Herman Koch : Der Graben
Inhaltsangabe
Kritik
Robert Walter, der Bürgermeister von Amsterdam
Der 59-jährige Ich-Erzähler Robert Walter amtiert als Bürgermeister von Amsterdam. Verheiratet ist er mit einer Ausländerin, die er im Buch Sylvia nennt. Dazu erklärt er, dass er ihren richtigen Namen ebenso wenig preisgeben wolle wie ihre Nationalität. Im Wikipedia-Artikel über ihn sei zwar das Land angegeben, aus dem seine Frau stammt, aber ihren Namen habe man falsch geschrieben. Die beiden lernten sich kennen, als Robert Walter in den Achtzigerjahren mit seinem besten Freund – dem auch mit Stephen Hawking befreundeten Physiker und Astronom Bernhard Langer – Sylvias Heimatland bereiste. Acht Monate später fand die Hochzeit in ihrem Geburtsort statt. Das war vor 28 Jahren. Inzwischen hat das Ehepaar eine Tochter, die in Kürze das Abitur machen wird. Auch für sie verwendet der Ich-Erzähler ein Pseudonym; er nennt sie Diana.
Robert Walter ist eitel und von sich eingenommen. Der Bürgermeister gilt als „menschlich“, weil er Mitarbeitern zu Geburtstagen gratuliert und sich nach ihren Kindern erkundigt, deren Namen er zu kennen scheint. Tatsächlich erhält er die entsprechenden Informationen zuvor von seiner Sekretärin, Frau Schreuder. Vor längerer Zeit aß er einmal mit Bill Clinton in einem Restaurant. Stolz weist Robert Walter darauf hin, dass sie sich mit Bill bzw. Bob ansprachen. Als ihn der US-Präsident nach seiner Meinung über den niederländischen Regierungschef fragte, antwortete er freimütig. Weil es sich jedoch um ein Privatgespräch handelte, kann er seine Antwort nicht publik machen, ebenso wenig wie Bill Clintons (offenbar abfällige) Bemerkung über Königin Beatrix.
Robert Walters Verdacht
Beim Neujahrsempfang am 16. Januar im Rathaus wundert sich Robert Walter, dass seine Frau mit Maarten Van Hoogstraten plaudert. Sie lacht sogar über eine Bemerkung des sonst so langweiligen Dezernenten, den er nicht ausstehen kann. Kann es sein, dass die beiden heimlich eine Affäre haben? Bald verwirft Robert Walter den eifersüchtigen Verdacht als unbegründet, aber dann lässt er die Szene, in der seine Frau mit Maarten Van Hoogstraten zusammensteht, noch einmal in seinem Kopf ablaufen, und es kommen ihm doch wieder Zweifel an Sylvias Treue.
Er beginnt, sie argwöhnisch zu beobachten. Dass er nichts Auffälliges bemerkt, hält er für verdächtig.
[Es] konnte, wie so manches in den letzten Monaten seit dem Neujahrsempfang zweierlei bedeuten: Entweder hatte sie sich vorgenommen, sich möglichst normal zu verhalten, und spielte das hervorragend, oder sie spielte überhaupt nicht und verhielt sich tatsächlich normal.
Als die Beerdigung des Stadtdirektors Hans van Wezel ansteht, der sich das Leben nahm, weil er bei Diebstählen und Unterschlagungen ertappt worden war und der Bürgermeister zwar von einer Anzeige abgesehen, aber auf einer Beendigung des Dienstverhältnisses bestanden hatte, drängt Robert Walter seine Frau, ihn zu begleiten, denn es ist eine Gelegenheit, sie und ihren möglichen Liebhaber an ein und demselben Ort zu beobachten. Vom Rednerpult aus sieht Robert Walter, dass Sylvia und der Dezernent weit entfernt voneinander sitzen. Gerade das hält er für bedenklich.
Für ein paar Tage fahren Sylvia und Robert Walter nach Paris. Während sie dort in einem Restaurant essen, klingelt Sylvias Telefon, und sie geht hinaus, um den Anruf entgegenzunehmen. Robert Walter bleibt am Tisch sitzen und stellt sich vor, dass es sich bei dem Anrufer um den nur mit einer Unterhose bekleideten Maarten Van Hoogstraten handelt.
