Ein großer Aufbruch

Ein großer Aufbruch

Ein großer Aufbruch

Originaltitel: Ein großer Aufbruch – Regie: Matti Geschonneck – Drehbuch: Magnus Vattrodt – Kamera: Martin Langer – Schnitt: Eva Schnare – Musik: Marco Meister, Robert Meister – Darsteller: Matthias Habich, Ina Weisse, Hannelore Elsner, Katharina Lorenz, Edgar Selge, Ulrike Kriener, Matthias Brandt – 2015; 90 Minuten

Inhaltsangabe

Nachdem der krebskranke, früher in der Entwicklungshilfe engagierte Ingenieur Holm erfahren hat, dass sein Tod naht, lädt er die fünf ihm wichtigsten Menschen ein, unterrichtet sie über die Diagnose und kündigt an, dass er in die Schweiz fahren wolle, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Aber aus dem geplanten harmonischen Abschiedsabend wird nichts, denn in dieser Situation dringen Konflikte ans Licht, und Lebenslügen werden aufgedeckt ...
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Kritik

Bei "Ein großer Aufbruch" handelt es sich um ein feines Kammerspiel über eine präzise sich entwickelnde Gruppendynamik. Das Drehbuch und die Inszenierung sind ebenso über­zeugend wie die hoch­karätigen Darsteller.
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Charlotte (Katharina Lorenz) trifft mit dem Zug in München ein. Ihr französischer Lebensgefährte Jean-Paul, mit dem die Künstlerin ein Café in Narbonne betreibt, ist nicht mitgekommen. Vom Hauptbahnhof aus ruft Charlotte ihre ältere, als Patentanwältin in einer Kanzlei tätige Schwester Marie (Ina Weisse) an, denn sie hätte erwartet, von ihr abgeholt zu werden. Wollten sie nicht gemeinsam zu ihrem Vater Holm (Matthias Habich) fahren, der auf einem umgebauten Bauernhof am Chiemsee lebt und sie um einen Besuch gebeten hat? Kurz angebunden erklärt Marie, dass sie auf dem Sprung nach New York sei und sich deshalb weder um Charlotte kümmern noch an dem Treffen teilnehmen könne. Obwohl Charlotte gar nicht genügend Geld bei sich hat, lässt sie sich im Taxi von München zum Chiemsee fahren. Ihr Vater könnte die 150 Euro ebenso wenig wie sie bezahlen, aber zum Glück ist sein ebenfalls eingeladener Freund Adrian (Edgar Selge) bereits anwesend. Zunächst sagt er zwar: „Tut einfach so, als wäre ich gar nicht da!“ Aber dann holt er doch seine Brieftasche.

Adrian musste eine Stunde auf Holm Hardenberg warten, der noch mit dem Fahrrad beim Einkaufen für das geplante Abendessen war, mit dessen Zubereitung Adrian inzwischen begonnen hat. Seine Ehefrau Katharina (Ulrike Kriener) kommt im eigenen Wagen nach.

Charlotte bereitet ihren Vater darauf vor, dass er nicht mit Marie rechnen könne, aber er bleibt ruhig, denn er zweifelt nicht an der Wirkung der Nachricht, die er seiner älteren Tochter am Vortag auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Tatsächlich betritt Marie bald nach Katharina das Haus, allerdings mit dem Hinweis, dass sie nur 17 Minuten Zeit habe, weil sie zum Flugplatz müsse. Eigentlich wollte Holm seinen Gästen erst nach einem Glas Champagner verraten, warum er sie eingeladen hat, aber Marie ist so aufgebracht über seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass das Geheimnis vorzeitig aufgedeckt wird: Holm, der vor einigen Jahren an Krebs erkrankt war, erfuhr kürzlich bei einer Nachuntersuchung, dass sein Tod bevorsteht. Und weil er ebenso selbstbestimmt sterben will wie er gelebt hat, will er am nächsten Tag nach Zürich fahren und dort Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Für diesen Abend hat er ein würdevolles Abschiedsessen mit den wichtigsten Menschen in seinem Leben geplant.

Katharina kann sich nicht vorstellen, dass die Tage des langjährigen Freundes gezählt sind. Sie klammert sich an die Hoffnung auf eine Fehldiagnose des Arztes. Marie, die ihrem Vater ohnehin misstraut, hält alles für einen geschmacklosen Scherz. Als Holm ruft, er sterbe vor Hunger, meint Marie, das wäre praktisch, denn dann könne er sich die geplante Reise zur Schweizer Sterbehilfeorganisation sparen.

