Der verlorene Bruder

Der verlorene Bruder

Der verlorene Bruder

Originaltitel: Der verlorene Bruder – Regie: Matti Geschonneck – Drehbuch: Ruth Toma nach dem Roman "Der Verlorene" von Hans-Ulrich Treichel – Kamera: Theo Bierkens – Schnitt: Eva Schnare – Musik: Sebastian Pille – Darsteller: Noah Kraus, Katharina Lorenz, Charly Hübner, Matthias Matschke, Johanna Gastdorf, Flora Li Thiemann, Albrecht Felsmann, Bruno Alexander, Anne Brendler u.a. – 2015, 90 Minuten

Inhaltsangabe

1960 erhalten Ludwig und Elisabeth Blaschke die Nachricht, dass in einem Waisenhaus ein Kind gefunden worden sei, das ihr 1945 bei der Flucht verlorener Sohn Arnold sein könnte. Der 1947 geborene Sohn Max, der von älteren Schülern drangsaliert wird, hofft, dass ihm der Familienzuwachs erspart bleibt. Ludwig, der seinen Einzel- zum Großhandel ausbaut, will die Vergangenheit ruhen lassen, aber Elisabeth unternimmt alles, um ihren verlorenen Sohn zurückzubekommen ...
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Kritik

Wie in der Romanvorlage von Hans-Ulrich Treichel wird auch in der Tragikomödie "Der verlorene Bruder" von Matti Geschonneck alles konsequent aus der Sicht eines Jugendlichen erzählt. Das ist sehr überzeugend, denn Noah Kraus verkörpert ihn eindrucksvoll.
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Ludwig und Elisabeth Blaschke (Charly Hübner, Katharina Lorenz) verloren 1945 bei der Flucht aus Ostpreußen ihren kleinen Sohn Arnold. Inzwischen betreiben sie in Halle (Westfalen) einen Tante-Emma-Laden und haben einen weiteren, 1947 geborenen Sohn namens Max (Noah Kraus). Mit ihnen im Haus lebt auch Ludwigs verbitterte Schwester Josepha (Johanna Gastdorf), deren Ehemann nicht aus dem Krieg zurückkam.

Im Sommer 1960 erhalten Ludwig und Elisabeth Blaschke die Mitteilung, dass in einem Waisenhaus ein Findelkind lebe, bei dem es sich um Arnold handeln könnte. Bevor jedoch die Frage der Verwandtschaft nicht geklärt ist, erfahren die Blaschkes nur die Nummer des Kindes – 2307 –, aber weder den Namen des Waisenhauses noch den Ort.

Max ist entsetzt: Seine Eltern hatten ihm bisher erzählt, das Baby sei auf der Flucht verhungert. Wird er in Zukunft von einem älteren Bruder drangsaliert wie in der Schule von älteren Mitschülern? Er leidet ohnehin schon darunter, dass sich das Denken seiner Mutter um seinen bisher noch gar nicht anwesenden Bruder dreht. Die bigotte Tante Josepha knurrt, ihre Schwägerin hätte besser auf Arnold aufpassen sollen. Als Max fragt, wie die Eltern den Säugling verloren, schauen diese sich an. Elisabeth sagt: „Der Russe hat deinem Vater das Gewehr an die Brust gedrückt, und ich musste mitkommen.“ In ihrer Not vertraute sie das Baby einer anderen Frau an. Was sonst geschah, verschweigt sie.

Elisabeth ist zwar überzeugt, dass es sich bei dem Findelkind um Arnold handelt, aber nach einem Vergleich der Fingerabdrücke kommen die Behörden zu dem Ergebnis, dass eine Verwandtschaft zwischen Familie Blaschke und dem Findelkind 2307 unwahrscheinlich sei. Der unverheiratete Polizist Frank Rudolf (Matthias Matschke) rät den Blaschkes, ein weiteres Gutachten einzuholen. Damit die Wissenschaftler die Kopfformen vergleichen können, müssen Fotos einschickt werden, auf denen die Köpfe von vorne, von der Seite und von hinten zu sehen sind. Elisabeth schickt Max deshalb zum Frisör und zum Fotografen. Um zu verhindern, dass das Findelkind als sein Bruder ins Haus kommt, überredet Max einen Mitschüler, an seiner Stelle eine Aufnahme seines Hinterkopfes machen zu lassen.