Ich guckte auf mein zur Hälfte verzehrtes steak tartar und auf den Teller meiner Frau mit dem jetzt kalten faux filet und den pommes dauphines, und eine schreckliche Wut stieg in mir auf. Wie war es möglich, dass der Dezernent Van Hoogstraten uns aus einer Entfernung von fünfhundert Kilometern das Mittagessen vermieste?
Nach dem Telefonat erklärt Sylvia, ihre japanische, in Amstelveen lebende Freundin Sadako sei verzweifelt, weil sie Grund zu der Annahme habe, dass ihr Ehemann sie mit einer anderen Frau betrügt.
Robert Walters lebensmüde Eltern
Roberts alte Eltern beschließen, im Sommer ein letztes Mal in großem Stil nach Südfrankreich zu reisen, im Mai dann den 95. Geburtstag von Roberts Vater zu feiern und ein paar Monate später gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Der Vater teilt es dem Sohn mit und lässt sich von ihm dabei helfen, das Grab auf dem Friedhof in Ouderkerk aan de Amstel auszusuchen.
Einige Zeit später erhält Robert von seinem Vater die Mitteilung, dass die Eltern den Termin für den erweiterten Suizid vorverlegt haben. Sie wollen nun doch keine Reise mehr unternehmen und auch nicht noch einmal Geburtstag feiern.
Robert Walter findet seine Eltern im Schlafzimmer vor. Sie liegen nebeneinander auf dem Bett. Die Mutter ist tot, aber der Vater kommt im Krankenhaus wieder zu sich, obwohl er sogar ein wenig mehr von dem Gift genommen hatte.
Die Mutter zeichnete zuletzt eine Drossel, und Robert Walter fällt auf, dass er seit ihrem Freitod immer wieder im Garten eine Drossel vorfindet. Er glaubt nicht, dass es sich dabei um einen Zufall handelt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Mögliche Enthüllungen
Eine Journalistin zeigt dem Bürgermeister am Ende eines Interviews einige Anfang der Siebzigerjahre geknipste Fotos von drei vermummten Jugendlichen, die während einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg mit der Polizei aneinander geraten waren. Dabei erlitt der Polizist Mark Vader eine Querschnittlähmung. Die Täter konnten nicht entlarvt werden, aber die Journalistin behauptet, einer der Beteiligten habe ihr unlängst erklärt, der spätere Bürgermeister sei einer der drei Vermummten gewesen und habe den Polizisten so schwer verletzt. Robert Walter nahm zwar mit einer einzigen Ausnahme an keinen Demonstrationen teil, schon gar nicht vermummt und gewalttätig, aber er verblüfft die Journalistin mit einem (falschen) Geständnis der Tat.
Einen Monat lang wartet er vergeblich auf die Veröffentlichung des Interviews und den Skandal. Dann ruft er bei der Zeitung an. Der Chefredakteur erklärt ihm, dass die Journalistin eine ganze Reihe von Berichten und Interviews frei erfunden habe und deshalb mit sofortiger Wirkung freigestellt worden sei. Man werde nichts mehr von ihr veröffentlichen, auch nicht das Interview mit dem Bürgermeister.
Robert Walters Vater
Zufällig sieht Robert Walter seinen Vater am Lenkrad eines roten Cabriolets. Als er ihn darauf anspricht, erfährt er, dass der Vater zwar wegen seiner Sehschwäche seit einem Jahr keinen Führerschein mehr hat, aber nun doch vor dem Suizid noch einmal mit dem Auto nach Südfrankreich fahren möchte. Dort werde er dann auf einer Gebirgsstraße mit dem Wagen eine Leitplanke durchbrechen und sich in eine Schlucht stürzen, kündigt der 95-Jährige an.
Kurz darauf sieht Robert Walter das rote Cabriolet erneut, und auf dem Beifahrersitz des roten Cabriolets sitzt eine ihm unbekannte Frau.
Sylvia
Sylvias älterer Bruder – dessen Name der Ich-Erzähler auch nicht verrät – kommt zu Besuch nach Amsterdam. In der ersten Nacht seines Aufenthalts erhält er die Nachricht, dass seine Frau den Sohn Damian mit hohem Fieber ins Krankenhaus brachte. Am nächsten Morgen fliegt er deshalb zurück, und Sylvia begleitet ihn.
