Alfred Andersch : Die Rote

Die Rote
Manuskript: 1958/59 Erstausgabe: Walter Verlag, Olten und Freiburg i. Br. 1960 Neufassung: Diogenes Verlag, Zürich 1972 Taschenbuch: Diogenes Verlag, Zürich 2006 ISBN 3-257-23602-6, 256 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die deutsche Dolmetscherin Franziska Lukas ("die Rote") befreit sich von ihrem Ehemann und ihrem Liebhaber, aber sie droht in neue Abhängigkeiten zu geraten, als sie in Venedig einen schwulen Iren kennen lernt, der glaubt, sich nur durch die Ermordung eines ehemaligen Gestapo-Offiziers aus geistiger Gefangenschaft befreien zu können ...
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Kritik

Alfred Andersch erzählt in "Die Rote" abwechselnd aus den Blickwinkeln von Franziska und Fabio. In das äußere Geschehen integriert er innere Monologe: Reflexionen Franziskas und anderer Figuren.
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Franziska Lukas wurde am 5. November 1926 in Düren geboren. Joachim, ein Geschäftsmann in Dortmund, dessen Geliebte sie seit ihrem 26. Lebensjahr ist, stellte sie als in Englisch, Französisch und Italienisch geprüfte Dolmetscherin ein. 1953 heiratete sie den Exportleiter der Firma. Er heißt Herbert.

Im Januar 1958 begleitet Franziska ihren Ehemann auf einer Geschäftsreise nach Mailand. Während sie in einem Café in der Galleria Vittorio Emanuele sitzen, trennt sie sich kurz entschlossen von ihm, nimmt ein Taxi zur Stazione Centrale und kauft eine Fahrkarte für den nächsten Zug, gleichgültig, wohin. So gelangt sie nach Venedig, wo sie sich ein billiges Hotelzimmer nimmt, denn sie hat nur 25 000 Lire bei sich und muss sich davon auch noch das Nötigste – Slip, Seife, Zahnbürste, Zahnpasta – kaufen, weil sie kein Gepäck mitgenommen hat.

Wenn sie in Venedig bleiben will, muss sie Arbeit finden, aber ihre Diplome liegen in Dortmund. Vielleicht sollte sie sich doch bis München durchschlagen. Franziska bleibt erst einmal in Venedig und versucht es in dem Nobelhotel „Pavone“, aber der Portier erklärt ihr, dass keine Stelle für eine Dolmetscherin oder Fremdsprachensekretärin frei sei, und als sie nach einer Beschäftigung als Zimmermädchen fragt, drückt er ihr einen 1000-Lire-Schein in die Hand.

Ein schwuler Ire mit britischem Pass, der die entwürdigende Szene beobachtet hat – Patrick O’Malley – folgt Franziska bis zu ihrem Hotel und lädt sie zu einer Tasse Kaffee auf sein Boot ein. Der Sohn eines großen englischen Bierbrauers erzählt Franziska, er sei achtzehn Jahre alt gewesen, als der Krieg ausbrach. Als Agent des Counter Intelligence Corps und im Rang eines Leutnants der Royal Air Force landete er in der Nacht auf den 4. Mai 1944 mit einem Fallschirm bei Hildesheim. Er sollte spezielle Industrieanlagen ausspähen und seine Erkenntnisse einem anderen Geheimagenten weitergeben, der über eine Funkverbindung nach England verfügte. Obwohl seine Mutter Deutsche war und er in Oxford Deutsch studiert hatte, fiel jemandem sein Akzent auf und er wurde von der Gestapo verhaftet. Nachdem man ihn gefoltert hatte, kam ein Inspektor Kramer in den Raum und erklärte ihm, was er tun müsse, um dem Gestapo-Keller zu entkommen. Patrick verriet den Agenten, dem er die Informationen hätte bringen sollen – er wurde am 12. Mai 1944 erschossen – und verpflichtete sich, in einem Kriegsgefangenenlager als V-Mann der Gestapo zu arbeiten. Dort vertraute er sich allerdings dem Lagerältesten an, und Colonel Wilcox sorgte dafür, dass er den Nationalsozialisten unbedeutende Informationen liefern und seine Rolle spielen konnte. Kürzlich – so Patrick weiter – habe er Kramer in Venedig entdeckt, und nun habe er vor, ihn zu töten, um sich von ihm zu befreien. Franziska versteht:

Er muss töten, nicht um seine Ehre wieder zu gewinnen, die gibt ihm auch die Rache nicht zurück, sondern einfach, um nicht mehr Kramers Gefangener zu sein. (Seite 144)

Patrick und Franziska reden die ganze Nacht miteinander. Am Morgen bringt er sie mit dem Boot zum Markusplatz. Vor dem Abschied bietet er ihr an, sie auf seinen weiteren Reisen mitzunehmen. Sobald er die Sache mit Kramer erledigt habe, werde er Venedig verlassen.

