Lizzie Doron : Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter
Originalausgabe: Ve-yom ehad 'od nipagesh Jerusalem 2009 Das Schweigen meiner Mutter Übersetzung: Mirjam Pressler dtv, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-423-24895-2, 212 Seiten ISBN: 978-3-423-41719-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Alisa Roża wurde 1953 in Tel Aviv geboren und wuchs unter Holocaust-Überlebenden auf. Immer wieder fragte sie nach ihrem Vater, aber die Mutter Helena schwieg. Erst als 55-Jährige findet die Ich-Erzählerin Alisa heraus, wer ihr Vater war und warum er sich vor ihr verstecken musste. Dabei wussten alle im Viertel Bescheid, auch ihre Jugendfreundinnen, aber sie verheimlichten Alisa ihr Wissen, wie es Helena von ihnen erwartete ...
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Kritik

Der kunstvoll aufgebaute Roman "Das Schweigen meiner Mutter" ver­an­schau­licht, wie das Leid der Shoah-Überlebenden die Generation ihrer Kinder prägte. Lizzie Doron erzählt leise, ohne Pathos und Effekt­hascherei.
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Die 55-jährige israelische Schriftstellerin Alisa Roża trifft 2008 bei einer Beerdigung in Tel Aviv ihre Jugendfreundinnen Dorit Rosenfeld, Chajale Fink und Bracha Poschibuzki wieder. Dorits Tante, die frühere Kindergärtnerin Fejge Friman, ist gestorben. Ihre Eltern und Onkel Wladek Friman sind bereits seit längerer Zeit tot. Bald darauf kommen die Frauen erneut wegen eines Trauerfalls zusammen: Dorits Ehemann Alon hat sich erschossen.

Dorit, die Krankenschwester geworden ist, vertraut Alisa an, was sie im vierten Schuljahr mit ihrer Mutter beim Einkaufen auf dem Markt erlebte. Eine Frau rief damals den Namen von Dorits Mutter.

Meine Mutter versuchte ganz offensichtlich, die Frau zu ignorieren, aber meine Neugier war geweckt. Ich verlangsamte meine Schritte, drehte mich um und gab der Frau damit die Möglichkeit, uns einzuholen. „Du weißt, wer ich bin“, sagte sie zu meiner Mutter, sie stand ganz dicht vor ihr, ihre Nasen berührten sich fast. Sie schaute meine Mutter durchdringend an. „Ich bin die Schwester von Rachel.“ Meine Mutter erstarrte. Dann sagte die Frau: „Ich hoffe, dass du noch hörst, wie meine Rachel um ihr Leben gefleht hat, wie sie dem deutschen Schwein schwor, dass nicht sie es war, die das Brot gestohlen hatte, wie sie gebettelt hat, der Dieb solle sich melden, aber du hast geschwiegen, auch als man sie aufgehängt hat, hast du geschwiegen.“

Die Freunde Gadi, Adi und Alon kämpften 1973 gemeinsam im Jom-Kippur-Krieg. Gadi Oldak fiel, Adi Niv wurde verwundet; nur Alon kam scheinbar unverletzt zurück. Er wurde Dorits Ehemann. Sie bekamen zwei Kinder: den Sohn Kela und die Tochter Jardena. Dass Alon durch den Krieg traumatisiert war, stellte sich erst neun Jahr danach heraus. Von der psychischen Zerrüttung erholte er sich nicht mehr. Aber Dorit weigerte sich, ihn in eine psychiatrische Klinik abzuschieben:

„[…] ich lasse nicht zu, dass Alon lebendig in einer Irrenanstalt begraben wird, ich sperre ihn nicht in eine Anstalt, ich vertreibe ihn nicht aus seinem Zuhause. Das haben die Deutschen getan!“ Der letzte Satz war ein tiefer Aufschrei. „Sie haben ihre Kranken weggebracht!“

Jetzt, nach dem Tod ihres Mannes, wird Dorit sich auch von Aksam Suheil trennen, der sich jahrelang um sie gekümmert hat. Chajale kann das nicht verstehen. Ihrer Meinung nach wäre Alons Suizid in einem guten Heim verhindert worden und Dorit hätte mit Aksam zusammen neu anfangen können.

Chajale ist seit gut 25 Jahren mit Alons Freund Adi verheiratet. Nach der Militärzeit wurde er Hightech-Unternehmer. Das Ehepaar hat drei Kinder. Alisa fällt Chajales teure Kleidung auf, und sie vermutet, dass sich ihre Jugendfreundin einigen Schönheitsoperationen unterzogen hat. Zufällig entdeckt sie in Chajales Handtasche das Antidepressivum Prozac.

