Sigrid Damm : Christiane und Goethe
Inhaltsangabe
Kritik
Christiane Vulpius (Kurzbiografie)
Johann Wolfgang von Goethe (Kurzbiografie)
Christiane Vulpius. Christiane von Goethe. Über ein Vierteljahrhundert lebte sie mit Goethe, achtzehn Jahre in freier Liebe, zehn Jahre als seine Ehefrau. Dreiundzwanzig Jahre war sie alt, er achtunddreißig, als sie sich im Juli 1788 erstmals trafen und fast von einem auf den anderen Tag ein Liebespaar wurden […]
Wer war diese Frau? Ein schönes Stück Fleisch, un bel pezzo di carne, gründlich ungebildet, wie Thomas Mann sagt, eine nullité d’esprit, eine geistige Null, wie Romain Rolland sie nennt, die Frau mit dem halb unanständigen Namen, die bekannte Sexualpartnerin des alternden Olympiers, wie es in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ heißt? (Seite 14)
Sigrid Damm geht der Frage nach, versucht Christiane Vulpius zu porträtieren und korrigiert das Vorurteil, es habe sich bei ihr um ein dummes Liebchen des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe gehandelt. Gewiss war Christiane Vulpius ungebildet und unstandesgemäß, aber sie ging gern ins Theater, besaß einen gesunden Menschenverstand, war praktisch begabt und führte den großen Haushalt mit starker Hand. Das veranschaulicht Sigrid Damm in ihrem Buch „Christiane und Goethe“.
Die Frau findet eine Sprache für ihren Körper, ihre Weiblichkeit, ihre Sexualität. Ungewöhnlich für ihre Zeit. (Seite 15)
Für Damm ist Christiane Vulpius eine tüchtige, tatkräftige Frau, die dafür sorgte, dass Goethe, der in Weimar als Geheimer Rat allerlei Staatsgeschäfte zu führen hatte, überhaupt wieder zum Dichten kam. Und Damm sieht in ihr eine Dulderin, die hinnahm, dass ihre fünf Kinder unehelich geboren wurden und vier davon kurz nach der Geburt wieder starben, die auch hinnahm, dass Goethe in späteren Beziehungsjahren Abstand von ihr suchte, nach Karlsbad reiste oder in Jena arbeitete und immer öfter „Äugelchen“ auf andere Frauen warf, vor allem auf gebildete Lolitas aus der Oberschicht. (Susanne Beyer im Nachwort, 533)
Neben der Herkunft, der Persönlichkeit und dem Verhältnis dieser Frau mit Johann Wolfgang von Goethe beschreibt Sigrid Damm vor allem, wie Christiane Vulpius die Anforderungen erfüllte, die das Alltagsleben an sie stellte.
Bei meiner Annäherung an die Persönlichkeit Christiane von Goethes fand ich mein Thema: Alltag und Alltagsbewältigung. Ein Gegenstand, der weder sensationell ist noch als besonders literaturwürdig gilt. Aber das Leben dieser Frau bestand in der Bewältigung des nüchternen Alltags. Indem ich von Herkunft, Kindheit, Jugend und den achtundzwanzig Jahren ihrer Gemeinsamkeit mit Goethe erzähle, versuche ich, die Darstellung eben dieses Alltags durchzuhalten; nur so, scheint mir, ist eine annähernde Vorstellung von ihrem Leben und ihrer Lebensleistung zu gewinnen. (Seite 518)
Sigrid Damm hat sich auf Spurensuche begeben und bringt sich selbst in der Ich-Form in die Darstellung mit ein. Dazu passt der Untertitel ihres Buches über „Christiane und Goethe“: „Eine Recherche“.
Von Weimar aus mache ich mich auf den Weg. Wickerstedt, wo der Pfarrherr Johann Heinrich Vulpius 1611 an der Pest gestorben sein soll. Ein Dorf etwa fünf Kilometer nordöstlich von Apolda. Das Pfarramt ist in Mattstedt. Mit dem Pfarrer fahre ich nach Wickerstedt. (Seite 18f)
Ich stelle mir Christiane Vulpius‘ Ängste vor, als sie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Zeit bevor sie es Goethe sagt. Die Zeit danach. Was wird werden? (Seite 131)
Christiane im Haus am Frauenplan. Ich sehe sie vor mir, wie sie bisher unerreichbare Dinge beim Delikatessenhändler Stepheno Salice kauft. (Seite 175)
Diese Textbeispiele zeigen auch, dass Sigrid Damm kurze Sätze bevorzugt und mitunter ganz auf Verben verzichtet.
