Iris Wolff : Die Unschärfe der Welt

Die Unschärfe der Welt
Die Unschärfe der Welt Originalausgabe Klett-Cotta, Stuttgart 2020 ISBN 978-3-608-98326-5, 216 Seiten ISBN 978-3-608-12000-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Karline ist stolz darauf, dass ihr der rumänische König Michael I. einmal die Hand gab. Sie und ihr Ehemann Johann haben drei Söhne. Den ersten, Hannes, gebar sie, während die Familie in Constanţa ein Passagierschiff besichtigte. Er wird Pastor, und seine Ehefrau Florentine folgt ihm zu seiner ersten Pfarre im Banat. Ihr Sohn Samuel ermöglicht seinem Freund Oz die Flucht nach Deutschland und begleitet ihn, obwohl er dadurch von seiner großen Liebe Stana getrennt wird ...
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Kritik

In "Die Unschärfe der Welt" geht es um vier Generationen. Im Mittelpunkt stehen sieben Personen aus einer Familie, aber auch aus dem Umfeld, deren miteinander verzahnte Biografien und Perspektiven sich in den sieben Kapiteln des Romans abwechseln. Iris Wolff schreibt zurückhaltend und ohne Effekt­hascherei, feinsinnig und einfühlsam. "Die Unschärfe der Welt" wirkt verknappt, aber weniger stringent als poetisch und atmosphärisch dicht.
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Zăpadă

Als ihr Ehemann Hannes, ein evangelischer Pastor Mitte 20, nach dem Theologiestudium seine erste Pfarrstelle an der westlichen Außengrenze des Banats bekam, zog Florentine mit ihm in das entsprechende Dorf.

Florentine war in der Stadt aufgewachsen und hatte nicht gewusst, was ein Leben auf dem Land mit sich brachte, was es ihr abverlangen würde […].

Florentine freundet sich mit der Dorfbewohnerin Nika an, und die beiden Frauen werden fast gleichzeitig schwanger. Nikas erste Liebe hatte sich im Alter von 18 Jahren das Leben genommen. Weil sie und ihr Ehemann Paul bereits drei Kinder haben und sich kein viertes leisten können, versucht Nika eine Abtreibung.

Sie spritzte sich ein Mittel, das man Kühen verabreichte, und starb innerhalb von drei Tagen unter Krämpfen.

Als Florentine stark blutet, gibt Hannes einem Fischhändler Geld dafür, dass er Florentine mit seinem Pferdeschlitten durch den tiefen Schnee zum Bahnhof bringt.

Ausgerechnet ein Rumäne, würde ihr Vater sagen. Aber in diesem Augenblick war ihr der Mann näher als jeder andere Mensch.

Sie fährt weiter mit dem Zug nach Arad und nimmt dort ein Taxi zum Krankenhaus.

Sie ging den hell erleuchteten Gang entlang. Niemand war zu sehen. Schließlich fand sie etwas, das sie für eine Toilette hielt. Sie trat ein, lehnte sich an die Tür und schloss die Augen. Dann nahm sie den Gestank wahr. Es gab keine Toilettenschüsseln, nur zwei Löcher im Boden. Der fest gefügte Raum löste sich auf, als sie bemerkte, was auf dem Fußboden lag, wie unachtsam mit einem Eimer ausgeschüttet und mit dem Besen in die Aborte gekehrt. Sie sah die kleinen Arme, die winzigen Hände, noch ganz nah am Körper, die gekrümmten Wirbelsäulen, die reptilienartigen Köpfe mit den zarten geschlossenen Augenlidern, die rosa Haut, die blauen Flecken, das Blut. Florentine konnte sich gerade noch seitlich über eines der Waschbecken beugen und übergab sich.

Der Arzt argwöhnt, dass die Blutungen durch einen missglückten Abtreibungsversuch verursacht wurden. In diesem Fall dürfte er ihr nicht helfen, denn in Rumänien sind Schwangerschaftsabbrüche streng verboten.

Frauen, die eine Abtreibung versuchten, kamen ins Gefängnis, bekamen sie aufgrund eines unerlaubten Schwangerschaftsabbruchs eine Infektion, durften sie nicht behandelt werden.

Florentine versichert jedoch, nach Arad gekommen zu sein, damit dem Kind nichts passiert.

Als die Zwischenblutungen am Wochenende aufgehört haben, wird Florentine aus dem Krankenhaus entlassen.

