E. L. Doctorow : In Andrews Kopf

In Andrews Kopf
Originalausgabe: Andrews's Brain Random House, New York 2014 In Andrews Kopf Übersetzung: Gertraude Krueger Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015 ISBN: 978-3-462-04812-4, 207 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem er den Tod seiner kleinen Tochter mitverschuldet hat, flüchtet der amerikanische Kognitionswissenschaftler Andrew in einen anderen Bundesstaat, und seine Frau Martha lässt sich von ihm scheiden. Mit der Mathematik-Studentin Briony, seiner halb so alten zweiten Lebensgefährtin, zeugt Andrew noch eine Tochter, aber einige Wochen nach deren Geburt kommt Briony bei dem Anschlag auf das WTC am 11. September 2001 ums Leben. Andrew bringt Willa zu Martha. Eigentlich wollte er sie nur um Hilfe bitten, aber sie vereinnahmt das Kind ...
mehr erfahren

Kritik

In seinem Roman "In Andrews Kopf" überlässt E. L. Doctorow das Wort einem psychisch gestörten Ich-Erzähler. Was geschehen ist, erfah­ren wir aus Dia- und Monologen dieses unzuverlässigen Protago­nisten, der mitunter vorgibt, nicht von sich, sondern von einem Anderen zu berichten.
mehr erfahren

Andrew wächst in Montcalm/New Jersey auf. Sein Vater arbeitet als Molekularbiologe an der New York University.

Als sieben- oder achtjähriges Kind fährt Andrew mit dem Schlitten auf der Straße vor dem Haus. Dabei kracht er beinahe in den Kühlergrill eines Buick. Der Fahrer kann gerade noch bremsen, aber der Wagen schleudert gegen einen Laternenpfahl und der Mann kommt dabei ums Leben. Weil Andrews Familie nach dem tödlichen Unfall in Montcalm nicht mehr gern gesehen wird, zieht sie nach New York. Dort fühlt Andrew sich einsam, und die Eltern kaufen ihm deshalb einen Dackel.

Sie sagten, ich sei für ihn verantwortlich, ich solle mich um ihn kümmern, ihn ausführen und abrichten. Das war interessant, ich wollte sehen, was er für ein Gehirn hat. Nicht viel, wie sich herausstellte.

Als er sich mit dem Hund im Park aufhält, stürzt sich ein Rotschwanzbussard auf den Dackel. Eine Weile hält Andrew die Leine fest, und der Raubvogel flattert, ohne von der Stelle zu kommen, aber schließlich lässt der Junge los und gibt seinen Hund auf.

Als junger Biologiestudent in Yale geschieht Andrew ein weiteres Missgeschick:

Einmal war ich auf einer Uni-Cocktailparty und hielt in dem überfüllten Raum überschwängliche Reden, wedelte mit den Armen, um irgendeine Aussage zu unterstreichen. Mein Handrücken krachte ans Kinn einer Professorin rechts neben mir. Sie schrie auf und sank zu Boden. Alle Gespräche verstummten. Ich rannte in die Küche des Gastgebers, tastete im Gefrierfach des Kühlschranks nach Eiswürfeln und hob dabei ein paar Literflaschen Wodka hoch und hielt sie in der Hand. Der Mann der Professorin war mir schreiend nachgelaufen, und als ich mich umdrehte, war ich so erschrocken, dass ich die Wodkaflaschen fallen ließ und ihm den Fuß brach.

Im vorletzten Studienjahr schwängert Andrew eine Kommilitonin, die einige Monate später eine Fehlgeburt erleidet und ihm den abgegangenen Embryo in der WC-Schüssel zeigt.

Andrew heiratet eine Musikerin namens Martha. Das Ehepaar bekommt eine Tochter. Als das Baby krank ist, gibt Andrew ihm eine Nacht lang alle zwei Stunden die vom Kinderarzt verschriebene Medizin. Allerdings schickte der Apotheker versehentlich ein anderes Präparat, und Andrew, der den ganzen Tag an seiner kognitionswissenschaftlichen Dissertation gearbeitet hat, merkt es nicht.