Während Elisabeth alles dran setzt, ihren Sohn Arnold wiederzubekommen, will Ludwig die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Er arbeitet unermüdlich und freut sich über den steigenden Wohlstand, der es ihm erlaubt, ein Fernsehgerät und eine Musiktruhe anzuschaffen. Den Tante-Emma-Laden erweitert Ludwig zum Fleisch-Großhandel. Für den erforderlichen Umbau muss auch der Taubenschlag abgerissen werden, den Max bisher als sein Refugium betrachtete. In die Einweihungsfeier platzt die Nachricht, dass aufgrund der Fotografien keine Verwandtschaft der Blaschkes mit dem Findelkind 2307 nachgewiesen werden könne.

Max ist in seine Mitschülerin Milli (Flora Li Thiemann) verliebt, aber sie ignoriert ihn, bis sie ihn eines Tages mit einer Einladung überrascht. Als Max hinkommt, geht die alleinerziehende Mutter fort. Gleich darauf verlässt auch Milli das Haus, und Max bleibt als unfreiwilliger Babysitter mit ihren drei kleineren Geschwistern zurück. Er sieht noch, wie Milli von einem älteren Schüler abgeholt wird.

Ludwig hält weitere Bemühungen um einen Verwandtschaftsnachweis mit dem Findelkind 2307 für aussichtslos. Als er einen Stapel Hundert-Mark-Scheine für den Kauf eines Opel Kapitän auf den Tisch legt, packt Elisabeth die Banknotenbündel und wirft sie in den Küchenherd. Mit einer Kohlenzange zieht Ludwig so viele wie möglich von den angesengten Geldscheinen aus dem Feuer. Elisabeth redet kein Wort mehr mit ihm und verbringt sogar einen Abend bei Frank Rudolf, weil sie es zu Hause nicht mehr aushält.

Nachdem Ludwig von der Bank Ersatz für die teilweise verkohlten Scheine bekommen hat, verwirklicht er sein Vorhaben, den alten Opel Olympia durch einen Opel Kapitän zu ersetzen – und kündigt eine Fahrt nach Heidelberg an. Dort hat er einen Termin mit einem Anthropologie-Professor vereinbart. Elisabeth kann es kaum glauben. Nach dieser Überraschung versöhnt sie sich mit Ludwig.

Aber für Max ist das keine gute Nachricht. Nachts kriecht er unter den neuen Opel Kapitän und schneidet eine Leitung durch.

Am nächsten Tag machen sie sich zu dritt auf den Weg nach Heidelberg. Max wundert sich darüber, dass der Wagen problemlos fährt. In Heidelberg werden ihre Gesichter vermessen und Fußabdrücke von ihnen genommen. Der Professor meint vorläufig, das Ergebnis sei „unentschieden“. Als die Blaschkes aus dem Gebäude kommen, steht der Opel Kapitän nicht mehr da, wo Ludwig ihn geparkt hat. Das Fahrzeug ist weggerollt und auf einer Steintreppe zu stehen gekommen. Max hatte das Seil der Handbremse durchgeschnitten.

Die Blaschkes müssen in Heidelberg übernachten und warten, bis der Wagen repariert ist.

Als sie nach Halle zurückkommen, finden sie die Türen aufgebrochen vor, auch die der Kühlhalle. Das Fleisch, das die Räuber nicht mitnehmen konnten, ist verdorben. Um Kosten zu sparen, hat Ludwig den Beginn des Vertrags­verhältnisses mit der Versicherung auf einen späteren Zeitpunkt gelegt. Der Arzt diagnostiziert bei ihm eine Kreislaufschwäche und verordnet Bettruhe. Aber als Ludwig begreift, dass er ruiniert ist, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt im Krankenhaus.


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Frank Rudolf hält drei ältere Schüler für die Wurstdiebe. Er kümmert sich um Max und hört mit Elisabeth Schallplatten, zum Beispiel eine Aufnahme der Operette „Land des Lächelns“ („Dein ist mein ganzes Herz“).