In den Sommermonaten bitten immer wieder Reisende um ein Quartier im Pfarrhaus. Anfang der Siebzigerjahre – als Samuel, der Sohn des Pfarrer-Ehepaars, zweieinhalb Jahre alt ist – stellt Hannes Florentine zwei neue Gäste vor, Lehramtsstudenten aus der DDR, beide nicht älter als 20: Benedikt („Bene“) und Lothar. Sie sind als Anhalter unterwegs zum Schwarzen Meer.

Einmal sieht Florentine, wie sich die beiden Männer morgens nackt am Brunnen waschen und küssen.

Statt weiter zum Schwarzen Meer zu trampen, bleiben Bene und Lothar im Pfarrhaus und kehren zu Beginn des Semesters nach Ostberlin zurück.

Als es schneit, sagt Samuel sein erstes Wort: „Zăpadă“ (Schnee).

Echo

Kurz bevor Samuel in die Schule kommt, wird Echo – eigentlich heißt er Gregor – beim Baden in der Marosch von einem im Fluss treibenden Baumstamm am Kopf getroffen, und der 16-Jährige ertrinkt. Hannes muss zu Ruth und Severin, den Eltern des toten Jungen, um die Beerdigung mit ihnen zu besprechen.

Florentine und Hannes spielen des Öfteren mit dem slowakischen Ehepaar Novac eine Partie Whist. Gegenüber Konstanty Novac bleiben sie reserviert, aber mit Malva entwickelt sich eine herzliche Beziehung, während zugleich Samuel und die vor fünf Jahren von Hannes getaufte Stana unzertrennlich werden.

Während Bene und Lothar im Pfarrhaus logierten, kam Konstanty Novac allein und wollte wissen, was das für Leute waren. Florentine und Hannes komplimentierten ihn hinaus, aber am nächsten Tag wurde Hannes ins Polizeipräsidium vorgeladen, im Keller vernommen und am Ende dazu aufgefordert, über jeden zukünftigen Besuch einen schriftlichen Bericht abzugeben.

Dieses System lebte davon, dass jeder schuldig war. Es gab nur ein Dafür oder Dagegen.

Als Malva einen verhafteten Mann aus der Schweinemästerei bedauert, weist Konstanty sie zurecht: „Die Partei macht keine Fehler“. Die anderen Dorfbewohner gehen ihm aus dem Weg, aber weder Stana noch Malva müssen im Morgengrauen Schlange stehen, um Lebensmittel zu ergattern, denn die Familie bekommt regelmäßig Milch, Wurst und Butter geliefert.

Leviathan

Michael I. (1921 – 2017) kam als Kind auf den Thron (1927 – 1930) und war dann noch einmal von 1940 bis 1947 König von Rumänien.

Er leistete Widerstand gegen die Sowjetisierung Rumäniens, gegen die Deportation der deutschen Bevölkerung zur Zwangsarbeit […].

Samuels Großmutter Karline ist stolz darauf, dass ihr der König einmal die Hand gab. Zwei Jahre zuvor war sie von ihrem späteren Ehemann Johann unter dem Apfelbaum im Garten des Elternhauses verführt worden. Das Paar bekam drei Söhne: Hannes, Hermann und Günter.

Karlines Vater hatte eine „Leviathan“ genannte Waschmaschine für Schafwolle entwickelt und führte die erfolgreichste Wollwäscherei Siebenbürgens. Der Wohlstand ermöglichte es ihm, nicht nur eine Stadtvilla in Hermannstadt zu kaufen, sondern auch ein Ferienhaus („Möwenhaus“) am Schwarzen Meer und eine Cabana auf der Hohen Rinne (Păltiniș) in den Karpaten.

Karline erzählt ihrem Enkel Samuel, wie die Familie nach Mamaia am Schwarzen Meer in die Sommerfrische fuhr. Aufgrund der Geschäftsbeziehungen ihres Vaters durften sie im Hafen von Constanţa das Passagierschiff „Transilvania“ besichtigen. Dabei setzten bei Karline die Wehen ein, und bevor noch der Arzt eintraf, gebar sie ihren Sohn Hannes. Der Kapitän durchtrennte die Nabelschnur.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde König Michael I. abgesetzt und Karlines Familie ebenso wie seine enteignet.

