Herman Melville : Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber
Originalausgabe: Bartleby the Scrivener Putnam's Monthly Magazine, 1853 Bartleby, der Schreiber Übersetzung: Karlernst Ziem Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 1966 Neuübersetzung: Jürgen Krug Insel Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN: 978-3-458-34734-7, 99 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Anwalt stellt den Schreiber Bartleby in seiner Kanzlei ein. Bartleby ist fleißig und gewissenhaft, aber oft lehnt er es ab, bestimmte Arbeiten zu verrichten. Die stehende Redewendung "Ich möchte lieber nicht", treibt seinen Dienstherrn zur Verzweiflung. Mit seiner konstanten Verweigerungshaltung gerät er zunehmend in Schwierigkeiten. – In der Geschichte "Bartleby und der Schreiber" stoßen ein lebensuntüchtiger "Verneiner" und ein humaner Realist aufeinander.
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Kritik

Die Geschichte ist unterhaltsam, aber auch verstörend. Man möchte gerne wissen, was Bartleby zu seiner abweisenden Haltung veranlasst. Gut nachfühlbar ist die Reaktion seines Dienstherrn, der kochende Wut und Nächstenliebe in Einklang bringt.
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Der etwa sechzigjährige Rechtsanwalt, von dem wir diese Geschichte erzählt bekommen, übt seinen Beruf seit dreißig Jahren in New York aus. Sein Motto „die bequemste Lebensweise ist die beste“ bewahrt ihn davor, dass seine Gemütsruhe durch Turbulenzen gestört wird.

Ich bin einer jener ehrgeizlosen Rechtsanwälte, der niemals das Wort an Geschworene richtet oder auf irgendeine Weise den Beifall der Öffentlichkeit auf sich zieht, sondern ich mache, in der kühlen Stille einer behaglichen Zufluchtsstätte, recht einträglich Geschäfte mit den Wertpapieren … reicher Leute. Alle, die mich kennen, halten mich für einen in hohem Maße umsichtigen Menschen. (Seite 10)

Drei Angestellte arbeiten in seiner Kanzlei: Die Aktenschreiber Turkey und Nippers sowie der zwölfjährige Laufbursche Ginger Nut. Zu seiner ursprünglichen Tätigkeit, „die eines Notars und Verfassers schwer verständlicher Dokumente aller Art“, kommt weitere Arbeit auf ihn zu, denn er lässt sich in ein Beisitzeramt installieren. Deshalb benötigt er einen zusätzlichen Angestellten. Auf seine Anzeige meldet sich ein junger Mann.

Ich sehe die Gestalt noch vor mir – farblos ordentlich, Mitleid erregend anständig, rettungslos verlassen! Es war Bartleby. (Seite 21)

Außer dass ihn die Fähigkeiten des Bewerbers überzeugen, glaubt der Anwalt, die ruhige Ausstrahlung Bartlebys könne sich auf Turkeys aufbrausendes und Nippers‘ hitziges Temperament vorteilhaft auswirken. In einer Ecke des Büros wird ein Pult aufgestellt, verdeckt durch einen Wandschirm; so ist Bartleby zwar den Blicken entzogen, jedoch durch Rufen erreichbar. Privatheit und Geselligkeit seien gewissermaßen vereint, so stellt der Arbeitgeber sich das vor.

Bartleby kopiert eine Unmenge von Akten, verlässt weder zum Essen noch für andere Pausen seinen Platz und arbeitet Tag und Nacht. Zu den Aufgaben der Schreiber gehört es auch, die Richtigkeit der Kopien sicherzustellen. Dabei liest einer die Kopie vor, und ein anderer überprüft sie anhand des Originals.

Wenn die Angelegenheit drängt, macht der Anwalt dies oft selbst. Er möchte schnell ein Dokument zusammen mit ihm gegenlesen, ruft er Bartleby zu, der hinter seinem Paravent arbeitet. Dieser lässt nur ein sanftes, aber entschiedenes „Ich möchte lieber nicht“ („I would prefer not to“) hören. Verblüfft und verärgert fordert der Anwalt seinen Schreiber noch einmal auf, das Schriftstück mit ihm zu vergleichen, doch der gibt ihm wieder dieselbe Antwort. Dabei sieht Bartleby ihn unbewegt und ohne Erregung an. Hätte der Anwalt auch nur Zeichen von Unbehagen, Ärger oder Unverschämtheit in seinem Zügen lesen können, er hätte ihn sofort entlassen. Aber so ist er nur perplex und weiß nicht, wie er sich verhalten soll.