Das habe ich die ganze Nacht lang alle zwei Stunden getan, bis das Kind nicht mehr weinte und tot war. Ich wusste nicht, dass es tot war, ich dachte, es wäre endlich eingeschlafen. Ich war müde und legte mich selbst hin, es war meine Aufgabe gewesen, bei einem kranken Kind zu wachen, weil Martha erschöpft war – sie hatte den ganzen Tag ihre Meisterschüler am Klavier unterrichtet.

Mit dem Gefühl, seine kleine Tochter umgebracht zu haben, steigt Andrew in einen Bus und fährt in den Westen von Pennsylvania, wo er eine schlecht bezahlte Stelle als Lehrbeauftragter an einem kleinen staatlichen College annimmt und in einem heruntergekommenen Farmhaus unterkommt.

Sie haben mir ein Zimmer hinter der Küche mit einer Matratze auf dem Fußboden gegeben, und ansonsten ignorieren sie mich. Absolut kein Interesse daran, wer ich bin, woher ich komme.

Eine seiner Seminaristinnen heißt Briony. Sie studiert im Hauptfach Mathematik, steht ein Jahr vor dem Abschluss, und weil er sie schon einmal am Reck gesehen hat, weiß er, dass sie eine ausgezeichnete Sportlerin ist.

Sie war Cheerleaderin, sie kellnerte im Speisesaal der Professoren, und am Wochenende arbeitete sie stundenweise in einem Altersheim.

Briony, die weiß, dass Andrew geschieden ist, lässt sie sich auf ein ernsthaftes Liebesverhältnis mit ihm ein und fährt nach einer Weile mit ihm nach Kalifornien, um ihn ihren Eltern vorzustellen, die in einer kleinen Küstenstadt eine Autostunde südlich von Los Angeles leben. Bill und Betty sind kleinwüchsig. Früher traten sie als Artisten auf, sogar in Las Vegas. Obwohl Andrew doppelt so alt ist wie Briony, heißen sie den Freund ihrer Tochter herzlich willkommen.

Dass ich Collegedozent war, wirkte zu meinen Gunsten. […] Und sie liebten ihre Tochter so sehr, dass sie deren Urteil vertrauten.

Weder Bill noch Betty wurden in den USA geboren. Brionys Vater stammt aus Tschechien, die Mutter aus Limerick in Irland.

Während des Aufenthalts in Kalifornien baden Andrew und Briony nachts im Meer. Als sie sich am Strand lieben wollen, werden sie von einem Polizeihubschrauber aufgeschreckt, der seinen Scheinwerfer auf sie richtet.

Wann haben Sie und Briony geheiratet?
Wir haben überhaupt nicht geheiratet.
Sie war doch Ihre Frau.
Selbstverständlich war sie meine Frau, aber wir haben nie geheiratet. Wir sind nicht dazu gekommen. Wir sind nie über das intensive Gefühl füreinander hinausgelangt, über das man hinausgelangen muss, um vor dem Gesetz zu heiraten. Im Geiste waren wir verheiratet.

Das Paar zieht nach New York, ins West Village. Andrew unterschreibt einen Vertrag mit einem Lehrbuchverlag; er arbeitet als Außenlektor und erstellt eine Arbeitsmappe der Kognitionswissenschaft. Briony erteilt Nachhilfeunterricht in Mathematik. Im Alter von 22 Jahren bringt sie eine Tochter zur Welt, die den Namen Willa erhält.

Als Briony im achten Monat schwanger war, meldete sich ihr früherer Freund Dirk bei ihr. Er war ebenfalls nach New York gezogen und hatte die Telefonnummer von ihren Eltern bekommen. Dirk arbeitet bei einem Broker im World Trade Center. Einige Wochen nach Willas Geburt, verabredet sich Briony mit Dirk zum Lunch. Es ist der 11. September 2001. Gegen 8 Uhr geht Briony joggen.

Sie hat mich auf die Wange geküsst: Willa mag morgens gern etwas Apfelbrei, hat sie gesagt, und ist losgelaufen auf der Strecke, die sie sich zurechtgelegt hatte: am Hudson entlang bis zur Esplanade, quer über die Liberty Street, vielleicht ein kurzer Halt am World Trade Center und dort ein paar Treppen raufrennen, und dann nach Norden den Broadway hoch.