Zufällig bemerkt Holm, dass in dem Auto, mit dem Marie aus München gekommen ist, jemand sitzt, und er holt ihn herein. Es ist Heiko (Matthias Brandt), Maries neuer Lebensgefährte und einer der Partner der Kanzlei. Aber nachdem er ein Glas Champagner getrunken hat, drängt Marie, die immer noch zornig ist, zum Aufbruch. Heiko meint, den Flieger würden sie ohnehin nicht mehr erreichen, aber Marie will nur noch weg. Sie gibt Gas. In diesem Augenblick kommt ihr durch die Hofeinfahrt ein rotes Auto entgegen, und beim Ausweichversuch kracht Marie in einen Holzstapel. Aus dem anderen Wagen mit Schweizer Kennzeichen steigt ihre Mutter Ella (Hannelore Elsner), die sie, Charlotte und Holm vor 30 Jahren verließ. Holm hat ihr den jüngsten Befund nach Zürich geschickt und sie ebenfalls eingeladen.

Der demolierte Wagen muss abgeschleppt werden. Das wird dauern. Notgedrungen kehrt Marie mit Heiko ins Haus zurück.

Mit Ella und Marie ist die Gesellschaft vollzählig. „Toll, wenn man bei seinem eigenen Leichenschmaus anwesend ist“, witzelt Holm. Aber er scheitert mit seinem Plan eines versöhnlichen Abschiedsessens, denn im Lauf der Jahre haben sich viele Konflikte und Frustrationen angestaut, die in dieser Situation aufbrechen. Kränkungen und Demütigungen sind nicht vergessen, Heimlichkeiten und Lebenslügen kommen ans Licht. Selbstgerecht werfen einige mit Schuldvorwürfen um sich. Amüsiert und süffisant beobachtet Heiko, wie sich die anderen am Tisch zanken und mit Anschuldigungen attackieren.

Holm glaubt, auf ein intensives und gelungenes Leben zurückblicken zu können. Aber die erwartete Bestätigung durch die Gäste bleibt aus. Nachdem Ella ihn und die Töchter verlassen hatte, übernahm er das Sorgerecht und kümmerte sich mit Hilfe von Kindermädchen um Marie und Charlotte. Dass er mit einigen der Nannys Affären hatte, streitet er nicht ab, denn die sexuelle Freizügigkeit gehörte für einen Achtundsechziger zum Selbstverständnis. Die Mädchen wuchsen in Afrika auf, wo Holm – ebenso wie sein Freund Adrian – an häufig wechselnden Orten als Ingenieur in der Entwicklungshilfe tätig war. Er ist überzeugt, damit einen Beitrag zur Weltverbesserung geleistet zu haben und bezeichnet sich stolz als Idealist.

Ella hatte sich zunächst an Holms Seite als Ärztin in Afrika engagiert. Ihre Lebensgier war noch größer als die ihres Mannes. Neben der Sexualität gehörte dazu der Drogenkonsum, bei dem Ella im Gegensatz zu Holm nicht vor Heroin zurückschreckte. Nach der Scheidung besann sie sich, überwand die Drogensucht und kam mit sich selbst ins Reine. Während eines Besuchs bei ihrem Ex-Mann begriff sie, dass sie ihre Familie unwiederbringlich verloren hatte. Ella arbeitete ihre Vergangenheit auf und fand sich mit der nicht mehr zu ändernden Tatsache ab, eine selbstsüchtige Rabenmutter gewesen zu sein. Inzwischen praktiziert sie als Ärztin in Zürich. Sie akzeptiert Holms Wunsch, selbstbestimmt zu sterben und unterstützt ihn dabei.

Marie hat ihrer Mutter nicht verziehen und ihren Vater beschuldigt sie, sich in seiner Egozentrik nicht ausreichend um die Töchter gekümmert zu haben. In der Rückschau hält sie die Kindheit und Jugend in Afrika für chaotisch und schrecklich. Mit konsequenter Selbstkontrolle hat sie sich zur eigenständigen und selbstbewussten Powerfrau entwickelt, und sie ist als Juristin erfolgreich auf der Karriereleiter unterwegs. Emotionen würden da nur stören. Holm beschimpft sie denn auch an diesem Abend als „freudlosen Fisch, der dem sterbenden Vater das Leben zerredet“.