Ein paar Tage später ist die vierfache Ausfertigung einer Zeugenausage zu kontrollieren. Die zwei Aktenschreiber, Ginger Nut und der Anwalt haben schon alles vorbereitet, nun soll noch Bartleby dazukommen. Als sie nach ihm rufen, kommt er zwar hinter seinem Wandschirm hervor, antwortet aber mit seiner Standardfloskel und setzt sich wieder an sein Pult. Auch als sein Vorgesetzter ihm die Notwendigkeit dieser Arbeit erklärt, erwidert er: „Ich möchte nicht.“ Auf weitere Aufforderungen, seine Pflicht zu erfüllen, reagiert Bartleby mit entschlossener Verweigerung – und diese Ablehnung sei bedacht und unwiderruflich, sagt er.

So verärgert der Anwalt ist, so tut ihm der Eigenbrötler doch ein wenig leid. Was kann der arme Mensch für seine unfreiwilligen Verschrobenheiten, überlegt er – und er ist mir nützlich. Würde er ihn entlassen, geriete Bartleby womöglich an einen unnachsichtigen Arbeitgeber, und wer weiß, was dann mit ihm geschähe.

Hier kann ich mir billig eine köstliche Selbstbestätigung verschaffen. Bartleby freundschaftlich zu behandeln, ihm in seiner seltsamen Eigenwilligkeit mit Geduld zu begegnen wird mich wenig oder nichts kosten, wohingegen ich in meiner Seele etwas ansammle, was sich schließlich als eine süße Speise für mein Gewissen erweisen wird. (Seite 30)

Doch diese versöhnliche Stimmung dauert nicht an. Manchmal reizt ihn Bartlebys Haltung dermaßen, dass er ihn zu unbeherrschten Reaktion anstiften möchte. Wieder einmal fordert er Bartleby auf, ein Schriftstück mit ihm zu vergleichen. „Ich möchte lieber nicht.“ Und gleich darauf legt er es nochmals darauf an, Bartlebys Widerstand zu provozieren. Er weiß, dass sein Kopist niemals die Kanzlei verlässt. Gerade deshalb beauftragt er ihn mit einem Botengang zum Postamt.

„Ich möchte lieber nicht.“
„Sie wollen nicht?“
„Ich möchte nicht. […]
„Bartleby!“
Keine Antwort. (Seite 33)

Erst nach der dritten, gebrüllten Aufforderung lässt sich Bartleby sehen. Der Anwalt schickt ihn mit einem Auftrag zu Nippers nach nebenan.

„Ich möchte nicht“, sagte er ehrerbietig und langsam und verschwand sachte.
„Schon gut, Bartleby“, sagte ich in einem ruhigen, gelassen strengen, beherrschten Tone, der die unabänderliche Absicht einer sehr nahe bevorstehenden schrecklichen Vergeltung andeutete. Im Augenblick war ich auch halb zu etwas Derartigen entschlossen. (Seite 33)

Der Anwalt gesteht sich ein, dass er sich damit abgefunden hat, einen zwar fleißigen, ehrlichen und vertrauenswürdigen, aber aufsässigen Schreiber bei sich beschäftigt zu haben.

Eines Sonntags schaut der Anwalt vor der Messe noch in seiner Kanzlei vorbei. Er kann aber nicht aufschließen, weil von innen ein Schlüssel steckt, der sogleich von drinnen umgedreht wird. Im Türspalt erscheint in einem zerlumpten Morgenrock Bartleby. Es tue ihm leid, sagt er, er sei gerade noch beschäftigt und wolle ihn jetzt nicht hereinlassen. Er solle dreimal um den Block laufen, dann werde er mit seinen Angelegenheiten wahrscheinlich fertig sein. Der Anwalt ist derart verblüfft und von der „leichenhaft vornehmen Nonchalance“ Bartlebys beeindruckt, dass er um die Häuser läuft.