Dirk spricht auf den Anrufbeantworter:

„Briony, es soll nicht sein. Ich muss absagen.“ Dann ein Lachen, aus dem ein Schluchzen wird. „Ich würd dich ja gern noch ein letztes Mal sehen. Aber dann müsstest du hier oben sein, und das würd ich nicht wollen. […] Ach Gott. Es ist der AB. […]
Okay, Professor, ich hinterlasse jetzt eine Nachricht. Das ist Ihre Stimme, ja? Bin jetzt im Fensterrahmen. Weiter geht’s nicht. Ganz hoch oben. Hitze ist ziemlich ? steh auf dem nackten Stahl ? […]
Einfach raustreten, warum nicht, warum nicht? Ich steck mir das Handy in die Hosentasche, dann hört er mich fliegen und kann das der Nachwelt überliefern, eine Vorlesung darüber halten: wie Bris Liebhaber gestorben ist. Professor, du altes Arschloch, du hast sie mir weggenommen mit deinem Klugscheißergeschwätz. […]“
Und dann hörte ich die Flamme hinter ihm wie das Zischen eines Monsteratems, und inzwischen glaube ich, da ich es so oft gehört habe, dass ich es nicht mehr zu hören brauche, um es zu hören, ich höre auch die Stimmen der anderen bei ihm im 95. Stock, während sie verbrannten.

Briony kehrt vom Joggen nicht zurück. Dirk konnte nicht ahnen, dass sie ganz in der Nähe gleichzeitig mit ihm starb.

Es wurde nie etwas gefunden, was erkennbar Briony war.

Andrew versucht zunächst, allein für den Säugling zu sorgen. Aber bald fühlt er sich damit überfordert und beschließt, seine geschiedene Frau Martha um Hilfe zu bitten. Er fährt also mit dem sechs Monate alten Säugling nach New Rochelle, einen Vorort von New York, wo sie mit ihrem zweiten Ehemann wohnt, einem Opernsänger.

So hatte ich mir das gar nicht gedacht. Ich wollte ihr das Baby nicht gleich ganz überlassen. Ich brauchte einfach ein bisschen Hilfe. Für ein, zwei Jahre. Ich hatte den Schock von Brionys Tod noch nicht überwunden. Aber Martha nahm das Kind in Besitz, als wäre sie die rechtmäßige Mutter.

Andrew erträgt es in New York nicht länger. Er verkauft die Möbel, kündigt den Mietvertrag und zieht nach Washington, D. C., wo sich der Kognitionswissenschaftler vergeblich für eine Professur an der George Mason University bewirbt und schließlich eine Stelle als Vertretungslehrer für Naturwissenschaften an einer Highschool annimmt.

Ich hatte noch keinen Monat da gearbeitet, als mitten in einer Unterrichtsstunde ein Menschenknäuel unangekündigt in mein Klassenzimmer einbrach, allen voran mein Direktor. Drei, vier Männer in Anzügen und mit Kabelschlangen im Ohr, Fotografen mit ihren Kameras, ein paar Frauen, die ich für Zeitungsreporterinnen hielt. Niemand sagte ein Wort, dann ging die Tür noch einmal auf, ein Mann schlüpfte herein und blieb an der Tür stehen, und hinter ihm schritt mit breitem Lächeln der Präsident der Vereinigten Staaten herein und unterbrach meine Stunde zum Thema Gedankenlesen.

Der Fototermin in der Schule dauert nur ein paar Minuten, aber der US-Präsident erkennt Andrew. Als Studenten in Yale teilten sie sich ein Zimmer. Einmal verursachte Andrews Kommilitone mit einem Bunsenbrenner versehentlich einen Brand. Der Verdacht fiel jedoch nicht auf ihn, sondern auf Andrew, und der widersprach nicht. Das trug ihm ein Semester auf Bewährung ein – und die Einladung, die Osterferien mit dem Kommilitonen und dessen Familie zu verbringen. Andrew erinnert sich noch an den kalten Blick der Respekt einflößenden Mutter und den schlaffen, zerstreuten Händedruck des Vaters. Aus dem Ferienaufenthalt wurde dann doch nichts, denn bei einem Dinner trat Andrew einem Prinzen auf die Schleppe, und am nächsten Morgen wurde er zur Abreise aufgefordert.

