Gianrico Carofiglio : Am Abgrund aller Dinge

Am Abgrund aller Dinge
Originalausgabe: Il bordo vertiginoso delle cose Rizzoli, Mailand 2013 Am Abgrund aller Dinge Übersetzung: Verena von Koskull Wilhelm Goldmann Verlag, München 2015 ISBN: 978-3-442-31227-6, 287 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Enrico Vallesi liest kurz vor seinem 48. Geburtstag in der Zeitung, dass Salvatore Scarrone bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kam. Er kann sich gut an Salvatore erinnern. Enrico war 16, als der zwei Jahre Ältere zu ihm in die Schulklasse kam. Salvatore bildete ihn nicht nur im Guerillakampf aus, sondern stiftete ihn auch zu Straftaten an. Aber als Enrico erfuhr, dass die von ihm angebetete junge Lehrerin eine Affäre mit Salvatore gehabt hatte, brach er ihm die Nase ...
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Kritik

In dem Entwicklungsroman "Am Abgrund aller Dinge" geht es um Mut, Würde und Unabhängigkeit. Gianrico Carofiglio entfaltet die Handlung auf zwei Zeitebenen im Wechsel. Für den erwachsenen Protagonisten, der sich selbst kritisch gegenübersteht, ver­wen­det er die unübliche Du-Form.
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Enrico Vallesi wurde in Bari geboren und wuchs dort auf. Seine Mutter Elisabetta war dort Fachoberschullehrerin für Rechnungswesen, sein Vater Mario praktizierte als Internist, und auch sein zwei Jahre älterer Bruder Angelo wurde Arzt. Enrico hingegen schrieb schon als Schüler heimlich Gedichte und Erzählungen. Zum Studieren zog er im Alter von 19 Jahren nach Florenz, wo er noch immer wohnt. Er arbeitete als Bibliothekar, bis er mit Ende 30 einen Roman schrieb – „Wir möchten lieber nicht“ – und damit großen Erfolg hatte.

Mindestens ein Jahr lang habe ich wie in einem Rausch zugebracht. Bestsellerlisten, Auslandsrechte, Filmoptionen, Lesereisen durch ganz Italien, volle Buchhandlungen. Ich war high. Und als wäre das alles nicht genug, kommt auch noch das Angebot des großen Verlages. Ein Vertrag über zwei Bücher mit einem unglaublichen Vorschuss.

Daraufhin kündigte Enrico seine Anstellung. Aber er brachte keinen zweiten Roman mehr zustande. Als die vertraglich vereinbarte Abgabefrist längst abgelaufen war, beauftragte ihn der Verlag, die untalentiert zu Papier gebrachte Autobiografie eines Prominenten komplett neu zu schreiben. Seither lebt er von dieser Tätigkeit als Ghostwriter. Zwölf Bücher sind es inzwischen geworden. Außerdem gibt er hin und wieder Schreibseminare. Zehn Jahre lang lebte Enrico mit einer Frau zusammen, aber vor fünf Jahren verließ sie ihn, angeblich weil er durch seine Obsession fürs Schreiben den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte. Jedenfalls wechselte Agata zu einem neun Jahre jüngeren Mann.

Als Enrico Vallesi wenige Tage vor seinem 48. Geburtstag beim Frühstück in einer Bar in Florenz die Zeitung liest, wird er auf eine Meldung über einen versuchten Überfall auf einen Geldtransporter in Bari aufmerksam. Es kam zu einer Schießerei mit der Polizei. Zwei Verbrecher wurden verhaftet. Der dritte, Salvatore Scarrone, kam ums Leben.

Im Internet ist nachzulesen, dass Salvatore Scarrone von Ende der Siebziger- bis Ende der Achtzigerjahre in verschiedenen Untergrundorganisationen der militanten Linken aktiv war. Er verbüßte eine Haftstrafe von 14 Jahren. Danach überfiel er weiter Postämter, Juweliergeschäfte und Geldtransporter, allerdings ohne politische Motive. Zuletzt befand er sich im offenen Vollzug.

Enrico Vallesi kann sich gut an Salvatore Scarrone erinnern. Kurz entschlossen kauft er sich eine Zugfahrkarte nach Bari, packt ein paar Sachen zusammen und fährt los. Seit 30 Jahren war er nicht mehr in seiner Geburtsstadt. Eigentlich hält er es nicht für eine gute Idee, „alten Kram aufzuwärmen“, aber die Nachricht hat ihn aufgewühlt und Erinnerungen an die letzten Jahre am Orazio Flacco-Gymnasium stürmen auf ihn ein.

