Cees Nooteboom : Allerseelen

Allerseelen
Manuskript: April 1996 - Juli 1998 Originaltitel: Allerzielen, 1999 Allerseelen Übersetzung: Helga van Beuningen Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1999 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 33, München 2004 ISBN 3-937793-34-8, 379 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der niederländische Dokumentarfilmer Arthur Daane streift 1997 durch das verschneite Berlin und hängt dabei seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Er telefoniert mit seiner Freundin Erna, diskutiert mit dem Bildhauer Victor Leven, dem Philosophen Arno Tieck, der Physikerin Zenobia Stejn – und folgt schließlich der Geschichtsstudentin Elik Oranje nach Madrid ...
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Kritik

"Allerseelen" ist ein kosmopolitischer, einfühlsamer und grüblerischer Roman über eine unglückliche Liebe und zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst.
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Arthur Daane, ein vierundvierzigjähriger niederländischer Kameramann und Dokumentarfilmer, der hin und wieder auch Werbespots dreht, streift 1997 durch das verschneite Berlin und hängt dabei seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Mit seiner Kamera sammelt er seit Jahren Material für einen persönlichen Film, in dem er versuchen möchte, Momente vor dem Vergessen zu bewahren. Als er im Café „Einstein“ nach der Zeitung „El País“ greift, kommt er um Sekundenbruchteile einer jungen Frau zuvor, die ihn wütend anstarrt und sich dann stattdessen mit „Le Monde“ zurückzieht. Ihr „Berberkopf'“ und die beiden Narben im Gesicht und an der Hand sind ihm aufgefallen.

„Was willst du bloß in Deutschland?“, fragten niederländische Freunde ihn regelmäßig. Meist klang das dann, als habe er sich eine schwere Krankheit zugezogen. Er hatte sich eine stereotype Antwort zurechtgelegt, die in der Regel ihre Wirkung tat.
„Ich bin gern da, es ist ein ernsthaftes Volk.“ (Seite 11)

Arthurs Ehefrau Roelfje und der vierjährige Sohn Thomas kamen vor zehn Jahren auf dem Flug nach Málaga durch einen Absturz der Maschine ums Leben. Darüber kommt er nicht hinweg, und Erna, seine ältere und beste platonische Freundin, durch die er auch seine Frau kennen gelernt hatte, wirft ihm vor, zu sehr in der Vergangenheit zu leben.

„Seit du ständig in Berlin bist, nimmst du alles so fürchterlich schwer. Fahr doch mal wieder nach Spanien. Geschichte wird ja langsam zur Obsession für dich. So lebt niemand, meiner Meinung auch die Deutschen nicht. Wo ein anderer Zeitung liest, liest du Geschichte. Bei dir wird eine Zeitung gleich zu Marmor, glaube ich. Das ist doch Unsinn! Und derweil vergisst du schlichtweg zu leben. Du hast viel zuviel Zeit zum Nachdenken.“ (Seite 111)

„Ich kann die Vergangenheit doch schwerlich leugnen.“
„Ist auch nicht nötig. Aber du treibst es zu weit, du bist ewig dabei, aus der Gegenwart eine Vergangenheit zu machen. Du bringst immerzu alle Zeiten durcheinander. Auf diese Weise bist du nie irgendwo richtig.“ (Seite 302f)

In der Weinstube von Herrn Schultze trifft Arthur sich mit seinen Freunden, dem Philosophen Arno Tieck, dem Bildhauer Victor Leven und der russischen Physikerin Zenobia Stejn, der Zwillingsschwester von Arnos Ehefrau Vera, die als Wissenschaftsjournalistin für russische Zeitungen schreibt und nebenher eine auf deutsche Naturfotografie aus den Zwanzigerjahren spezialisierte Galerie in Berlin betreibt. Bei Saumagen, Blut- und Leberwurst, Handkäse und Roggenbrot, Wein und Wodka diskutieren die Freunde über deutsche Hausmannskost, Hildegard von Bingen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Nietzsche, die Autoritätsgläubigkeit der Deutschen, die auch an einer menschenleeren Kreuzung auf Grün warten und ihr Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit. Immer wieder geht es um philosophische Fragen.