Eine Woche nach dem Besuch des Präsidenten in der Schule wird Andrew mit einem Wagen abgeholt und ins Weiße Haus gefahren. Dort ernennt man ihn zum Direktor des neu geschaffenen Amtes für neurologische Forschung. Andrew durchschaut die hidden agenda: Er weiß einiges über den Präsidenten und soll durch die Verschwiegenheitserklärung, die er unterschreiben muss, daran gehindert werden, darüber zu plaudern. Das Amt ist irrelevant; nur der Maulkorb zählt.

Der Präsident nennt Andrew bei dessen Spitznamen aus der Studienzeit: Android. Im Oval Office trifft Andrew auch auf die beiden wichtigsten Mitarbeiter des Präsidenten: „Chaingang und Rumbum“, zwei „selbst ernannte Weltstrategen“, die glauben, sie wären für das Amt des Präsidenten besser qualifiziert als der Inhaber.

In ihren Augen war der Präsident so etwas wie ein Dauphin, dem es, wie sie meinten, an Würde fehlte, von einer angemessenen Aufmerksamkeitsspanne ganz zu schweigen. Die Überzeugung von ihrer intellektuellen Überlegenheit ließ sich nicht damit vereinbaren, dass er zu den Auserwählten der Weltgeschichte gehörte und sie nicht.

Der Präsident ist in Schwierigkeiten:

Sein Krieg lief nicht gut. Er war in das falsche Land eingefallen.

Drei Wochen nach seiner Ernennung zum Direktor des Phantom-Amtes für neurologische Forschung des Weißen Hauses begreift Andrew, dass ihn der Präsident, Chaingang und Rumbum zum Narren halten.

Eines Tages hatten sie in einem bestimmten Moment alle denselben Ausdruck im Gesicht, ein mühsam unterdrücktes Lachen, und ich begriff, dass eine neue Allianz zustande gekommen war, wie es der großen diplomatischen Tradition entspricht. Ich stand allein gegen das Triumvirat, und der Scherz ging auf meine Kosten – die drei spielten ein abgekartetes Spiel, um mich am Narrenseil zu führen –, und das alles, während die Welt auf den nächsten Bürgerkrieg wartete, den nächsten Markteinbruch, das nächste Selbstmordkommando, den nächsten Tsunami, das nächste Erdbeben, den nächsten Austritt von radioaktivem Material aus dem nächsten schadhaften Atomkraftwerk […]

Da wirft Andrew den drei führenden Regierungsmitgliedern vor, sie seien ein Beispiel für die menschliche Unzulänglichkeit und gingen achtlos mit dem Leben um. Er holt tief Luft und macht den ersten Handstand seines Lebens, einen Handstand, wie ihn Briony am Reck vorführte, als er sie zum ersten Mal sah. Rumbum behauptet daraufhin, Andrew habe das Leben des Präsidenten bedroht und lässt ihn festnehmen: „Schafft diesen Narren hier weg!“

Willa ist drei Jahre alt, als Andrew sie erstmals besuchen möchte und mit dem Zug nach New Rochelle fährt. Als er aus dem Taxi steigt, merkt er, dass etwas nicht in Ordnung ist, denn er stapft durch tiefen Schnee: die Einfahrt ist als einzige in der Straße nicht geräumt. Er drückt die nur angelehnte Haustüre auf und findet Marthas riesigen Ehemann als Boris Godunow kostümiert vor. Der Opernsänger ist betrunken. Er kann Andrew nicht einmal sagen, wann Martha ihn verließ. Noch am selben Tag kehrt Andrew mit dem letzten Zug nach Washington zurück.

Als Willa zwölf Jahre alt ist, sind Martha und ihr Mann seit einiger Zeit wieder zusammen. Er unterrichtet eine Meisterklasse der Juilliard School in Gesang, und sie gibt an derselben Schule Klavierstunden. Willa hält Martha für ihre leibliche Mutter, und das soll auch so bleiben. Andrew wird aufgefordert, eine entsprechende Erklärung zu unterschreiben.

Willa soll nichts von mir erfahren. Hier steht, ich muss mich für immer von ihr fernhalten, darf mich ihr nie als ihr Vater zu erkennen geben –

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler. Es ist aber nicht schön. Er stand eines Abends mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha. Weil Briony, seine reizende junge Frau nach Martha, gestorben war.
Woran?
Dazu kommen wir noch. Ich schaff das nicht allein, sagte Andrew, während Martha ihn aus der offenen Tür anstarrte.

