Constanze Kühn : verwundet

verwundet
verwundet Originalausgabe: tredition, Hamburg 2011 ISBN: 978-3-8424-2334-3, 481 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Aufgrund von Kindheitserlebnissen hält der 37-jährige Tierpfleger Harald Wiebke Liebe für etwas Unbeständiges, und als eine Ärztin sich auf eine Liebesbeziehung mit ihm einlässt, torpediert er diese ungewollt. Selbstzerstörerisch verhält sich auch die 18-jährige Lisa Stralsund. Für sie beide geht es darum, die destruktiven Mechanismen unter Kontrolle zu bekommen, indem sie sich ihrer psychischen Verwundungen und deren Auswirkungen bewusst werden ...
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Kritik

Mit großem Ernst und sehr viel Empathie verfolgt Constanze Kühn in ihrem ergreifenden Roman "verwundet" die in prägnante Szenen und Dialoge gekleideten psychischen Entwicklungen.
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Als Lisa Stralsunds Mutter Mara vor vier Monaten vermutlich absichtlich gegen einen Baum fuhr und starb, nahm deren Freundin Lydia Kaufmann die 18-jährige Halbwaise bei sich auf. Mara und Lydia hatten sich vor zweieinhalb Jahren bei einem Computerkurs kennengelernt. Damals war Mara bereits von ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Ehemann geschieden. Lisa, die ihre Schulausbildung abbrach, denkt offenbar nicht darüber nach, was aus ihr werden soll. Halbherzig hilft sie in der Buchhandlung, die ihre 30 Jahre ältere mütterliche Freundin von ihren Eltern geerbt hat.

In der „Grotte“, einer Kneipe, lernt Lisa den 37 Jahre alten Harald Wiebke kennen. Mit 16 hatte er sein Elternhaus im Streit verlassen, den Schulbesuch abgebrochen und war dann zwei Jahre lang im Ausland herumgereist. Als er nach zwei Jahren wieder nach Hause kam, erfuhr er, dass seine 15-jährige Schwester Clärchen sich während seiner Abwesenheit vor einen Zug geworfen hatte. Harald fühlt sich schuldig, weil er das Mädchen im Stich gelassen hatte, obwohl der Vater gewalttätig war und die Mutter keines der beiden Kinder je in Schutz nahm. Nach mehreren gescheiterten Ansätzen in anderen Berufen ließ Harald sich zum Tierpfleger ausbilden, und seinen Zivildienst leistete er auf einer Greifvogelstation. Er würde gern im Naturschutz arbeiten, aber bezahlte Stellen gibt es in diesem Bereich nur wenige. Deshalb schlägt Harald sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Kürzlich zog er in eine Zwei-Zimmer-Wohnung schräg gegenüber der „Grotte“.

Spätabends fragt Lisa ihn, ob sie bei ihm übernachten könne. Er nimmt sie mit, besteht jedoch darauf, Lydia Kaufmann telefonisch darüber zu informieren und verspricht der besorgten Buchhändlerin, er werde Lisa am nächsten Tag zu ihr bringen.

Auf diese Weise lernen sich Harald und Lydia kennen. Sie vermittelt ihm einen Job in der Tierarztpraxis Frankenfeld und Adler. Und die beiden werden ein Paar.

Lisa ist frustriert. Als sie bei Harald übernachtete, versuchte sie ihn zu verführen, aber es gelang ihr nicht. Auch mit Lydia wäre sie gern ins Bett gegangen, aber die 48-Jährige sträubte sich gegen lesbischen Sex.

Heidi, eine Bedienung in der „Grotte“, tritt Lisa einige Schichten ab und nimmt sie vorübergehend bei sich auf. Schließlich zieht Lisa zu der Schriftsetzerin Andrea, die wie Harald schräg gegenüber der Kneipe wohnt und eine Untermieterin suchte.