Die Kasse am Campanile wird gerade geöffnet. Franziska kauft sich eine Eintrittskarte und fährt mit dem Aufzug zur Aussichtsplattform hinauf. Dort sieht sie einen Italiener stehen. Die beiden wechseln nur einen belanglosen Satz miteinander.

Es handelt sich um Fabio Crepaz. Er war Kommunist, kämpfte im Spanienkrieg als Bataillonskommandeur in der Internationalen Brigade „Matteotti“ und führte während des Zweiten Weltkriegs die Partisanen im Raum Dona di Piave. Als er nach dem Krieg merkte, dass die Idee der Freiheit bloß noch eine Schimäre war und ihn die Selbstgefälligkeit der führenden Politiker abstieß, trat er aus der KPI aus und zog sich aus der Politik zurück. Jetzt ist er Ende vierzig, wohnt bei einer Witwe und deren kleiner Tochter in Untermiete und gehört als Geiger zum Orchester der Opera Fenice. Zur Zeit üben die Musiker für eine Aufführung der Oper „L’Orfeo“ von Claudio Monteverdi. Sein Vater ist der alte Fischer Piero Crepaz in Mestre. Hin und wieder bringt ihm seine Mutter einen Fisch, aber sie bleibt nie länger als eine Stunde bei ihrem Sohn. Seine jüngere Schwester arbeitet am Fließband in einer Fabrik in Mestre und ist unverheiratet wie ihr Bruder, der allerdings mit einer Einundzwanzigjährigen namens Giuletta ein Verhältnis hat.

Am Abend trifft Franziska sich mit Patrick. Er führt sie in ein Einheimischen-Restaurant. Dort taucht zur Verwunderung Franziskas auch Kramer auf, und es stellt sich heraus, dass sich die beiden Männer regelmäßig sehen. Der ehemalige Gestapo-Offizier ist ein Albino. Während des Essens wird Franziska übel – sie befürchtet, dass sie von Herbert schwanger ist –, und nachdem sie sich in der Küche übergeben hat, geht sie allein in ihr Hotel zurück.

Am nächsten Morgen bietet sie dem Juwelier Aldo Lopez ihren Ehering an.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Signora?“
„Ich möchte einen Ring verkaufen“, sagte Franziska.
„Eine schlechte Zeit dafür“, sagte er sogleich, ohne den jähen Wechsel von Beflissenheit zur Abwehr zu verbergen. „Im Winter haben wir hier kaum Kundschaft.“
Eine Ausländerin, die Schmuck verkaufen will, im Winter, in Venedig. Eine Rote, sie sieht gut aus. Wenn eine Frau, die so gut aussieht, Schmuck verkaufen will, so muss sie ihn verkaufen.
Ich habe es nicht unbedingt nötig, den Ring zu verkaufen […] Aber der Ring müsste eigentlich siebenhundert Mark bringen, achtzigtausend Lire […] Herbert hat sechzehnhundert Mark dafür bezahlt, bei Carstens in Düsseldorf […]
sie öffnete ihre Handtasche, nahm den Ring heraus und zeigte ihn dem Juwelier.
Er nahm ihn gelangweilt entgegen, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger […]
„Kein besonders guter Ring“, sagte der Juwelier. „Ein bisschen Gold und ein paar Diamantsplitter.“
Ich muss bald wieder arbeiten. Man muss arbeiten, wenn man dieser Welt nicht ausgeliefert sein will. Der Welt des Handels, der tausendjährigen Händlerniedertracht. Wenn man arbeitet, verkauft man nichts außer sich selbst. In der übrigen Zeit ist man Käufer. Käufer und frei.
„Aber hören Sie“, sagte sie, „das sind doch keine Diamantsplitter. Es sind sehr hübsch geschliffene kleine Brillanten.“
„Wenn Sie meinen“, erwiderte er kalt […]
„Was würden Sie mir denn für den Ring geben?“, fragte sie […]
„Fünfzehntausend“, sagte er, „fünfzehntausend äußersten Falles.“
[…] „Der Ring hat sechzehnhundert Mark gekostet. Hundertfünfzigtausend Lire. Bei Carstens in Düsseldorf. Das ist für uns in Deutschland ein Name wie für Sie Faraone in Mailand.“
Das ist eine, die sich auskennt. Eine Erfahrene, man sieht es ihr an. Aber nicht so erfahren, um sich wirklich wehren zu können, auch das sieht man ihr an. Eine Rote, wenn ihr Haar nicht gefärbt ist, eine sehr schöne Rote aus Deutschland, die Roten sollen gut sein im Bett, sie ist eine Feine, eine squisita, und sie kann sich nicht wehren. Ihr Haar ist nicht gefärbt und ihre Brillanten waren lupenrein.
„Sie sind in Schwierigkeiten, Signora“, sagte er freundlich, „ich will Ihnen entgegenkommen. Achtzehntausend, weil ich Ihnen glaube, dass der Ring von Carstens ist.“ […]
Sie sagte nichts, sie nickte nur, fast unmerklich, und er verstand sofort, ich habe das Geschäft gemacht, die Woche fängt gut an, eine wunderbare Okkasion […] (Seite 194ff)

Vor dem Juweliergeschäft wartet Kramer auf Franziska. Er fragt sie, was sie verkauft und wieviel sie dafür bekommen habe. Dann stürmt er in den Laden, droht dem jüdischen Juwelier mit seinen guten Beziehungen zum Betrugsdezernat und verlangt weitere 35 000 Lire für Franziskas Ring, die er Franziska in die Manteltasche stopft.