Von der „sanftmütigen Unverschämtheit“ seines rätselhaften Schreibers entwaffnet, aber dennoch darüber verärgert, dass ihn ein Angestellter von seiner eigenen Tür wegschickt, macht er sich Gedanken, was dieser an einem Sonntagmorgen in ungepflegtem Zustand in seiner Kanzlei zu schaffen hat. Aber immer noch unterstellt er Bartleby keine Unredlichkeiten. Als er zurückkommt, ist Bartleby nicht mehr da. Bei genaueren Hinsehen deutet einiges darauf hin, dass dieser seit unbestimmter Zeit in der Kanzlei gegessen und geschlafen hat. Die Armseligkeit dieses Sonderlings erweckt sein Mitgefühl.

Was ich an diesem Morgen sah, überzeugte mich, dass der Schreiber das Opfer einer angeborenen und unheilbaren Krankheit war. Seinem Körper hätte ich Almosen geben können, aber sein Körper schmerzte ihn ja nicht; seine Seele war es, die litt, und seine Seele konnte ich nicht erreichen. (Seite 41)

Für den nächsten Morgen nimmt sich der Anwalt vor, Bartleby ein paar Fragen nach seinem früheren Leben zu stellen, und wenn er sich weigerte, sie zu beantworten, würde er ihm erklären, dass er „seiner Dienste nicht länger bedürfe“. Das Gespräch mit Bartleby entwickelt sich erwartungsgemäß zu einer Abfolge von „ich möchte lieber nicht“, und er ist auch nicht bereit, einen Grund zu nennen, warum er keine Fragen beantwortet. Der Anwalt ist zwar verärgert, aber er gibt seinem Schreiber noch ein Chance und schlägt ihm vor, von nun an „ein bisschen vernünftig zu sein“.

„Im Augenblick möchte ich lieber nicht ein bisschen vernünftig sein“, war seine sanft leichenhafte Antwort. (Seite 44)

Inzwischen spotten Turkey und Nippers über ihren Kollegen und fänden es ganz in Ordnung, wenn ihr Chef ihn entlassen würde, denn mittlerweile starrt Bartleby nur noch aus dem Fenster. Einen Grund dafür kann oder will er nicht nennen: „Sehen Sie den Grund nicht selbst?“ Dem Anwalt fällt auf, dass die Augen des fleißigen Schreibers trüb sind und erklärt sich eine eventuelle Sehkraftschädigung durch das häufige Arbeiten im Dämmerlicht. Er bietet ihm an, eine Zeitlang nicht ins Kontor zu kommen und sich stattdessen im Freien zu bewegen. Das lehnt Bartleby jedoch ab und nach ein paar Tagen gibt er zu verstehen, dass er nicht mehr kopieren werde. Das ist dem Anwalt nun denn doch zu viel und er bringt Bartleby so schonend wie möglich bei, dass er nach sechs Tagen die Kanzlei verlassen müsse. Während dieser Zeit sollte es ihm möglich sein, neue Arbeit zu finden.

Die Frist ist verstrichen, Bartleby ist immer noch da. Sein Vorgesetzter gibt ihm seinen Lohn und rundet die Summe großzügig auf. Bartleby rührt die Geldscheine nicht an. Der Anwalt lässt ihm das Geld da und bietet außerdem an, ihm an seinem neuem Aufenthaltsort behilflich zu sein. Bartleby möge nach seinem Weggehen die Tür verschließen und den Schlüssel unter die Fußmatte legen.

Am nächsten Morgen bückt sich der Anwalt vor seiner Kanzleitür, um den Schlüssel unter der Matte zu holen und stößt versehentlich gegen die Tür. Unverzüglich ist eine Stimme zu hören: „Noch nicht; ich bin beschäftigt.“ Wie vom Blitz getroffen steht er da und kann es sich selbst nicht erklären, dass er auf der Stelle das Haus verlässt. Soll er den Mann eigenhändig hinauswerfen oder die Polizei holen, überlegt er. Nein, er wird noch einmal selbst mit ihm sprechen.

Zuerst versucht er, an Bartlebys Vernunft zu appelieren, dann wird er zunehmend ärgerlich. Zornig fährt er ihn an, ob er ihn nun endlich verlassen wolle!