Bei ihrer Recherche sichtete sie u. a. die erhaltene Korrespondenz von Christiane und Johann Wolfgang von Goethe, die sie ebenfalls 1998 herausgab. Sie besteht aus 247 Schreiben von Christiane an Goethe und 354 von ihm an sie gerichteten Briefen.
Sigrid Damm arbeitete auch diesmal gründlich, so gründlich wie noch kein Vulpius-Exeget vor ihr. Sie schnappte sich Kirchenbücher, Hofakten, Familienurkunden, Briefe, Wäschelisten, Preiszettel und Bedienstetenzeugnisse, sie fand sogar ein spätes Tagebuch von Christiane Vulpius, um das sich andere Forscher kaum je geschert hatten. Sie suchte und sichtete – und breitet in ihrem fertigen Buch das ganze Material aus, so genau, so detailwütig, dass sie mehr als 100 Seiten braucht, bis sie ihre beiden Protagonisten aufeinander treffen lässt. So viele Ahnen und Urahnen, so viele Vor-Bedingungen will sie erwähnen, um zu erklären, was die beiden Liebenden zueinander brachte. (Susanne Beyer, 533)
Sigrid Damm betont, dass ihr Buch keine wissenschaftliche Monografie sei („Ich nähere mich meinem Thema erzählerisch.“ Seite 518), aber sie hat offenbar jeden Schnipsel Papier zum Thema gelesen. In ihrer Darstellung bleibt sie dicht an den Fakten, zitiert Dokumente (wenn auch ohne Quellenangaben) und erfindet nichts dazu. Der Kunstgriff, sich mit ihrer Recherche selbst einzubringen, ermöglicht es ihr, auf elegante Weise Vermutungen einzubauen, die sie als solche auch benennt. Der Verzicht auf ein paar Daten und Fakten hätte dem Buch vielleicht gut getan, doch abgesehen davon bewältigt Sigrid Damm die Fülle an Material souverän und auf einem hohen literarische Niveau.
Mein Buch will nicht suggerieren, wir könnten wissen, wie das Leben dieser beiden Menschen war. Meine Recherche provoziert und fordert Abstand. Ich verzichte auf Fiktionen, auf das Ausfüllen von Leerstellen durch erzählerische Phantasie. Berühre die Intimsphäre dieser Liebe und Ehe nicht […] Ich vertraue ausschließlich dem Verbürgten, dem Dokument. Insofern gleicht mein Buch einem Puzzle, in dem ein Drittel der Steine bereits verloren ist […] (Seite 518)
Es gibt „Christiane und Goethe“ auch als Hörbuch, gelesen von Eva Mattes (Regie: Petra Meyenburg, München 2000).
Sigrid Damm (* 1940) wuchs in Gotha auf. Nach dem Germanistik- und Geschichtsstudium in Jena (1959 bis 1965) lehrte sie fünf Jahre lang (1965 bis 1970) an derselben Universität. 1970 promovierte sie – über „Probleme der Menschengestaltung im Drama Hauptmanns, Hofmannsthals und Wedekinds“ – und zog dann als Publizistin nach Berlin. 1993 und 1994 war sie Gastdozentin in Glasgow und Edinburgh, im Jahr darauf in Hamburg. In ihren Büchern beschäftigt sie sich v. a. mit Persönlichkeiten aus der Weimarer Klassik und deren Umfeld:
- Sigrid Damm (Hg.): Caroline von Schelling. Begegnung mit Caroline (Leipzig 1979)
- Sigrid Damm (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe
(3 Bände, Leipzig 1987) - Sigrid Damm: Cornelia Goethe (Berlin / Weimar 1987)
- Sigrid Damm (Hg.): Caroline von Schelling. Die Kunst zu leben. Briefe
(Frankfurt/M und Leipzig 1997) - Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche (Frankfurt/M und Leipzig 1998)
- Sigrid Damm (Hg.): Behalte mich ja lieb! Christianes und Goethes Ehebriefe
(Frankfurt/M und Leipzig 1998) - Sigrid Damm (Hg.): Christiane von Goethe. Tagebuch 1816 und Briefe
(Frankfurt/M und Leipzig 1999) - Sigrid Damm: Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung
(Frankfurt/M und Leipzig 2004) - Sigrid Damm: Goethes letzte Reise (Frankfurt/M und Leipzig 2007)
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Inhaltsangabe und Buchkritik: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Insel Verlag
Christiane Vulpius (Kurzbiografie)
Johann Wolfgang von Goethe (Kurzbiografie)