Anders als ihre Schwester wirft Charlotte den Eltern nichts vor. An die ebenso aufregende wie unbekümmerte Kindheit und Jugend in Afrika erinnert sie sich gern. Ihre Naivität und Herzlichkeit kontrastieren mit der kritisch-argwöhnischen Haltung ihrer Schwester. Charlotte neigt zur Unordnung. Als Künstlerin ist sie erfolglos.

Katharina reagiert hasserfüllt auf die für sie unerwartete Anwesenheit Ellas. Dabei war Ella früher ihre beste Freundin. Katharina wirft Ella die Drogensucht und die Zerstörung der Familie vor, aber ihr Mann deckt an diesem Abend auf, dass sie selbst gern wie Ella gewesen wäre. Katharina bewunderte und beneidete die wilde, furchtlose Achtundsechzigerin, die sich nahm, was ihr gefiel. Dazu war Katharina nie mutig genug.

Ihren Mann hält sie verächtlch vor, ein seinem Freund höriger Schwächling zu sein. Adrian leugnet nicht, dass er stets zu Holm aufgeschaut hat. Er meint, ebenso wie seine Frau zu den Parasiten zu zählen. Während Katharina ihn auffordert, Holm von seinem Vorhaben abzubringen, erklärt Adrian ausdrücklich, dass er die Entscheidung seines Freundes respektiere und bereit sei, ihn auf seinem letzten Weg nach Zürich zu begleiten.

An diesem Abend lässt Adrian alle wissen, dass er über das intime Verhältnis seiner Ehefrau und seines Freundes seit langem im Bilde ist. Nachdem die beiden zugegeben haben, dass sie noch vor sechs Wochen miteinander im Bett waren, erklärt Adrian, er gestehe seiner Frau auch weiterhin Seitensprünge zu, zum einen, weil sie sonst die Ehe mit ihm nicht ertrage, aber auch, weil er dann wegen eigener Affären keine Gewissensbisse zu haben brauche. Katharina meint, eine Frau, die sich mit ihm einlasse, müsse schon recht verzweifelt sein. Um die maliziöse Bemerkung zu entkräften, gesteht Charlotte, Adrian habe sie in Narbonne besucht und sei mit ihr intim gewesen. Ihre Beziehung mit Jean-Paul sei gescheitert, fährt sie fort, und sie werde nicht nach Frankreich zurückkehren.

Holm holt ein handschriftliches Testament hervor. Der Jurist Heiko stellt sogleich fest, dass Unterschrift und Datum fehlen. Adrian greift nach dem Testament, und Holm kann ihn nicht davon abhalten, es zu lesen. Fassungslos konstatiert Adrian, dass Holm das Anwesen seinen Töchtern zugedacht hat. Dabei gehört es ihm gar nicht, sondern Adrian. Weil dieser sich, anders als sein Freund, nach ein paar Jahren aus der Entwicklungshilfe in Afrika zurückzog, um mit einem Ingenieurbüro das große Geld zu machen, hat Holm ihm mehrmals vorgeworfen, Materialist zu sein. Das hinderte den selbsternannten Idealisten jedoch nicht daran, sowohl mit eigenem als auch mit geliehenem Geld auf Aktien zu setzen, und weil es gehörig schief ging, schuldet er Adrian eine dreiviertel Million Euro, wobei dem Gläubiger nicht erst seit diesem Abend klar ist, dass er den Betrag nie zurückerhalten wird. Er versichert Marie und Charlotte sogleich, sie bräuchten nicht mit Forderungen von ihm zu rechnen.

Holm schließt sich an und erklärt, seine Töchter müssten auch nicht für die Kosten der Sterbehilfe aufkommen, denn dafür habe er sein Auto verkauft. Adrian stellt richtig, dass auch das Fahrzeug ihm gehörte.

Holm hat offenbar das Informationsmaterial nicht gelesen, das Ella ihm schickte, denn er nimmt an, dass ihm die Sterbehilfe-Organisation eine Pille mit einem tödlichen Gift zur Verfügung stellen werde. Heiko weiß es besser. Er war mit seiner todkranken Ehefrau Barbara in Zürich und saß neben ihr, als sie sich beim Sterbehilfe-Verein über den Ablauf eingehend aufklären ließ. Weil ihr dabei klar wurde, dass man nach dem Austrinken des Giftbechers nicht einfach einschläft, sondern erst einmal einige qualvolle Minuten überstehen muss, ließ sie von ihrem Vorhaben ab und starb dann vier Monate später friedlich in einem Hospiz in München. Ruhig und lakonisch berichtet Heiko darüber.