„Ich möchte Sie lieber nicht verlassen.“ (Seite 54)

Der Anwalt verliert vor Wut fast seine Beherrschung, weil sich Bartleby ohne weitere Einlassungen hinter seinen Wandschirm zurückzieht. Nachdem er sich auf das Gebot der Nächstenliebe besinnt, schwindet sein Groll, und er hält dem armen Menschen zugute, dass er es ja nicht böse meint.

Weitere Tage vergehen, und Bartleby hält sich immer noch in der Kanzlei auf. Den Anwalt bekümmert das jetzt schon nicht mehr. Ja, er sieht es inzwischen so, als sei die Gewährung der Unterkunft ein ihm vorherbestimmter Zweck seines Daseins. Wären da nicht die abfälligen Bemerkungen seiner Geschäftsfreunde über seinen eigenartigen Bewohner gewesen, hätte er an dem Zustand nichts geändert. Aber wegen des fortwährenden Getuschels befürchtet er eine Schädigung seines beruflichen Ansehens und will nun endgültig einen Schlussstrich ziehen. Eine Frist von drei Tagen setzt er Bartleby. Und drei Tage braucht dieser, um kundzutun, dass er lieber bleiben möchte. Nun versucht es der Anwalt auf eine andere Tour: Er habe beschlossen, in andere Büroräume zu ziehen; dort sei aber keine Verwendung mehr für ihn. Nach erfolgtem Abtransport des Büroinventars lässt er Bartleby „als den unbeweglichen Bewohner eines kahlen Raumes zurück“. Er verabschiedet sich von ihm, drückt ihm Geld in Hand, das Bartleby aber zu Boden fallen lässt.

Zur Erleichterung des Anwalts lässt sich sein früherer Angestellter in den neuen Kanzleiräumen nicht blicken. Aber dann taucht ein Fremder auf, der die alte Kanzlei in der Wall-Street gemietet hat. Er beschwert sich darüber, dass der Mann, der dort noch immer haust, sich weigere, irgendwelche Schreibarbeit zu machen und auch nicht bereit sei, die Räume zu verlassen. Der Anwalt beteuert, für seinen früheren Kopisten nicht verantwortlich zu sein. Nach einigen Tagen bestürmen mehrere Mieter aus der Wall-Street sein Büro und drängen ihn, etwas zu unternehmen. Bartleby wurde von dem Nachmieter aus der Kanzlei geworfen. Nun sitzt er tagsüber im Treppenhaus und schläft nachts in der Eingangshalle. Um eine Bloßstellung in der Presse (wie ihm angedeutet wurde) zu vermeiden, sagt der Anwalt zu, sich um die Angelegenheit zu kümmern.

Bartleby sitzt auf der Geländersäule, als der Anwalt eintrifft. Dessen Versuche, ihn davon zu überzeugen, dass die derzeitige Situation für ihn unhaltbar sei, schlagen fehl. Keine seiner Vorschläge für berufliche Veränderungen findet er annehmbar. In seiner Verzweiflung schlägt ihm der Anwalt vor, ihn in seiner Wohnung (nicht in der neuen Kanzlei) aufzunehmen, bis eine passende Regelung für ihn gefunden sei.

„Nein, im Augenblick möchte ich lieber überhaupt keine Veränderung vornehmen.“
(Seite 66)

Kopflos stürzt der Anwalt davon und springt auf den erstbesten Omnibus auf. Aus Furcht, von dem aufgebrachten Hauseigentümer und seinen erbosten Mietern erneut belästigt zu werden, beauftragt er Nippers mit den Aufgaben in der Kanzlei. Er selbst fährt einige Tage mehr oder minder ziellos im Umkreis von New York durch die Gegend.

Zurück in der Kanzlei, findet er eine Nachricht vor, der zu entnehmen ist, dass Bartleby von der Polizei als „Vagabund“ in die Halls of Justice gebracht wurde. Er wird gebeten, zur Klärung des Sachverhalts dort zu erscheinen. Noch am gleichen Tag berichtet er dem zuständigen Beamten, was er weiß und versichert ihm, dass „Bartleby ein völlig redlicher Mensch und sehr zu bemitleiden, doch unerklärlich überspannt sei“. Deshalb schlage er weniger strenge Haftbedingungen vor; außerdem bittet er um eine Unterredung mit dem Häftling.