Nach der Ankunft in Bari nimmt er sich ein B&B-Quartier. Am nächsten Tag ruft er seinen Bruder Angelo an, der ihn zum Essen einlädt. Angelo Vallesi arbeitet als Arzt im Krankenhaus. Seine Frau heißt Patrizia. Bei Enricos Nichten handelt es sich um inzwischen 19 Jahre alte Zwillinge: Paola studiert Medizin, Vittoria Jura.

In der Schulzeit war Enrico ein Einzelgänger. Die einzige Freundschaft verband ihn mit einer Mitschülerin: Stefania Berberian. Deren Großeltern waren aus Armenien nach Italien geflohen. Der Vater fertigte selbstentworfene Möbel an, und die Mutter unterrichtete an der Kunstakademie in Bari. Als Enrico Stefania unbeholfen küsste, zeigte sie ihm, wie man es macht, vertraute ihm aber zugleich an, dass sie lesbisch sei. Daraufhin fühlte Enrico sich befreit und erleichtert.

In der elften Klasse fiel der Lehrer Roberto Segantini, der Enricos Klasse in Geschichte und Philosophie unterrichten sollte, wegen einer Krankheit aus. Celeste Belforte, die erst sechs Jahre zuvor selbst das Abitur am Orazio Flacco-Gymnasium bestanden hatte, sprang für ihn ein. Enrico verliebte sich heimlich in sie.

Damals kam Salvatore Scarrone in die Klasse. Er war bereits 18, zwei Jahre älter als Enrico Vallesi, weil er zwei Schuljahre hatte wiederholen müssen.

Zu Beginn des Schuljahrs wurden Enrico und einige andere Gymnasiasten auf einem Sportplatz von vier faschistischen jungen Männern angepöbelt. Enrico wollte sich das nicht gefallen lassen und ging davon aus, dass es seinen Schulkameraden ebenso ging, aber sie schauten untätig zu, wie ihn die Kerle verprügelten. Da tauchte Salvatore Scarrone mit einem auf dem Großmarkt arbeitenden Kumpel namens Vito auf, und die beiden schlugen die vier Angreifer in die Flucht.

Einige Zeit später bot Salvatore Enrico ein Kampftraining an und gab ihm die Adresse eines „Italien-Kuba-Vereins“. Enrico ging von da an heimlich hin. Salvatore erklärte ihm und den anderen Jungen, die zum Training kamen, wie man sich gegen Angriffe wehrt und einen Gegner wirkungsvoll attackiert, beispielsweise mit einem Ellenbogen, einem Kopfstoß oder einen Kniehieb. Dabei lernte Enrico, dass man besser nicht mit der Faust zuschlägt, sondern mit der flachen Hand. Anfangs schaffte er nur zehn Liegestütze, aber innerhalb weniger Monate steigerte er sich auf über 50. Salvatore setzte auch Übungen an, mit denen die Leidensfähigkeit gesteigert werden sollte, und schließlich tauchten Eisenstangen, Ketten und andere Waffen auf.

Unter dem Vorwand, an einer neuer Romanfigur zu arbeiten, erbittet Enrico von Peppino Ciliberti, dem stellvertretenden Polizeipräsidenten von Bari, den er aus der Jugendzeit kennt, Material über Salvatore Scarrone und erhält eine Zusammenstellung von Akten.

Jetzt hast du Berichte, Protokolle und vertrauliche Briefe von vor über dreißig Jahren in der Hand. Aus deiner Schulzeit. Die Erstellungsdaten dieser Unterlagen faszinieren dich. Als die unbekannten Polizisten diese surreale Prosa auf ihren Schreibmaschinen zusammentippten, warst du fünfzehn, sechzehn Jahre alt.

Aus den Unterlagen geht hervor, dass die Polizei damals den Italien-Kuba-Verein observierte und die Personen fotografierte, die dort hingingen. Auf einer Liste findet er auch seinen eigenen Namen: „Enrico Vallesi, Schüler, nicht vorbestraft“.

Eine alte Frau fällt ihm auf, die aus einem Laden kommt, der Gold ankauft. Vermutlich hat auch ein Straßenräuber sie beobachtet. Jedenfalls überfällt der Junge sie. Ohne lang nachzudenken, eilt Enrico ihr zu Hilfe und bricht dem Kleinganoven mit einem einzigen Schlag die Nase.