Im schriftlichen Gutachten des Heidelberger Professors heißt es, eine Verwandtschaft der Blaschkes mit dem Findelkind 2307 sei mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,73 Prozent auszuschließen. Elisabeth will dennoch nicht aufgeben, aber Frank Rudolf erklärt ihr, dass damit alle Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Sie könne das Kind doch adoptieren, meint Elisabeth. Da erfährt sie, dass sich das Kind inzwischen schon nicht mehr im Waisenhaus befindet, sondern bei Adoptiveltern. Elisabeth fleht den Polizisten an, ihr wenigstens einen Blick auf den Jungen zu ermöglichen. Frank Rudolf will jedoch nicht gegen die Dienstvorschriften verstoßen.

Daraufhin spricht Elisabeth nicht mehr mit ihm und beauftragt Max, die geliehenen Schallplatten zurückzubringen. Als Max deshalb auf dem Polizeirevier ist, wird Frank Rudolf ins Nebenzimmer gerufen. Max nutzt die Gelegenheit, die auf dem Schreibtisch liegende Akte über das Findelkind 2307 aufzuklappen und sich sowohl den Namen als auch den Ort zu merken. Der Polizist beobachtet es, unternimmt jedoch nichts.

Er fährt Elisabeth und Max schließlich nach Rehberg, wo Heinrich Konigs jetzt lebt. Elisabeth schickt Max vor. Der geht in die Metzgerei der Familie Konigs und kauft ein wenig Wurst. Als er ins Auto zurückkommt, meint er, der ältere Junge hinter der Ladentheke könne tatsächlich sein Bruder sein. Elisabeth steigt jedoch nicht aus. Stattdessen bittet sie Frank, sie wieder zurückzubringen.

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Hans-Ulrich Treichel veröffentlichte 1998 den Roman „Der Verlorene“, der autobiografische Züge aufweist. Als Ruth Toma das Buch für einen Fernsehfilm adaptierte, den Matti Geschonneck dann inszenierte, hielt sie sich eng an die literarische Vorlage. Die Tragikomödie trägt den Titel „Der verlorene Bruder“.

Die Familiengeschichte entwickelt sich vor dem Hintergrund der Wirtschafts­wunderjahre in der Bundesrepublik und vermittelt auch einiges von der damaligen Atmosphäre. Tante Josephas Mann kam ebenso wenig aus dem Krieg zurück wie Millis Vater. Ludwig Blaschke baut seinen Tante-Emma-Laden mit unermüdlicher Arbeit zum Großhandel aus und leistet sich auch Fernsehgerät, Musiktruhe und Opel Kapitän. Dass er in der Familie als Mann die Entscheidungen trifft, hält er für selbstverständlich. Eine DNA-Analyse kennt man 1960 noch nicht; stattdessen wird mit Körpervermessungen gearbeitet, wie bei den Nationalsozialisten, deren Terminologie auch in Begriffen wie „Blutsverwandtschaft“ und „erbbiologisches Gutachten“ erhalten blieb.

Die lakonisch und unaufgeregt entwickelte Handlung ist in Episoden aufgeteilt. Wie im Roman „Der Verlorene“ erleben wir auch im Film „Der verlorene Bruder“ alles aus der subjektiven Sicht des Jugendlichen Max, der die Welt der Erwachsenen zu verstehen versucht. Gerade weil ihm das nicht immer gelingt, wirkt diese Perspektive recht authentisch.

Hervorzuheben sind last but noch least die überzeugenden schauspielerischen Leistungen vor allem von Noah Kraus, Katharina Lorenz und Charly Hübner.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015

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Alex Capus - Das Leben ist gut
Alex Capus lässt seinen Protagonisten ruhig, im Plauderton und episodenhaft von seinem unspektakulären Alltag erzählen. Die Handlung – wenn man überhaupt von einer solchen sprechen will – umfasst nur wenige Tage. "Das Leben ist gut" kommt ohne Dramatik und Effekthascherei aus. Trotz des Titels kritisiert Alex Capus Fehlentwicklungen der Gesellschaft.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.