Zunächst nimmt Robert an, dass Sylvia nur nach ihrem Neffen schauen und dann nach Amsterdam zurückkommen werde, aber bald begreift er, dass sie in ihrem Geburtsort bleibt.
Epilog
Robert Walters Vater wird in Kürze seinen 100. Geburtstag in Amsterdam feiern.
Bernhard Langer vertraute seinem Freund vor fünf Jahren bei einem Besuch in den Niederlanden an, dass er unheilbar krank sei. Damals lebte er mit seiner dritten, mit Zwillingen schwangeren Ehefrau Christine in Boston. Nach einem Kongress in Las Vegas wurde seine Leiche aus dem Grand Canyon geborgen. Die Polizei ging von einem Unfall aus, aber Robert Walter weiß, dass sich sein Freund absichtlich in den Tod stürzte.
Vor vier Jahren verzichtete Robert Walter auf eine erneute Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters und zog zu seiner Frau. Er möchte nicht mehr wissen, was damals in Amsterdam wirklich geschah. Darüber schweigen er und Sylvia (die eigentlich anders heißt).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Der satirische Roman „Der Graben“ des niederländischen Schriftstellers und Schauspielers, Kolumnisten und Comedian Herman Koch (*1953) dreht sich um einen Mann, dessen Weltbild voller Vorurteile ist. Das betrifft auch seine Selbstwahrnehmung: Robert Walter ist eitel und von sich eingenommen, sieht sich also in einem viel zu guten Licht. Zugleich mangelt es ihm an Empathie, und er unterstellt anderen aufgrund von scheinbar mehrdeutigen Beobachtungen ein Verhalten, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Weder als Privatperson noch als Bürgermeister von Amsterdam hat er viel unter Kontrolle. Warum er einer Journalistin gegenüber zugibt, in der Jugend einen Polizisten so geschlagen zu haben, dass dieser nur querschnittgelähmt überlebte, kann ich nicht nachvollziehen, zumal das Geständnis offenbar falsch ist und ihn die Veröffentlichung das Amt kosten würde. Rätselhaft bleibt auch, ob es sich bei dem schweren Fahrrad-Sturz des Dezernenten Maarten Van Hoogstraten, den er verdächtigt, eine Affäre mit seiner Ehefrau Sylvia zu haben, um einen Unfall oder einen Anschlag handelt. Esoterisch wird es, wenn Robert Walter einen Zusammenhang zwischen einer von seiner Mutter kurz vor dem Tod gezeichneten Drossel und einem gleich darauf in seinem Garten bemerkten Vogel herstellt.
Herman Koch hat „Der Graben“ in vier Teile gegliedert. Die ersten drei umfassen einen Zeitraum von einigen Monaten; der Epilog spielt fünf Jahre später. Aus Rückblenden im zweiten Teil erfahren wir, wie Robert Walter und Sylvia sich kennenlernten.
Zu den Leitmotiven des Romans „Der Graben“ gehört auch der selbstbestimmte Tod: Robert Walters greise Eltern planen einen erweiterten Suizid, ein unheilbar kranker Freund, dessen Ehefrau mit Zwillingen schwanger ist, stürzt sich in den Grand Canyon, und ein Stadtdirektor, der wegen Unterschlagungen sein Amt verliert, erhängt sich.
Herman Koch überlässt dem Protagonisten in „Der Graben“ das Wort. Das ist nicht unproblematisch, weil dieser etwas geschwätzige Ich-Erzähler weder ein Sympathieträger noch eine Identifikationsfigur ist. Außerdem vermag der Egozentriker andere nicht differenziert wahrzunehmen, und die anderen Figuren bleiben deshalb schemenhaft.
Running Gag ist die Erklärung des Autors, etwas Bestimmtes nicht preisgeben zu können, beispielsweise eine Äußerung Bill Clintons über Königin Beatrix. Frau und Tochter nennt er Sylvia und Diana, betont jedoch, dass dies nicht ihre richtigen Namen seien. Nicht einmal die Nationalität seiner Frau verrät er, aber aus verschiedenen Angaben ergibt sich, dass sie aus Spanien stammt – ebenso wie Herman Kochs Ehefrau.
„Der Graben“ ist im Plauderton geschrieben, sarkastisch, unterhaltsam und leicht zu lesen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch
Herman Koch: Sehr geehrter Herr M.
Herman Koch: Einfach leben