Dienstrussen unter der Dusche an. So diskret, dass ich selbst nicht mehr weiß, warum. Die würden mich totschlagen, wenn ich es wüsste. (Seite 117)

Im Lauf der Zeit spielt die Sexualität allerdings keine Rolle mehr, und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nivellieren sich nicht nur, weil sie die gleiche Kleidung tragen und schon deshalb kaum zu unterscheiden sind. Der „Hungerengel“ macht sie alle gleich.

Einmal verschafft Bea Leopold einen Passierschein für den Basar. Dort will er die Gamaschen eintauschen, die ihm ein Nachbar in Hermannstadt mitgegeben hatte. Doch als er im Schlamm einen 10-Rubel-Schein findet, wirft er die Gamaschen weg. Er kauft sich Himbeerwasser und Sauermilch, Pfannkuchen, Mais- und Sonnenblumenkuchen, Dörrpflaumen, isst und trinkt, bis er kein Geld mehr hat. Auf dem Rückweg zum Lager kotzt er jedoch alles aus und weint darüber.

Einige Zeit später gibt er Bea den roten Schal, den er von zu Hause mitgebracht hat. Sie soll ihn auf dem Basar gegen Lebensmittel eintauschen. Doch beim Appell am nächsten Morgen trägt Tur den Schal.

Hatten die beiden Sattgefressenen eine Ahnung, wie schwer sie meinen Hunger betrogen. Hatten nicht sie mich verelenden lassen, dass mein eigener Schal nicht mehr zu mir passte. (Seite 181)

Leopold stellt Bea zur Rede. Tur habe ihr den Schal abgenommen, klagt sie. Als er schon nicht mehr damit rechnet, etwas dafür zu bekommen, schickt Tur ihn für einen Tag zur benachbarten Kolchose. Gewiss will Tur ihn „auf der Flucht“ erschießen lassen, um ihm nichts für den Schal geben zu müssen. Aber zunächst teilt ihn der Wachtposten dazu ein, den Frauen zu helfen, die mit bloßen Händen Kartoffeln ernten. Leopold befürchtet, dass man ihn erst noch einen Tag lang arbeiten lässt, bevor er erschossen wird. Am Abend ziehen alle ab und lassen ihn allein zurück – mit einem Haufen Kartoffeln. 273 Stück schleppt er ins Arbeitslager. Offenbar verständigte Tur sich nicht nur mit dem Wachposten der Kolchose, sondern auch mit der Wache des Lagers, denn diese winkt Leopold durch.

Heidrun, die Ehefrau des Advokaten Paul Gast, arbeitet in einer Autowerkstatt. Durch ein Loch in der Decke wirft ihr ein deutscher Kriegsgefangener fast täglich eine Kartoffel zu, bis Heidrun ihn eines Tages nicht mehr sieht. Was aus ihm geworden ist, erfährt sie nicht. Die Suppe, die sie in der Kantine stehen lässt, isst Leopold auf.

Den leeren Teller schob ich zur Heidrun Gast, an ihre linke Hand, bis er an ihren kleinen Finger stieß. Sie leckte ihren unbenutzten Löffel ab und wischte ihn an der Jacke trocken, als hätte sie gegessen, nicht ich. (Seite 225)

Am nächsten Tag saß Paul Gast trotz der eiternden Zähne wieder neben seiner Frau in der Kantine. […] tauchte der Advokat seinen Löffel schon längst in den Teller seiner Frau. Ihr Löffel tauchte immer seltener und seiner immer öfter. Er schlürfte, und seine Frau fing an zu husten, damit sie mit dem Mund etwas tut. Und beim Husten hielt sie sich den Mund zu und spreizte wie eine Dame ihren kleinen Finger, der von der Schwefelsäure zerfressen und vom Schmieröl so dreckig war wie alle Finger hier in der Kantine. (Seite 228f)

Die nackte Wahrheit ist, dass der Advokat Paul Gast seiner Frau Heidrun Gast aus dem Essgeschirr die Suppe stahl, bis sie nicht mehr aufstand und starb, weil sie nicht anders konnte, so wie er ihre Suppe stahl, weil sein Hunger nicht anders konnte, so wie er ihren Mantel mit dem Bubikragen und den abgewetzten Hasenfellklappen trug und nichts dafür konnte, dass sie gestorben war, so wie sie nichts dafür konnte, dass sie nicht mehr aufstand, so wie dann unsere Sängerin Loni Mich den Mantel trug und nichts dafür konnte, dass durch den Tod der Frau des Advokaten ein Mantel frei geworden war, so wie der Advokat nichts dafür konnte, dass auch er frei geworden war durch den Tod seiner Frau, so wie er nichts dafür konnte, dass er sie durch die Loni Mich ersetzen wollte, so konnte auch die Loni Mich nichts dafür, dass sie einen Mann hinter der Decke wollte oder einen Mantel, oder dass beides voneinander nicht zu trennen war, so wie auch der Winter nichts dafür konnte, dass er eisigkalt war, und der Mantel nichts dafür konnte, dass er gut wärmte, so konnten auch die Tage nichts dafür, dass sie eine Kette von Ursachen und Folgen waren, so wie auch die Ursachen und Folgen nichts dafür konnten, dass sie die nackte Wahrheit waren, obwohl es um einen Mantel ging. (Seite 230)

Gleichgültigkeit macht sich unter den Zwangsarbeitern breit. Das ist auch nötig, wenn sie überleben wollen.