Von seinem Bruder erfuhr Enrico, dass Stefania Berberian einen Bioladen im Madonnella-Viertel betreibt. Sie geht mit ihm zum Essen in ein Restaurant. Dabei verrät sie ihm, dass bei ihr vor drei Jahren Lungenkrebs diagnostiziert wurde.

In der elften Klasse am Gymnasium bat Enrico die Aushilfslehrerin Celeste Belforte einmal, eine von ihm geschriebene Geschichte zu lesen. Als sie es getan hatte, fragte sie ihn zunächst argwöhnisch, ob er den Text irgendwo abgeschrieben habe. Das verletzte ihn, aber aus seiner Reaktion schloss sie, dass es sich nicht um ein Plagiat handelte, und sie meinte:

„So schreiben zu können ist ein Privileg, aber auch eine Verantwortung. Wenn einer eine solche Gabe besitzt, darf er sie nicht vergeuden.“

Nach ein paar Monaten Kampftraining wurde Enrico von Salvatore Scarrone aufgefordert, bei einem Ladendiebstahl im Standa-Supermarkt mitzumachen. Dann nahm Salvatore ihn auf einem Motorrad mit in einen Steinbruch und zeigte ihm, wie man mit einer großkalibrigen Pistole schießt. Auf dem Rückweg entdeckte Salvatore einen Jungen namens Aldobrandi, den er als „brutales Faschoschwein“ bezeichnete. Salvatore, der die geladene Pistole im Hosenbund stecken hatte, wollte ihm auf der Straße in die Beine schießen, aber im letzten Augenblick machte Enrico ihn auf einen Polizisten aufmerksam.

Kurz vor dem Ende des Schuljahrs hielt Celeste Belforte ihre letzte Unterrichtsstunde, weil der Lehrer Roberto Segantini inzwischen genesen war. Enrico vermisste Celeste und versuchte, ihre Privatadresse herauszufinden. Im Sekretariat gab er vor, ein von ihr geliehenes Buch zurückgeben zu wollen, aber Daten von Lehrkräften durften nicht herausgegeben werden. Stefania Berberian riet ihrem Freund, Salvatore Scarrone zu fragen, denn sie habe ihn einmal mit der Lehrerin zusammen auf einem Motorrad gesehen. Als Enrico den Mitschüler auf Celeste Belforte ansprach, gab dieser ohne weiteres zu, ein paar Wochen lang eine Affäre mit ihr gehabt zu haben. Bei der Vorstellung, dass die Angebetete mit Salvatore geschlafen hatte, brach für Enrico eine Welt zusammen.

Von da an mied er Salvatore und ging auch nicht mehr zum Training. Salvatore sprach ihn in der Schule darauf an und packte ihn am Arm. Wie Enrico es von ihm gelernt hatte, reagierte er darauf instinktiv mit einem Kopfstoß und brach dem zwei Jahre Älteren die Nase.

An den folgenden Tagen fürchtete Enrico sich vor der Rache, aber Salvatore kam nicht mehr in die Schule, und dann las Stefania in der Zeitung, dass man ihn verhaftet hatte, und zwar wegen eines Raubüberfalls auf den Juwelier Sabino Lattarulo.

Zwei Monate später endete das Schuljahr.

Enrico Vallesi bringt Sachen in die Reinigung, geht frühstücken und lässt sich dann in einem Frisörsalon rasieren. Auf der Straße fällt ihm ein schmutziger Mann auf, der Passanten nach der Uhrzeit fragt. Neugierig geworden, nähert Enrico sich und sieht, dass sich der vermeintliche Obdachlose das Gesicht mit Ruß geschwärzt hat. Er spricht ihn an und erfährt, dass der 27-Jährige an einem Roman arbeitet und dafür Erfahrungen über den Umgang der Menschen mit einem Außenseiter sammelt. Enrico schreibt ihm seine Kontaktdaten auf und verabschiedet sich mit den Worten:

„Melde dich, wenn du fertig bist. Das ist eine Chance, vertue sie nicht.“

Enrico macht Celeste Belforte an der Universität Bari ausfindig: die Professoressa leitet das Institut für Sprachphilosophie. Sie nimmt gerade Prüfungen ab. Enrico streicht im Korridor herum. Gerade als er sein Verhalten für absurd hält und zu gehen beschließt, spricht sie ihn an. Er wundert sich darüber, dass sie sich nach 30 Jahren an ihn erinnert. Celeste sagt, sie habe damit gerechnet, dass er aufgrund der Nachricht von Salvatores Tod nach Bari kommen würde. Sie muss noch einige Prüfungen abnehmen, schlägt Enrico jedoch vor, in eineinhalb Stunden essen zu gehen.