Windwanderer

Die Blechwanne war nicht mehr groß genug. In diesem Jahr lugten die Knie wie kleine Inseln aus dem Wasser hervor. Das Brunnenwasser war über den Tag warm geworden. Sie hatte die toten Mücken abgeschöpft, den Sand von den Füßen geklopft, die Kleider über einen Stuhl gelegt, dem ein Bein fehlte. Sie war ins Wasser gestiegen, gesunken, bis die Wasserlinie zum Kinn reichte.

Stana hat eine Zeitspanne abgepasst, in der ihr Vater nicht zu Hause ist, um nackt im Garten baden zu können, aber während sie mit dem Kopf untergetaucht ist, erscheint ein Gesicht über ihr. Es ist Samuel.

„Sana, ich wollte nur …“ Es war offensichtlich, wie verlegen er war. Ihm verlangte diese Situation mehr ab als ihr, obwohl sie diejenige war, die nackt am Wannengrund gelegen hatte […]

Während Samuel sich abwendet, steigt Stana – er nennt sie „Sana“ – aus der Wanne und wickelt sich in ein Handtuch.

Ein paar Tage später verabredeten sich die beiden an der Marosch.

Samuel wartete abseits der Stelle, wo alle badeten, weil die Böschung flach war. Alte Frauen in Badekitteln, die sich aufblähten, wenn sie im Wasser in die Hocke gingen. Bauern, die ihre Pferde, Hirten, die das Wollkleid ihrer Schafe wuschen.

Stana hat schon gehört, dass Samuel sich mit dem frustrierten Dorflehrer Valentin anlegte, weil er glaubte, dass sein Mitschüler Oswald („Oz“) ‒ eines der drei Kinder, die Paul nach dem Tod seiner Frau Nika allein erzieht ‒ ungerecht bestraft worden sei.

Makromolekular

Elena Ceaușescu studierte in Bukarest Industriechemie und veröffentlichte dann Forschungsergebnisse über die Synthese einiger neuer Makromolekular-Verbindungen. Ihr Eheman Nicolae Ceaușescu, der Conducător, ist ein Familienmensch.

Was lag da näher, als alle wichtigen Ämter an Familienmitglieder zu verteilen?

Das Genie der Karpaten lebte bescheiden. Das mit dem Palast war ihm eigentlich nur so nebenbei passiert. Er hätte auch kleiner ausfallen können, doch wenn man einen Sitzungssaal hatte, brauchte es auch einen Ballsaal. Zweifellos, wenn man so beliebt war, brauchte man zahllose Gästezimmer. Wenn man eine Frau hatte, aber etwas auf seine Unabhängigkeit hielt, brauchte man zwei separate Treppenaufgänge. Und wenn man sein Volk liebte, liebte man auch dessen Kunst und brauchte Archive, Ausstellungsräume, einen Theatersaal. Wie gut, dass man religiöse Kunstgegenstände ab und zu bei den Kapitalisten zu Geld machen konnte.

Oz gelingt es nicht, das Land mit gefälschten Papieren zu verlassen. Bei einer polizeilichen Vernehmung wird er geschlagen.

Sobald sein Gesicht wieder normal aussah, fuhr Oz nach Temeswar, um den „Gärtner“ aufzusuchen. Nicht nur der rumänische Staat, der mit der Bundesrepublik die Tarife für die Abwanderung der Deutschen verhandelte (sogar verlangte, dass Ausbildungs- und Reisekosten beglichen wurden), auch Securitate-Offiziere und Parteigenossen hatten das Finanzpotenzial all jener erkannt, die auf ihre Ausreisepapiere warteten.

Der Mittelsmann in Temeswar verlangt 8000 D-Mark. Eine so hohe Summe vermag Oz nicht aufzutreiben. Der „Schwarze Mann“ in Hermannstadt und der „Magaziner“ in Agnetheln würden wohl ebenso viel fordern.

Samuel, der gelernt hat, eine in der Landwirtschaft zum Versprühen von Pestiziden eingesetzte Propellermaschine zu fliegen, geht das Wagnis ein, seinen Freund mit dem gestohlenen Flugzeug nach Österreich zu bringen. Von dort geht es weiter nach Deutschland, zur Durchgangsstelle für Aussiedler in Nürnberg, zum Sprachtest in der Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge und Aussiedler in Rastatt und schließlich auf eine der Ostfriesischen Inseln.