Kramer weiß, dass Patrick ihn umbringen will, aber er fürchtet sich nicht vor ihm. Der Ire habe zu viele widerstreitende Gefühle und sei deshalb nicht in der Lage, zu handeln, meint er. Er war 1944 von Auschwitz zurückgekommen, hatte sich kurz in Deutschland aufgehalten und dann nach Italien versetzen lassen. Seither war er nie wieder in Deutschland. Hier in Italien hat er gute Verbindungen zu maßgeblichen Leuten, die ihn schützen, aber wenn Franziska ihn in Deutschland anzeigt und ein Auslieferungsantrag gestellt wird, könnte es gefährlich für ihn werden. – Während Franziska mit Kramer in einem Café am Markusplatz sitzt, sieht sie den Herrn wieder, der mit ihr auf dem Campanile war.

Für 19 Uhr verabredet sich Kramer mit ihr, aber sie hat nicht vor, ihn noch einmal zu treffen. Franziska geht zu dem Juwelier zurück und bringt ihm zu seiner größten Verblüffung die 35 000 Lire zurück. Als sie ihn nach einem Arzt fragt, versteht er sofort und ruft Dr. Alessandri an, um einen Termin für sie zu vereinbaren. Dr. Alessandri nimmt auch Abtreibungen vor.

Um 18.45 Uhr geht Franziska zu der Stelle, an der Patrick vor dem Verlassen Venedigs mit dem Boot auf sie warten wollte. Patrick ist bereits da, doch angeblich fehlen noch einige Hafenpapiere. Inzwischen habe er Kramer beim Interpol-Büro in Italien angezeigt, sagt Patrick, aber die Leute seien nicht bereit, etwas gegen den ehemaligen Gestapo-Offizier zu unternehmen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Da taucht Kramer auf. Franziska merkt, dass Patrick damit gerechnet hat. Kramer lässt sich von Patrick ein Bier geben, trinkt – und bricht tot zusammen. Patrick hatte Strychnin ins Bier getan. Der Mörder gibt zu, dass er Franziska als Lockvogel missbrauchte. Er wusste, dass Kramer sie ernst nahm, sie observieren ließ, am Verlassen Venedigs hindern wollte und ihr deshalb aufs Boot folgen würde.

Angewidert geht Franziska von Bord. Am Tresen einer Bar sieht sie den Mann stehen, der mit ihr auf dem Campanile war. Sie fragt Fabio, ob er eine Arbeitsstelle für sie wisse.

Währenddessen erfriert Piero Crepaz auf seinem Fischerboot.

[…] ich spähe gefroren, das geld aus den aalen, gefroren und heiß, das gold der paludi, ich spähe so kalt, im vaterunser, durch die messer aus schilf, sie werden mich finden, der du bist im himmel, mich bringen nach mestre. mich eis im licht. (Seite 255)

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Eine Frau befreit sich von ihrem Ehemann und ihrem Liebhaber, aber sie droht in neue Abhängigkeiten zu geraten, als sie einen Mann kennen lernt, der glaubt, sich nur durch einen Mord aus geistiger Gefangenschaft befreien zu können.

Alfred Andersch erzählt abwechselnd von Franziska und Fabio. Die erste Begegnung der beiden auf der Aussichtsplattform des Campanile schildert er zuerst aus Franziskas Perspektive (Seite 147ff), dann aus der Sicht Fabios (Seite 160ff). In das äußere Geschehen integriert er innere Monologe: Reflexionen Franziskas und anderer Figuren. Der Umbruch erfolgt bisweilen mitten im Satz, aber durch Kursivdruck sind die inneren Monologe leicht erkennbar.

1960, als die Erstausgabe des Romans „Die Rote“ erschien, galt es als skandalös, wenn eine Frau sich von ihrem Ehemann trennte und versuchte, ihren eigenen Weg zu gehen. Auch die Abtreibung, über die Franziska nachdenkt, war damals ein Tabuthema. Die Literaturkritiker qualifizierten den Roman „Die Rote“ als Unterhaltungslektüre ab. Deshalb überarbeitete Alfred Andersch den Text und ließ bei der 1972 veröffentlichten Neufassung auch den Epilog weg. Damit bleibt das Ende offen, während die Leser in der Erstausgabe erfuhren, dass Fabio Franziska Arbeit in einer Seifenfabrik verschaffte und dass sie ihr Kind austrug.

Ich war ganz zufrieden. Von Zeit zu Zeit würde ich Fabio sehen. Mein Kind würde es gut haben, bei Fabios Leuten. Wie die alte Frau Crepaz, begann ich, das Zimmer mit meinen Augen auszumessen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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