Wie soll man sonst flink sein, wenn man den Toten als Erster entdeckt. Man muss ihn rasch nackt machen, solang er biegsam ist und bevor sich ein anderer die Kleider nimmt. Man muss sein gespartes Brot aus dem Kissen nehmen, bevor ein anderer da ist. Das Abräumen ist unsere Art zu trauern. Wenn die Tragbahre in der Baracke ankommt, darf außer einem Leichnam für die Lagerleitung nichts zu holen sein. (Seite 148)

Die Zwangsarbeiter dürfen zwar keine Briefe schreiben, können aber welche empfangen. So wird Leopold eines Tages zu Tur gerufen.

Ich habe Post von zu Hause.
Vor Freude tickt mein Gaumen, ich krieg den Mund nicht zu. Tur sucht im halboffenen Schrank in einer Schachtel. An der geschlossenen Schrankhälfte klebt ein Bild von Stalin, hohe graue Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrüce, sein Schnauzbart wie eine Schwalbe. Neben dem Tisch dubbert der Kohleofen, darauf summt ein offener Blechtopf mit Schwarztee. Neben dem Ofen steht der Eimer mit Anthrazitkohle. Tur sagt: Leg mal bisschen Kohle nach, bis ich deine Post gefunden habe. (Seite 211)

Die Rot-Kreuz-Karte, die Leopold von seiner Mutter erhält, war sieben Monate unterwegs. Auf die Karte hat sie mit der Maschine das Foto eines Säuglings genäht und darunter geschrieben: „Robert, geb. am 17. April 1947“.

Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen. (Seite 213)

Im fünften Lagerjahr erhalten die Zwangsarbeiter etwas Geld und dürfen damit auf dem Basar einkaufen.

Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als wäre es die zweite Pubertät. (Seite 250)

Anfang 1950 kommt Leopold nach Hause. Auf der Rückfahrt saßen er und Trudi Pelikan absichtlich in verschiedenen Viehwaggons. Ihr waren im ersten Winter die Zehen erfroren. Im folgenden Sommer war sie mit dem Fuß unter das Rad eines Kalkwagens geraten, und als sich im Herbst Würmer unter dem Verband geringelt hatten, waren ihr die Zehen amputiert worden. Als sie Leopold in Hermannstadt auf der Straße mit ihrem Gehstock entgegenkommt, tun sie beide so, als würden sie sich nicht kennen.

Onkel Edwin verschafft Leopold einen Arbeitsplatz in der Kistenfabrik, in der er selbst beschäftigt ist.

Im August erhält Leopold einen Brief von Oswald Enyeter, der im Arbeitslager als Rasierer eine Sonderstellung eingenommen hatte. Weil in seiner Heimat niemand mehr gewesen sei, schreibt er, lebe er jetzt in Wien. Tur Prikulitsch habe das Gerücht verbreitet, nicht er, sondern Oswald Enyeter sei in Nowo-Gorlowka der der Kapo gewesen. Vor zwei Wochen habe man seine Leiche mit eingeschlagenem Schädel unter einer Donaubrücke gefunden.

Leopold kauft ein Diktandoheft und beginnt mit einem „Vorwort“.

In den nächsten Wochen habe ich das VORWORT verlängert, drei Hefte lang. (Seite 281)

Schließlich streicht er „Vorwort“ durch und schreibt „Nachwort“ darüber.

Nach einem Jahr hört er in der Kistenfabrik auf, beginnt tagsüber auf einer Baustelle an der Utscha zu arbeiten und schreibt sich im Abendlyzeum für einen Betonierkurs ein. Dabei lernt er Emma kennen, die dort einen Buchhaltungskurs belegt hat. Vier Monate später heiratet er sie und zieht mit ihr zu ihren Eltern. Ihr Vater stirbt vier Tage nach der Hochzeit. Nach einem halben Jahr verlassen sie Hermannstadt und mieten eine Wohnung in Bukarest.

Obwohl Leopold sich wieder heimlich im Park herumtreibt („Wildwechsel“), hält die Ehe elf Jahre lang – bis es ihm nach der Verhaftung von zwei homosexuellen Partnern in Bukarest zu heiß wird. Mit der Begründung, dass Ehepaare das Land nicht zusammen verlassen dürfen, vertröstet er Emma aufs nächste Mal und lügt, er wolle seine mit einem Konditor in Graz verheiratete Tante kurz besuchen. Erst aus Graz teilt er seiner Frau mit, dass er nicht mehr zurückkommen werde. Auf eine feste Beziehung lässt er sich nicht mehr ein.