So beginnt der Roman „In Andrews Kopf“ von E. L. Doctorow.

„Ich“, Andrew und Zuhörer: Wer sind diese drei Personen? Andrew und der Ich-Erzähler sind vermutlich ein und dieselbe Person. Und bei dem namenlosen, niemals beschriebenen Gesprächspartner könnte es sich um einen Psychiater handeln, aber vielleicht stammen einige Teile der Dia- bzw. Monologe auch aus polizeilichen Vernehmungen. Andrew befindet sich mit dem Zuhörer im selben Raum oder telefoniert mit ihm. Mitunter schreibt er auch etwas für ihn auf, einmal an der Ostküste von Maine, ein anderes Mal in einer Hütte an einem norwegischen Fjord.

Sie haben mir aufgetragen, ein Tagebuch oder Journal zu führen.

Nach seiner Festnahme im Weißen Haus verbringt Andrew offenbar erst einmal einige Zeit in einer Haftanstalt oder einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung.

Also, Doc, wie lange bin ich jetzt hier?
Eine ganze Weile.
Und Sie wollen mir nicht sagen, wo das ist?
Ich kann nicht.
Zu Hause bin ich hier nicht.
[…] und mir wurde kein Anwalt zugeteilt und ich werde hier ohne Gerichtsverfahren festgehalten und die Dauer ist jetzt schon unbekannt.

Der Kognitionswissenschaftler geht von der Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung aus.

Die Arbeit des Gehirns besteht darin, etwas vorzutäuschen. Das ist seine Funktion.

Er verzweifelt an der Wahrscheinlichkeit, dass die Welt nur ein Trugbild ist und er selbst nichts als eine wandernde Seele, die nutzlos durch die Ewigkeit treibt.

Andererseits glaubt Andrew an die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz:

So komplex unser Gehirn auch ist, die Anzahl seiner funktionalen Elemente ist endlich. Das bedeutet, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir über ein funktionierendes extrakorporales Gehirn verfügen.

Und er hält es für möglich, dass er selbst ein Androide ist:

Sagen Sie, Doc, bin ich ein Computer?
Was?
Bin ich der erste mit einem Bewusstsein ausgestattete Computer? Mit furchtbaren Träumen, mit Gefühlen, mit Kummer, mit Sehnsüchten?
Nein, Andrew, Sie sind ein Mensch.
Na das mussten Sie ja sagen.

Nach einer Reihe von Schicksalsschlägen ist Andrew überzeugt, dass er sich und anderen Unglück bringt. „Du hast immer nur Scheiße gebaut“, sagt Marthas zweiter Ehemann zu ihm. Obwohl Andrew sich bezichtigt, seine erste Tochter umgebracht zu haben, scheint er nicht unter Schuldgefühlen zu leiden:

Die Wahrheit sieht nämlich so aus, ich zucke einfach die Schultern und mache ungerührt weiter. So freundlich ich bin, so wohlmeinend und hilfsbereit ich zu sein versuche, letzten Endes habe ich keine Gefühle, im Guten wie im Bösen. Im innersten Wesen bleibe ich, egal was passiert, kalt, nicht für Reue, Trauer oder Glück empfänglich, obwohl ich das ganz gut vortäuschen kann, so gut sogar, dass ich fast selbst daran glaube.

Mit diesem psychisch gestörten Ich-Erzähler, der mitunter vorgibt, von einem Anderen namens Andrew zu erzählen, überlässt E. L. Doctorow das Wort einem Mann, dessen Angaben unzuverlässig sind. Und diese Perspektive wird konsequent beibehalten.

Er [E. L. Doctorow] hat für jedes Buch eine eigene Stimme gefunden. Das gehörte ganz stark zu seinem Verständnis des Schreibens dazu, dass er sozusagen, so hat er das beschrieben, für jedes Buch erst mal einen Schriftsteller erfindet, und der Schriftsteller schreibt dann das Buch.
(Daniel Kehlmann im Gespräch mit Maja Ellmenreich, Deutschlandfunk, 22. Juli 2015)

„In Andrews Kopf“ spielt zwar an verschiedenen Schauplätzen, aber E. L. Doctorow kommt wie bei einem Kammerspiel mit wenigen Figuren aus. Eine Handlung im engeren Sinn gibt es nicht. E. L. Doctorow entwickelt „In Andrews Kopf“ aus bizarren Monologen des Protagonisten, die keiner Chronologie folgen, sondern assoziativ verknüpft sind. Daraus erfahren wir im Nachhinein, was Andrew erlebte. Wie bei einem Puzzle setzt sich das Bild nach und nach zusammen.