Dort verliebt Oz sich in Mina, die er als Bedienung in einem Café kennengelernt hat. Sie schläft ohne weiteres mit ihm und geht mit ihm, Samuel und ihrer Freundin Freija zum Schwimmen ans Meer. Samuel bleibt auf Distanz zu den beiden Frauen, nicht zuletzt, weil er an seine große Liebe Stana denkt. Nachdem er mit Oz und Mina wandern war und nachts im Zelt merkte, dass Mina sowohl Oz als auch ihn streichelte, warnt er seinen Freund:

„Sie meint es nicht so ernst, wie du es dir erhoffst.“

Bald darauf sieht Oz, wie sie einen anderen Mann küsst.

Das Wasser war dunkel. Mit allem verbunden.
Marea Neagră.
Oz schwamm weit hinaus.
Er hatte immer den Eindruck, es gebe irgendwo ein Gegengewicht, das ihm im Weg stand, seine Richtung abfälschte, ihn an den Rand schob. Die eigene Kraft dagegensetzen – warum?
Eine wirbelnde Bewegung in den Wellen. Ein Geruch wie an einem kühlen Waldsee. Silbrighelle Schuppenhaut, Feuer.
Leg dich auf meinen Rücken, flüsterte der Drache. Ich nehme dich mit.
„Ist es weit?“
Mit Weite kannte sich der Drache aus.

Jupiter

Während Bene beginnt, Schüler in Deutsch und Erdkunde zu unterrichten, bricht sein Freund Lothar das Studium ab, wird Nachrichtentechniker und tritt in die SED ein. Die beiden trennen sich.

Weil Bene die Einsamkeit nicht erträgt, packt er einen Rucksack, nimmt einen Zug nach Potsdam, fährt per Anhalter zu einer Raststätte an der Interzonen-Autobahn und klettert unbemerkt in einen Lastwagen. Nur durch einen glücklichen Zufall wird er bei der Kontrolle nicht entdeckt.

Erst in diesem Moment wurde Bene bewusst, in welche Gefahr er sich und den LKW-Fahrer gebracht hatte.

Den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch des Ostblocks erlebt er in Ostfriesland. Dort begegnet er einem Mann namens Samuel und begreift rasch, dass es sich um den Sohn des Pfarrer-Ehepaars im Banat handelt, bei dem Lothar und er Anfang der Siebzigerjahre einen Sommer verbrachten. Samuel war damals noch ein Kind.

Am 25. Dezember 1989 werden Elena und Nicolae Ceaușescu in Tîrgoviște erschossen. Zu diesem Zeitpunkt sind Bene und Samuel mit dem Auto unterwegs nach Rumänien.

Florentine und Hannes freuen sich über den Besuch. Paul ist nach dem Suizid seines Sohnes Oz mit der Tochter Thea nach Reşiţa gezogen. Nach der Begrüßung meint Hannes, es gebe noch eine Person, die auf Samuel gewartet habe. Stana steht mit einem kleinen Mädchen in der Tür.

Stana und die Eltern verheimlichten Samuel seine Tochter Livia („Liv“), weil sie nicht wollten, dass er zur Zeit der Diktatur nach Rumänien zurückkehrte. Denn wegen der Flucht mit der gestohlenen Propellermaschine wäre er zu einer längeren Haftstrafe verurteilt worden.

Prestigio

1990 – nach der rumänischen Revolution – verlassen Karline und Johann Hermannstadt und ziehen nach Baden-Württemberg in die Nähe ihrer Söhne Hermann und Günter. Stana und Samuel folgen ihnen.

Stana setzt ihr Architektur-Studium nach der Geburt von Livias Bruder Jarik fort und macht sich mit Freunden zusammen selbstständig. Anders als seine Frau hat Samuel keinen festen Beruf.

Er war einiges gewesen: Fischverkäufer, Taxifahrer, Hausmeister, Türsteher beim Zirkus, Kabelträger bei einer Late-Night-Show, Busfahrer, Waldarbeiter.

Karline überlebt ihren Mann Johann um ein Jahr. Zuletzt ärgerte sich die auch der Monarchie nachtrauernde Greisin über den ehemaligen König Michael I., der seine vom kommunistischen Regime 1948 verstaatlichten Schlösser zurückerhielt und damit endgültig auf den Thron verzichtete.