„Es ist doch ein Unterschied, ob die Natur etwas erschafft oder ob du etwas erschaffst, stimmt’s oder stimmt’s nicht?“
„Bin ich denn keine Natur?“
„Oh doch, du bist auch ein bisschen Natur. Unvollendete Natur, verschandelte Natur, sublimierte Natur, das kannst du dir selbst aussuchen. Aber eines kannst du nicht – und das ist: nicht dabei denken, wenn du etwas erschaffst.“
„Ist Denken denn unnatürlich?“
„Hab ich nicht gesagt. Aber in dem Moment, in dem du über die Natur nachdenkst, entfernst du dich von ihr. Die Natur kann nicht über sich nachdenken. Du schon.“
„Aber dann könntest du auch sagen, dass die Natur mich benützt, um über sich nachzudenken …“ (Seite 96f)

Zufällig entdeckt Arthur die junge Frau mit dem Berberkopf und den Narben in einer U-Bahn-Station, folgt ihr in die Staatsbibliothek und legt ihr dort einen Zettel auf den Tisch, mit dem er sie zu einem Treffen in der Cafeteria einlädt. Sie heißt Elik Oranje, trägt also einen männlichen Vornamen, nimmt mit Hilfe eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an einer zehnteiligen Vorlesung über Hegels Geschichtsphilosophie teil und arbeitet an einer Dissertation über Königin Urraca von León-Kastilien (1109 – 1126), die gegen Alonso von Aragón, ihren eigenen Ehemann, Krieg führte. Nachdem Eliks Vater spurlos verschwunden war und man ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, wuchs sie bei ihrer Großmutter in den Niederlanden auf. Ihre Mutter habe sich zu Tode gesoffen, erzählt Elik. Dass ihr Vater sie als Achtjährige vergewaltigt hatte, erwähnt sie nicht.

Einige Tage stellt Arthur die Geschichtsstudentin seinem Freund Arno Tieck vor und unternimmt dann mit ihr gemeinsam einen Ausflug auf die Pfaueninsel und in das Dorf Lübars, wo Elik unvermittelt in einen Linienbus springt und allein nach Berlin zurückfährt, ohne Arthur auch nur ihre Telefonnummer gegeben zu haben.

„Ich muss gehen […] ich bin Weltmeisterin im Abschiednehmen.“ (Seite 240)

Allerdings meldet sie sich kurz darauf telefonisch bei Arno, erkundigt sich nach Arthurs Adresse, und als dieser heimkommt, wartet sie bereits im Treppenhaus auf ihn. Ohne ein Wort zu sagen, zieht sie sich in seiner Wohnung aus und geht ins Schlafzimmer voraus, wo sie darauf besteht, auf ihm zu reiten statt unter ihm zu liegen. Vier Tage später gleitet sie erneut wie eine Katze zu ihm in die Wohnung.

Nach einer Estland-Reise, wo Arthur dem mit ihm befreundeten flämischen Filmregisseur Hugo Opsomer als Kameramann aushalf, lässt er sich von Elik in eine Kellerkneipe bei den Hackeschen Höfen mitnehmen, wo sie wie eine Mänade tanzt und eine Prügelei provoziert. Arthur wird mit einer Glasscherbe im Gesicht verletzt und in die Rippen getreten, bevor Elik mit ihm flieht. Sie nimmt ihn mit in ihre Souterrain-Wohnung, in die sie bis dahin noch nie jemanden gelassen hatte. Als er sie fragt, warum sie in die Kellerkneipe gegangen sei, antwortet sie:

„Das erste Mal aus Neugier. Danach wegen der Herausforderung. Ich liebe Musik, die gegen mich ist. Vor allem wenn ich dazu tanzen kann.“
„Tanzen? Das war eher ein Wutanfall.“ […]
„Langsam kapierst du was“, sagte sie. (Seite 299)

Arthur fliegt zu Vorgesprächen mit Hugo Opsomer nach Brüssel und zu Dreharbeiten nach Kioto. Als er sechs Wochen später wieder in Berlin ist, sucht er Elik in ihrer Wohnung, aber sie hat die Stadt verlassen. Auf einem Abschiedsbrief an Arno findet Arthur die Adresse ihrer Großmutter Aaf Oranje in De Rijp. Er sucht die alte Dame auf, aber sie teilt ihm nur mit, dass ihre Enkelin nach Madrid reisen wollte.