E. L. Doctorow beschäftigt sich mit der Frage nach der Identität des Einzelnen, wie Max Frisch vor allem in „Stiller“ und „Mein Name sei Gantenbein“. „In Andrews Kopf“ kreist um das Verhältnis von Ich und Gehirn, um die Unzulänglichkeit der (Selbst-)Wahrnehmung. Gegen Ende zu macht E. L.Doctorow sich über George W. Bush, Vizepräsident Richard Cheney („Chaingang“) und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld („Rumbum“) lustig. Passagenweise kann man „In Andrews Kopf“ denn auch als Satire lesen.

 

Edgar Lawrence Doctorow wurde am 6. Januar 1931 in New York City als Kind des Musikinstrumentenhändlers David Richard Doctorow und dessen Ehefrau Rose (Levine), einer Pianistin, geboren. Bei den jüdischen Großeltern handelte sich um Imigranten aus Russland. Edgar wuchs in der Bronx auf. 1952 schloss er sein Literatur- und Theaterstudium am Kenyon College in Gambier/Ohio ab. Während seines Militärdienstes heiratete er 1954 die Studentin Helen Esther Setzer. 1960 veröffentlichte E. L. Doctorow seinen ersten Roman: „Welcome to Hard Times“. Berühmt wurde er 1975 mit „Ragtime“. Edgar Lawrence Doctorow arbeitete auch als Herausgeber von Zeitschriften, Lektor und Dozent. 1982 wurde er auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für englische und amerikanische Literatur der New York University berufen. Am 21. Juli 2015 starb Edgar Lawrence Doctorow in New York.

E. L. Doctorow: Bibliografie (Auswahl)

  • Welcome to Hard Times (1960; Willkommen in Hard Times, Übersetzung: Angela Praesent, 1987 – verfilmt: Welcome to Hard Times / Mordbrenner von Arkansas, 1966)
  • The Book of Daniel (1971; Das Buch Daniel, Übersetzung: Thomas Schlück, 1974 – verfilmt: Daniel, 1983)
  • Ragtime (1975; Ragtime, Übersetzung: Angela Praesent, 1976 – verfilmt: Ragtime, 1981)
  • Loon Lake (1980; Sterntaucher, Übersetzung: Jürgen Abel, 1982)
  • Lives of the Poets (1984; Das Leben der Dichter, Übersetzung: Angela Praesent, 1985)
  • World’s Fair (1985; Weltausstellung, Übersetzung: Angela Praesent, 1987)
  • Billy Bathgate (1989; Billy Bathgate, Übersetzung: Angela Praesent, 1990 – verfilmt: Billy Bathgate, 1991)
  • The Waterworks (1994; Das Wasserwerk, Übersetzung: Angela Praesent, 1995)
  • City of God (2000; City of God, Übersetzung: Angela Praesent, 2001)
  • Jolene. A Life (2002 – verfilmt: Jolene, 2008)
  • Sweet Land Stories (2004; Sweet Land Stories, Übersetzung: Angela Praesent, 2006)
  • The March (2005; Der Marsch, Übersetzung: Angela Praesent, 2007)
  • Homer & Langley (2009; Homer & Langley, Übersetzung: Gertraude Krueger, 2011)
  • Andrews’s Brain (2014; In Andrews Kopf, Übersetzung: Gertraude Krueger, 2015)

 

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Nell Zink - Virginia
Nell Zink hält einer von Vorurteilen und Rassismus, Intoleranz und Doppelmoral geprägten Gesellschaft einen Spiegel vor. "Virginia" beginnt wie ein Campus-Roman, erweist sich dann aber als Mischung aus Familiendrama, Coming-of-Age-Geschichte, Gesellschaftssatire und Verwechslungskomödie mit Krimi-Elementen und märchenhaften Zügen.
Virginia