Über Chajales Mutter Gitl Fink wurde früher viel getuschelt, denn sie lebte mit zwei Männern zusammen – Jona und Jissachar –, und im Schlafzimmer standen drei Betten. Erst als Erwachsene fand Chajale mit Bracha Poschibuzkis Hilfe heraus, warum das so gewesen war, und sie erzählt es Alisa. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten Gitl und Jissachar in Polen geheiratet. Als Juden mussten sie sich dann mit ihrem kleinen Sohn und Jissachars Zwillingsbruder Jona vor den Deutschen verstecken. Eines Tages, während Jissachar nach Essbarem suchte, fielen Schüsse, und er kam nicht zurück. Gitl und Jona waren überzeugt, dass man ihn erschossen hatte. Auch der kleine Junge starb. Nach dem Krieg wanderten Gitl und Jona nach Israel aus, heirateten und bekamen eine Tochter: Chajale. 1956 spürte Jissachar sie auf. Er war angeschossen worden, hatte jedoch überlebt. Über den Tod seines Sohnes und die Eheschließung seiner Frau mit seinem Bruder kam er nicht hinweg. Immer wieder versuchte er, sich das Leben zu nehmen. Gitl und Jona hinderten ihn daran. Nach Jonas Tod wurde Gitl erneut Jissachars Ehefrau, aber inzwischen ist die alte Frau erneut Witwe.

Bracha wuchs als Tochter des verrückten Glasers Chajim Poschibuzki und dessen Ehefrau Golda auf. Schon als Jugendliche interessierte sie sich brennend für die Berichte ihrer Mutter über die Shoah. Später leitete sie ein Archiv der Organisation der Nazi-Opfer, dann machte sie sich als „Shoah-Beraterin“ selbstständig. Sie half nicht nur Chajale bei der Erforschung ihrer Familiengeschichte, sondern drängt ihre Dienste auch Alisa auf.

Während Chajale gewissermaßen zwei Väter hatte, wurde Alisa von der Krankenschwester Helena Roża allein erzogen. Immer wieder fragte das Kind nach dem Vater, aber die aus Polen stammende jüdische Mutter schwieg. Alisa malte sich aus, dass er als Held gefallen sei, stellte sich ihn als Partisan vor; mitunter befürchtete sie, er könne mit den Deutschen kollaboriert haben. Als Alisa am Bauch der Mutter eine Narbe wie von einem Kaiserschnitt entdeckte, erkundigte sie sich danach. Helena versicherte ihr, sie sei auf natürliche Weise geboren worden, sprach vage etwas von einer Operation und schwieg dann wieder. Alisa fragte sich, ob sie vielleicht einen Bruder habe.

Bracha findet alte Unterlagen über Helena Roża. Sie wurde 1909 in Przeworsk als Tochter von David und Frejde Hochdorf geboren. Im Zweiten Weltkrieg kam sie nach Auschwitz, von dort ins Arbeitslager Skarżysko-Kamienna, und schließlich überlebte sie den Todesmarsch nach Buchenwald.

Jakob Roża wurde 1918 in dem polnischen Dorf Stoczek als Sohn von Mosche und Rachel Roża geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte er nach Israel aus und lernte dort in einem Kibbuz Helena Hochdorf kennen. Sie heirateten am 12. Oktober 1952. Als Trauzeugen fungierten Dorits Vater Schmulik Rosenfeld und dessen Schwager Wladek Friman. 1953 wurde Alisa im Krankenhaus Beilinson in Petach Tikwa geboren. Begeistert berichtet Bracha ihrer Freundin am Telefon:

„In Yad Vashem habe ich auch die Namen von neunhunderteinundachtzig Verwandten gefunden, aus der Familie deines Vaters, die alle umkamen, wirklich alle. Ich habe dir die Liste schon gefaxt.“ „In der Tat eine erfreuliche Nachricht“, antwortete ich.

Bracha vermittelt Alisa einen Besuch bei einer Jugendfreundin ihrer Mutter, die auch Jakob Roża kannte. Ada Surewitsch berichtet, dass er im Kibbuz hatte bleiben wollen, aber abgelehnt worden war, weil er zu krank war, um hart arbeiten zu können.

Ada reckte den Hals und näherte ihren Mund meinem Ohr. „Deine Mutter hat diese Leute hier nicht gemocht“, flüsterte sie. „Deine Mutter hat den Kibbuz nicht gemocht. Nachdem die Versammlung abgestimmt hatte, Jakob nicht als Mitglied zu akzeptieren, stellte sie sich mitten in den Speisesaal und brüllte wie eine Verrückte: Ihr macht hier eine Selektion wie die Deutschen!“

Die Abstimmung fand am 11. Oktober 1952 statt. Am Tag darauf heirateten Jakob Roża und Helena Hochdorf. Dann verließen sie den Kibbuz und zogen nach Tel Aviv.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Jakob litt an Tuberkulose. Als Helena schwanger war, befürchtete sie, er könne das Kind infizieren und drängte ihn deshalb, sich in ein Lungensanatorium zurückzuziehen. Der Arzt Dr. Wollmann glaubte damals, dass der Patient nur noch zwei oder drei Monate zu leben habe. Tatsächlich rang Jakob aber noch acht Jahre lang mit dem Tod. Im Viertel wussten alle Bescheid, auch Dorit, Chajale und Bracha, aber sie verheimlichten es Alisa. Hin und wieder brachte Helena ihre Tochter in Sichtweite des Lungensanatoriums, damit Jakob sie sehen konnte, und bei anderen Gelegenheiten versteckte er sich zum Beispiel in einem Gebüsch, um Alisa beobachten zu können.