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Am 20. August 1944 begann die Rote Armee mit einem Großangriff gegen Rumänien. Drei Tage später wurde der Diktator Ion Victor Antonescu (1882 – 1946) gestürzt und von sowjetischen Agenten festgenommen. (Er wurde am 1. Juni 1946 hingerichtet.) König Michael I. erklärte am 25. August 1944 dem bis dahin mit Rumänien verbündeten Deutschen Reich den Krieg. Die neue rumänische Regierung wurde im Januar 1945 von den Sowjets aufgefordert, alle in Rumänien lebenden arbeitsfähigen deutschen Männer und Frauen – also Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben – im Alter zwischen siebzehn und fünfundvierzig Jahren als Zwangsarbeiter in die UdSSR zu schicken. Achtzigtausend Menschen waren davon betroffen.

Vor diesem Hintergrund schildert Herta Müller in ihrem Roman „Atemschaukel“ das Schicksal des (fiktiven) bei der Deportation im Januar 1945 siebzehnjährigen Siebenbürger Sachsen Leopold Auberg, der fünf Jahre lang in einem ukrainischen Arbeitslager war.

„Atemschaukel“ basiert auf den von Herta Müller ab 2001 aufgezeichneten Erinnerungen von Betroffenen. Eigentlich wollte sie das Buch zusammen mit dem Lyriker Oskar Pastior (1927 – 2006) schreiben, der selbst fünf Jahre lang als Zwangsarbeiter in der UdSSR gewesen war, doch nach seinem Tod am 4. Oktober 2006 verfasste Herta Müller den Roman allein.

Herta Müller lässt in „Atemschaukel“ den Protagonisten selbst zu Wort kommen und in der Ich-Form von seinen Erlebnissen berichten. Leopold Auberg erzählt keine geschlossene Geschichte, sondern der Roman besteht aus einer Aneinanderreihung von vierundsechzig einzelnen Kapiteln. Die Darstellung ist nüchtern und unlarmoyant, aber die Sprache mutet abschnittsweise wie die eines Prosagedichtes an, und dieser Eindruck wird durch Metaphern verstärkt. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es in dem Buch weder Frage- noch Ausrufezeichen. Einige der Kapitel scheinen mir weniger gelungen zu sein, aber es gibt auch brillante Abschnitte, die durch die Prägnanz und Eindringlichkeit der Szenen ebenso wie durch eine kunstvolle Sprache überzeugen. „Atemschaukel“ ist ein ebenso anspruchsvoller wie ergreifender Roman über ein bis dahin wenig bekanntes Kapitel der Zeitgeschichte.

Es ist ein erschütternder Roman, das beste Buch, das Herta Müller, die schon für so viele Prosa- und Essaybände zu rühmen war, geschrieben hat, ein verstörendes Meisterwerk, mutig und sprachschöpferisch, ein Versuch, aus dem Inneren der Hölle zu sprechen, einer ganz eigenen, bildstarken Sprache, die dort Worte finden muss, wo die herkömmlichen versagen, das Grauen nicht zu fassen vermögen. (Karl-Markus Gauss, Süddeutsche Zeitung, 20. August 2009)

„Atemschaukel“ gehört zu den sechs Titeln auf der Shortlist mit den Nominierungen für den Deutschen Buchpreis, der am 12. Oktober 2009 verliehen werden soll.

Herta Müller wurde am 17. August 1953 in einer deutschsprachigen Familie in Nitzkydorf im Banat geboren. Ihr Vater war bei der SS gewesen. Ihre Mutter hatte von 1945 bis 1950 Zwangsarbeit in der UdSSR leisten müssen. Von 1972 bis 1976 studierte Herta Müller an der Universität von Temeschvar Germanistik und Romanistik. Dann arbeitete sie als Deutschlehrerin und übersetzte technische Beschreibungen von Maschinen. Weil sie sich weigerte, andere für die Securitate zu bespitzeln, wurde sie 1979 entlassen und mehrmals vernommen. Sie soll von ihrer besten Freundin verraten worden sein. Im Frühjahr 1987 ließ man Herta Müller mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Richard Wagner (* 1952), nach Westberlin ausreisen.

Ihr Debütroman „Niederungen“ erschien 1982 in einer zensierten Fassung in Rumänien und zwei Jahre später in der Originalversion in der Bundesrepublik Deutschland.

Am 8. Oktober 2009 wurde die Verleihung des Literaturnobelpreises an Herta Müller angekündigt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Herta Müller: Herztier

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Der Ekel-Effekt, mit dem Simon Beckett in dem Kriminalroman "Leichenblässe" arbeitet, ist extrem. Nach einem etwas schwerfälligen Auftakt hält er die Leser mit einer spannenden Handlung und unerwarteten Wendungen in Atem.
Leichenblässe