Offenbar hat Holm sich das selbstbestimmte Sterben zu leicht vorgestellt.

Katharina entdeckt im Haus eine geladene Pistole, und Holm muss zugeben, sich die Waffe besorgt zu haben. Weil er sie nicht benutzte und sich stattdessen bei einem Sterbehilfe-Verein angemeldet hat, geht Ella nun davon aus, dass er den Mut nicht aufbringen wird, sich selbst das Leben zu nehmen. In der Erwartung, in ein paar Tagen mit ihm telefonieren zu können, verabschiedet sie sich und fährt in die Schweiz zurück. Auch Adrian und Katharina brechen auf.

Während Charlotte ihrem Vater beim Aufräumen des Geschirrs hilft, sitzt Marie in Gedanken versunken auf einer Bank vor dem Haus.

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Bei „Ein großer Aufbruch“ von Magnus Vattrodt (Drehbuch) und Matti Geschonneck (Regie) handelt es sich um ein Fernsehdrama vom Feinsten.

Ein älterer krebskranker Mann, der nach einer medizinischen Untersuchung erfahren hat, dass sein Tod bevorsteht, will ebenso selbstbestimmt sterben wie er gelebt hat und sich würdevoll von den Menschen verabschieden, die ihm wichtig sind. Aber das Vorhaben scheitert …

[…] war der Grundgedanke, einen gleichermaßen heiteren wie bösen Film über ein als schwer empfundenes Thema zu machen – nämlich die Konfrontation mit dem eigenen Sterben, die Aufarbeitung einer Familiengeschichte und die Bewertung des eigenen Lebens angesichts des Todes. Holms Wunsch, sein Leben per Sterbehilfe zu beenden, bildet den Ausgangspunkt einer Abrechnung – mit der eigenen Geschichte, den gelebten Beziehungen, den gemachten Fehlern. […] Mehr als um Sterbehilfe geht es am Ende also um Selbstbilder und die Lügen und Halbwahrheiten und Täuschungsmanöver, in denen wir unsere Leben einrichten. (Magnus Vattrodt)

Die Gruppendynamik, die sich in dem Ensemblefilm „Ein großer Aufbruch“ entwickelt, ist leicht nachvollziehbar. Magnus Vattrodt und Matti Geschonneck vermeiden dabei jede Küchenpsychologie. Ruhig und präzise wie ein Uhrwerk lassen sie die Entwicklung ablaufen. Und die hochkarätigen Schauspielerinnen und Schauspieler überzeugen alle mit ebenso nuancierten wie eindrucksvollen Darstellungen. Dass der von Matthias Habich verkörperte Holm Hardenberg zu Beginn sich und die anderen Figuren als Ich-Erzähler aus dem Off vorstellt, passt perfekt zu seiner Rolle, sieht er sich doch als der Regisseur des geplanten Abschieds. Weil vieles aus der Vergangenheit der Filmfiguren aufgewühlt wird, hätten Magnus Vattrodt und Matti Geschonneck auf die Idee kommen können, die Erinnerungen durch Rückblenden zu bebildern, aber das hätte die Atmosphäre dieses vor allem durch pointierte Dialoge wirkenden Kammerspiels zerstört. Es ist verblüffend, wie nahtlos Ironie, Zynismus, Wortwitz und Tragikomik trotz der ernsten Themen passen. Der nahe Tod, das Thema Sterbehilfe: da könnte man ein schwülstiges Ende befürchten, aber „Ein großer Aufbruch“ ist in keiner Weise pathetisch, und der Ausgang bleibt offen.

Magnus Vattrodt weist übrigens darauf hin, dass die Grundidee für „Ein großer Aufbruch“ von Daniel Nocke stamme, der auch das Drehbuch für die ebenfalls von Matti Geschonneck inszenierte Verfilmung der Kurzgeschichte „Silberhochzeit“ von Elke Heidenreich schrieb.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015

Matti Geschonneck (Kurzbiografie / Filmografie)

Matti Geschonneck: Der Mörder und sein Kind
Matti Geschonneck: Wer liebt, hat Recht
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Matti Geschonneck: Silberhochzeit
Matti Geschonneck: Duell in der Nacht
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.