In der spanischen Hauptstadt fragt Arthur seinen aus Angola stammenden Freund Daniel García, wo man hier wohl eine an einer historischen Studie arbeitete Doktorandin finden könne. Tatsächlich entdeckt er Elik im Nationalarchiv, aber sie macht ihm sofort klar, dass die Affäre mit ihm beendet sei.

„Du hattest Arno Tieck die Adresse gegeben.“
„Das war damals.“
So einfach war es also. Es gab ein Damals und ein Jetzt. Damals lag unerreichbar fern, man kam nicht mehr hin. (Seite 356)

Während Arthur in Japan war, stellte Elik fest, dass sie schwanger war und ließ eine Abtreibung vornehmen. Sie will frei sein, nur sich selbst gehorchen und ihre Autonomie behaupten. Deshalb stößt sie ihn von sich, obwohl oder gerade weil sie immer wieder an ihn denken muss: Ihr Trauma lässt Liebe nicht zu.

Nach einem Kneipenbesuch wird Arthur von Skinheads überfallen, die ihm die Kamera rauben wollen, die er nicht loslässt, obwohl sie ihm den Schädel brechen. Erst nach zwei Wochen erwacht er im Krankenhaus aus dem Koma. Daniel erfuhr in der Zeitung von dem Raubüberfall und besuchte ihn beinahe jeden Tag. Arno, Victor und Zenobia reisen aus Berlin an, um ihn zu sehen, und am Entlassungstag kommt auch Erna aus Amsterdam.

Allein reist Arthur schließlich aus Madrid ab. Daniel erzählte ihm von einer jungen Besucherin, die einmal von ihm am Bett des Komapatienten angetroffen worden war und die angekündigt hatte, sie wolle ihre Recherchen in Santiago de Compostela fortsetzen. In Aranda de Duero zögert Arthur, ob er die N122 nach Santiago nehmen soll, setzt dann aber seinen Weg auf der N1 nach Norden fort.

Nach Hause? Er hatte kein Zuhause, nicht so wie andere Menschen. War dies ein Versuch gewesen, ein Zuhause zu haben? (Seite 360)

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„Allerseelen“ ist ein kosmopolitischer, einfühlsamer und grüblerischer Roman über eine unglückliche Liebe und zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst. Die Geschichtsstudentin Elik Oranje flieht aufgrund eines Kindheitstraumas vor der Liebe und recherchiert lieber über eine spanische Königin aus dem frühen 12. Jahrhundert, die Krieg gegen ihren Ehemann führte. Der Dokumentarfilmer Arthur Daane kommt nicht über den Tod seiner Frau und seines Sohnes hinweg und sammelt unentwegt Material für einen persönlichen Film, in dem er versuchen möchte, Momente vor dem Vergessen zu bewahren. Bestimmt ist es kein Zufall, dass Cees Nooteboom ihn immer wieder nach unten gehen lässt, zur U-Bahn, in Eliks Souterrain-Zimmer, in die Kathedrale von Sigüenza.

Die Leser müssen Geduld aufbringen, denn auf Seite 59 begegnen Arthur und Elik sich nur für einen Augenblick und dann treffen sie sich erst auf Seite 151 wieder.

Obwohl Cees Nooteboom „Allerseelen“ in der dritten Person Singular verfasst hat, erleben wir das Geschehen aus der Perspektive Arthurs. Ein hin und wieder auftretender Chor der Toten in der ersten Person Plural beschließt den Roman mit den den Worten „Und wir? Ach wir …“ (Seite 377).

Der Chor bei Sophokles hat eine Meinung. Wir nicht. Der Chor bei Heinrich V. bittet um ein Urteil. Tun wir auch nicht. (Seite 258)

Bei der Medea des Euripides darf der Chor erzählen, dass er weiß, was danach kommt. Bei Sophokles darf er bitten und flehen, aber er sagt nichts vorher. Wir selbst spinnen nichts, aber wir sehen das Gespinst […] (Seite 313)

Keine Meinung, kein Urteil. So lautet der Auftrag. (Seite 351)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Suhrkamp

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