Sie kehrt zu ihren Prüfungen und Studenten zurück, und als du sie davongehen siehst, spielen Erinnerung und Wahrnehmung dir einen weiteren Streich, und du siehst – tatsächlich –, wie die junge Frau von vor dreißig Jahren den Klassenraum der I E verlässt und die verzweifelten und unüberwindlichen Träume eines Jungen mit sich nimmt, der Schriftsteller werden wollte.

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„Am Abgrund aller Dinge“ ist ein Entwicklungsroman von Gianrico Carofiglio. Es geht um den 16-jährigen Gymnasiasten Enrico Vallesi aus Bari, einen Einzelgänger, der mit niemandem außer einer lesbischen Mitschülerin befreundet ist, sich heimlich in eine junge Lehrerin verliebt und von einem Terroristen der militanten Linken nicht nur im Guerillakampf ausgebildet, sondern auch zu Straftaten angestiftet wird. Als Enrico, der seit dem Studium in Florenz lebt, gut 30 Jahre nach dem ereignisreichen Schuljahr in der Zeitung liest, dass Salvatore Scarrone bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kam, kehrt er erstmals seit Jahrzehnten wieder nach Bari zurück, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Versäumtes nachzuholen.

Paradoxerweise heißt es in „Am Abgrund aller Dinge“:

Schaut nicht zurück, dort wart ihr schon.

An anderer Stelle zitiert der Protagonist passenderweise den englischen Dichter Robert Browning:

Unser Interesse gilt dem gefährlichen Rand der Dinge.

Außerdem erwähnt Gianrico Carofiglio mehrmals die Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville:

[…] und ich erwähne sie, weil sie eine großartige Abhandlung über die Fähigkeit ist, Nein zu sagen, eine der wesentlichen Handlungen, in denen sich der Freiheitsgedanke manifestiert.

In „Am Abgrund aller Dinge“ geht es nicht zuletzt um Mut, Würde und Unabhängigkeit. Die Aushilfslehrerin Celeste Belforte zählt fünf Frauen auf, die sich durch diese Eigenschaften auszeichneten: Lilith, Hypatia, Christine de Pizan, Artemisia Gentileschi und Hannah Arendt.

Gianrico Carofiglio entfaltet die Geschichte in „Am Abgrund aller Dinge“ auf zwei Zeitebenen im Wechsel. Zum einen begleiten wir den knapp 48-jährigen Enrico Vallesi auf seiner Reise in die Vergangenheit und zwischendurch erfahren wir, was er im Alter von 16 Jahren erlebte. Während Gianrico Carofiglio über den Jugendlichen in der Ich-Form und im Präteritum schreibt, verwendet er in den anderen Abschnitten nicht nur das Präsens, sondern auch die unübliche zweite Person Singular. Das ist vermutlich nicht nur ein Stilmittel, sondern damit unterstreicht Gianrico Carofiglio auch, dass der Protagonist sich selbst distanziert gegenübersteht.

Der Aufbau des Romans ist gelungen. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass einige Episoden wie zum Beispiel der Besuch Enricos bei seinem Bruder und dessen Familie, seine Begegnungen mit einem pensionierten Lehrer, einem Straßenräuber und einem angehenden Schriftsteller isoliert bleiben. Gianrico Carofiglio hat sie eingefügt, um einige Aspekte seiner Themen zu beleuchten, aber nicht mit dem Ganzen verschmolzen.

Gianrico Carofiglio wurde am 30. Mai 1961 in Bari geboren. Vier Jahre lang arbeitete er in seiner Heimatstadt als Staatsanwalt, und 2007/08 beriet er die Antimafia-Kommission des italienischen Parlaments. 2008 ließ er sich für den Partito Democratico in den Senat wählen. 2002 debütierte Gianrico Carofiglio mit einem Kriminalroman über die Figur Guido Guerrieri: „Testimone inconsapevole“ / „Reise in die Nacht“ (Übersetzung: Claudia Schmitt, 2006).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

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