Zur Beerdigung reisen Florentine und Hannes mit Malva, aber ohne Konstanty, aus Rumänien an. Bene kommt aus Ostfriesland und bringt seinen neuen Lebensgefährten Lorenzo mit.

Malva konnte als Einzige kein Deutsch, Hannes kein Slowakisch, so dass sich die Erwachsenen auf Rumänisch unterhielten, was wiederum Liv und Jarik nicht verstanden, und sich so in den Tagen ihres Besuchs drei Sprachen abwechselten.

Von ihrem Patenonkel Bene bekommt Livia einen Zauberkasten geschenkt. Er bringt ihr bei, dass das Erzählen von Geschichten bei den Kunststücken ein entscheidender Teil der erforderlichen Ablenkung des Publikums sei. Und der Erfolg hänge vom Finale ab, vom Prestigio.

Zaubern war zunächst einmal Handwerk. Dann war es Unterhaltung. Eigentlich war es Täuschen.

Das, was verschwunden war, musste wieder auftauchen. Und wer, außer einer Zauberin, konnte dafür sorgen, dass die Dinge nicht verloren gingen?

Livia wird von ihrer Schulfreundin Anna überredet, mit ihr, Marko und Tim zu einem Konzert in München zu fahren. Livia und Anna sitzen hinten im Auto. Unerwartet steigt noch jemand in das Auto ein und setzt sich neben Livia. Bei Noah handelt es sich um einen Jungen, den Livia als Hilfskraft in einem Bistro kennt und in den sie sich bereits heimlich verliebt hat. Jetzt erfährt sie, dass das Bistro seinen Eltern gehört.

Das Konzert in München fällt wegen Krankheit aus. Die Gruppe beschließt, zurückzufahren. Es beginnt zu schneien. Marko hat als einziger einen Führerschein, und als es ihm zu viel wird, biegt er an einer Tankstelle von der Autobahn ab. Es ist so glatt, dass das Auto beim Abbremsen ins Rutschen kommt. Während es weiter schneit, übernachten die fünf Jugendlichen im geheizten Wickelraum der Tankstelle.

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In ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“ erzählt Iris Wolff von Verlust und Neuanfang, Veränderung und Entwicklung, Liebe, Freundschaft und Einsamkeit, Opferbereitschaft, Herkunft und Mehrsprachigkeit. An einer Stelle sagt Florentine im Banat:

„Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“

Iris Wolff entwickelt eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse vor allem in Rumänien zwischen der zweiten Amtszeit des Königs Michael I. (1940 bis 1947) und dem Sturz des Diktators Nicolae Ceaușescu (1989), über dessen Regime sie mit besonderem Sarkasmus schreibt (Zitat in der Inhaltsangabe).

In „Die Unschärfe der Welt“ geht es um Menschen aus vier Generationen, um Livia, ihre Eltern Stana und Samuel, die Großeltern Florentine und Hannes und die Urgroßeltern Karline und Johann. Im Mittelpunkt stehen sieben Personen aus der Familie, aber auch aus dem Umfeld, deren miteinander verzahnte Biografien und Perspektiven sich in den sieben Kapiteln des Romans abwechseln. Bei der einzigen Romanfigur, die in allen Kapiteln eine Rolle spielt, handelt es sich um Samuel.

„Die Unschärfe der Welt“ beginnt und endet im Schnee. Auch das erste Wort, das Samuel spricht, lautet Zăpadă (Schnee). So ist auch das erste Kapitel betitelt, in dem eine Schwangere um ihr ungeborenes Kind bangt. Das letzte Kapitel, „Prestigio“, endet in einem Wickelraum.

Iris Wolff schreibt zurückhaltend und ohne Effekthascherei, feinsinnig und einfühlsam. „Die Unschärfe der Welt“ wirkt verknappt, aber weniger stringent als poetisch und atmosphärisch dicht.

Dem Text vorangestellt hat Iris Wolff ein Gedicht des 1952 im Banat geborenen rumänisch-deutschen Schriftstellers Richard Wagner:

Ich sah
den Stein schmelzen
und die Liebe gehen
ruft der Vogel
aus dem Baum
Wir sagen:
Er singt

Der Roman „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff stand 2020 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und wurde außerdem sowohl für den Bayerischen Buchpreis als auch den Wilhelm-Raabe-Preis nominiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Iris Wolff: So tun, als ob es regnet
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