Bartleby darf sich frei im Gefängnishof bewegen. Als er von seinem früheren Arbeitgeber angesprochen wird, reagiert er barsch. Auch die Erklärung, dass dieser mit seiner Verhaftung nichts zu tun habe, stimmt ihn nicht um. Am Korridor trifft der Anwalt auf einen Mann, der für die Essensverteilung zuständig ist. Der bietet ihm an, gegen entsprechendes Entgelt besseres Essen für seinen Freund zu besorgen. Der „Essensmann“ fragt Bartleby daraufhin, was er zu Mittag haben möchte.

„Ich möchte heute nicht zu Mittag essen“, sagte Bartleby und wandte sich ab. „Es würde mir schlecht bekommen, ich bin an Mittagessen nicht gewöhnt.“ Damit ging er langsam zur anderen Seite des Hofes und stellte sich mit dem Gesicht zu der toten Mauer auf. (Seite 71)

Der Essensmann findet die Reaktion ungewöhnlich: „Er is ’n bisschen komisch, was?“ „Ich glaube, er ist geistig etwas gestört“, antwortet der Anwalt, und bittet ihn, sich um seinen Schützling zu kümmern.

Ein paar Tage darauf erhält der Anwalt wieder Zutritt in das Gefängnis und fragt einen Wärter nach Bartleby. Wenn er den stummen Mann suche: Da drüben schlafe er im Hof. Es ist noch keine zwanzig Minuten her, seit er sich hingelegt hat. Der Anwalt sieht den abgezehrten Bartleby zusammengekauert auf dem Boden liegen. Nichts an ihm regt sich. Als er sich über ihn beugt, sieht er zwar, dass seine trüben Augen geöffnet sind, sonst scheint er aber schlafen. Als er seine Hand anfasst, weiß er, was geschehen ist.

Gerade kommt der Essensmann vorbei.

„Sein Mittagessen ist fertig. Will er heute auch nicht essen? Oder lebt er, ohne zu essen?“
„Lebt, ohne zu essen“, sagte ich und schloss ihm die Augen. (Seite 73)

Der erzählende Anwalt lässt den Leser noch wissen, dass er ein paar Monate nach dem Tod des Schreibers erfuhr, dass Bartleby ein untergeordneter Angestellter im Dead Letter Office gewesen war und seine Stellung wegen eines Regierungswechsels verloren hatte. In diesem Amt gehen die unzustellbaren Postsendungen ein, und wenn der Adressat auch hier nicht ermittelt werden kann, werden sie verbrannt. Wie kann ein Mensch, der sich jahrelang mit solch einer trostlosen Verrichtung des Aussortierens beschäftigt, und zudem „durch Veranlagung und Missgeschick zu einer blassen Hoffnungslosigkeit neigt“ (Seite 74), sich im Leben angepasst verhalten? Das sollte man bei der Beurteilung des unglücksseligen Menschen berücksichtigen, meint der Erzähler.

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Der zwar fleißige und gewissenhafte Kopist Bartleby gerät durch seine kategorische Ablehnung, bestimmte Arbeiten zu verrichten, immer mehr ins Abseits. Der Anwalt, in dessen Kanzlei er angestellt ist, versucht zwar Verständnis für den offensichtlich einsamen und unglücklichen Menschen aufzubringen, aber die Starrköpfigkeit seines Schreibers macht es ihm schwer, Geduld mit dem Eigenbrötler zu haben. Unklar bleibt, warum Bartleby sich jeglicher vernünftigen Argumentation verschließt, bis er sich am Schluss in eine Situation verrannt hat, die ihn überfordert. Der Zwiespalt, in dem sich der Anwalt befindet, ist gut nachvollziebar. Man kann verstehen, wie ihn die Unzugänglichkeit seines Kopisten in Rage bringt, und es ist bewundernswert, mit welcher Duldsamkeit er sich auf die Nächstenliebe besinnt (wenn auch nicht ganz ohne Hintergedanken). Die außergewöhnliche Geschichte über das Aufeinandertreffen eines lebensuntüchtigen „Verneiners“ und einem humanen Realisten ist unterhaltsam, aber auch verstörend.

Herman Melville veröffentlichte „Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-Street“ – „Herman Melville: Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall-Street“ – 1853 in Putnam’s Monthly Magazine. Drei Jahre später nahm er sie in die „Piazza Tales“ auf.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2009
Textauszüge: © Jürgen Krug, Hamburg

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