Alisa ist entsetzt, als sie begreift, dass ihre Mutter sich zwischen ihr und ihrem Mann entscheiden musste.

[…] dachte ich an meine Mutter, die meinen Vater in eine Anstalt abgeschoben hatte. Ich zitterte am ganzen Körper. Dort hatte ihr Schweigen seinen Ursprung.

Meine Mutter hatte meinen Vater in ein Sanatorium geschickt, sie hatte ihn in eine Anstalt abgeschoben, sie hatte sich von ihm befreit, sie hatte eine Selektion abgehalten.

Chajale sagte früher einmal:

[…] auch die Juden haben selektiert. Die Mütter haben die Starken ausgesucht, sie haben die großen, gesunden Kinder aus dem Zug geworfen und die kleinen, schwachen mit ins Feuer genommen.

Als Jakob starb, ließ Helena ihn nicht auf dem örtlichen Friedhof beerdigen, weil sie befürchtete, dass ihre Tochter des Grab entdecken könnte. Alisa findet das Grab auf dem Friedhof Kiriat Scha’ul in Tel Aviv. Sie beauftragt einen Steinmetz, den von einer umgestürzten Pinie zertrümmerten Grabstein wieder zusammenzusetzen.

„Und wenn Lücken bleiben? Wenn Teile fehlen?“, wendete er ein. Ich lächelte. „Dann soll es so sein.“

Bracha nimmt an, dass Alisas Mutter zunächst mit einem anderen Mann verheiratet war und einen Sohn hatte. Vermutlich starben beide im Zweiten Weltkrieg. Die Shoah-Beraterin sucht noch Beweise dafür.

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Auf einem Foto aus den Fünfzigerjahren sehen wir ein als Krakowiak-Tänzerin verkleidetes Kind und erfahren, dass es sich um die Autorin Lizzie Doron handelt. Im Gebüsch hinter ihr ist ein Gesicht zu erkennen: Das war ihr Vater.

Der wohl großenteils autobiografische Roman „Das Schweigen meiner Mutter“ dreht sich um die Suche der Ich-Erzählerin Alisa Roża – einer wie die Autorin 1953 in Tel Aviv geborenen Schriftstellerin – nach dem Vater. Wenn sie ihre Mutter danach fragt, schweigt diese. Stück für Stück findet Alisa mehr über ihn heraus. Sie ist Mitte 50, als sie endlich begreift, wer er war und warum er sich beispielsweise vor ihr im Gebüsch versteckte. Dabei wussten alle im Viertel Bescheid, auch ihre Jugendfreundinnen, aber sie verheimlichten Alisa ihr Wissen. Das erwartete deren Mutter von ihnen.

In „Das Schweigen meiner Mutter“ zeigt uns Lizzie Doron nicht nur das Leid der Holocaust-Überlebenden, sondern vor allem auch, wie deren Traumatisierung die Generation ihrer Kinder prägte. Man kann den Roman als Plädoyer gegen das (in diesem Fall gut gemeinte) Schweigen und Verheimlichen auffassen.

Lizzie Doron erzählt leise und unaufgeregt, ohne Pathos und Effekthascherei. Tragikomische Einsprengsel sorgen dafür, dass Leid und Traurigkeit auf die Leser zwar ergreifend, aber nicht deprimierend wirken. Die Hauptthemen (z. B.: Selektion) werden mehrfach gespiegelt und variiert. Elegant wechselt Lizzie Doron in „Das Schweigen meiner Mutter“ ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

In meinem Kopf wirbelten Vergangenheit und Gegenwart durcheinander, nicht zusammengehörige Welten mischten sich. Ich schaute mich um und war zugleich acht Jahre alt und fünfundfünfzig.

Lizzie Doron wurde 1953 in Tel Aviv als Tochter einer Shoah-Überlebenden geboren und wuchs zwischen jiddisch sprechenden Nachbarn auf, die ebenfalls den Holocaust überlebt hatten. Im Alter von 18 Jahren zog sie in einen Kibbuz auf den Golanhöhen. Später studierte sie Linguistik und lehrte an einer Universität. Erst nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1990 begann sie zu schreiben. Dazu angeregt worden war sie durch Fragen ihrer eigenen Tochter nach der Herkunft.

Von Mirjam Pressler ins Deutsche übertragen wurden folgende Romane von Lizzie Doron:

  • Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen? (1998; deutsch: 2004)
  • Es war einmal eine Familie (2002; deutsch: 2009)
  • Ruhige Zeiten (2003; deutsch: 2005)
  • Der Anfang von etwas Schönem (2007; deutsch: 2007)
  • Das Schweigen meiner Mutter (2009; deutsch: 2011)
  • Who the Fuck Is Kafka (2015)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Deutscher Taschenbuch Verlag

 

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