Heidi war immer guter Laune gewesen, wenn sie bediente, und so hätte Lisa nie vermutet, wie anstrengend die Arbeit sein würde. […] Sie hatte nicht bemerkt, dass Lydia die Kneipe betreten hatte. So ließ sie fast ihr Tablett mit den Getränken fallen, als diese plötzlich vor ihr stand.
„Lydia!“, entfuhr es ihr.
Lydia sah sie schweigend an, dann sagte sie: „Ich wollte sehen, wie es dir geht. Ich dachte, du besuchst mich wenigstens einmal.“
„Ich hatte keine Zeit“, sagte sie schnippisch.
„Lisa, so kann es nicht weitergehen. Wir können über alles reden. Willst du nicht zurückkommen?“
„Nein! Wir haben uns nichts mehr zu sagen und hör verdammt noch mal auf, hinter mir her zu spionieren. Ich will dich nie nie wiedersehen!“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz herum und ließ Lydia stehen. Sie ging an einen Tisch, dessen Gäste nach ihr gerufen hatten, und schielte währenddessen in den Spiegel über dem Billardtisch. Lydia wirkte fassungslos. Wie in Trance drehte Lisa sich um. Sie wollte zu Lydia laufen und sich in ihre Arme werfen, sagen, dass sie es nicht so gemeint hatte. Aber in diesem Augenblick gab Lydia sich einen Ruck, wandte sich dem Ausgang zu und hielt dann plötzlich inne. Ihr Blick kreuzte sich mit Haralds, der die Szene beobachtet hatte. Dann verließ sie die Grotte. Lisa konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie knallte das Tablett auf den Tresen und verschwand auf die Toilette.

Einige Wochen später sieht Harald beim Betreten der „Grotte“ Lisa, die mit nackten Brüsten lasziv auf einem der Tische tanzt. Er geht hin, aber bevor er das Mädchen zur Vernunft bringen kann, schlägt ihn einer der Gäste zu Boden.

Als Lisa Geburtstag hat und in Andreas Wohnung feiert, bringt Lydia ihr unerwartet ein Geschenk vorbei. Dabei fällt Lydia eine junge bisexuelle Frau auf, die sie unverhohlen mit ihren Augen auszieht. Dass Maja Lisas neue Freundin ist, missfällt Lydia, aber sie kann nichts dagegen tun.

Vier Monate nach Lisas Auszug bei Lydia entdeckt sie durch Zufall, dass Lydia und Harald zusammen sind. Aufgebracht erinnert sie ihn an eine Party bei Andrea. Alle hätten das Gestöhne von ihm und Maja aus einem Nebenzimmer gehört, sagt sie und droht damit, Lydia davon zu erzählen. Für ihr Schweigen verlangt sie, dass er Lydia dazu bringt, sie wieder aufzunehmen.

Als Lisa die beiden beim Sex hört, reißt sie die Schlafzimmertüre auf und schlägt einen flotten Dreier vor. Harald ohrfeigt sie. Da verrät sie Lydia im Zorn, dass Harald es mit Maja trieb. Obwohl Harald beteuert, er sei betrunken gewesen, beendet Lydia enttäuscht die Beziehung mit ihm.

Kurz darauf wird Lisa nach einem gescheiterten Suizid-Versuch in eine geschlossene psychiatrische Anstalt gebracht.

Lydia, die am Suizid ihrer Freundin Mara mitschuldig fühlt, weil sie deren Wunsch, mit ihr zu schlafen, nicht erfüllt hatte, war zuletzt doch mit Lisa ins Bett gegangen und ist nun verzweifelt, weil sie die Jugendliche trotzdem nicht vom Selbstmordversuch abhalten konnte.

Als Harald, der seine Anstellung in der Tierarztpraxis kündigte, von einer mehrwöchigen Reise zurückkommt, findet er einen Brief von Lydia vor, in dem sie ihm von Lisas Selbstmordversuch berichtet. Die behandelnde Ärztin habe sie über Lisa befragt, komme aber nach wie vor nicht an die Patientin heran und erhoffe sich von ihm Informationen über Lisa, die ihr einen Zugang ermöglichen könnten. Er solle sich mit der Ärztin in Verbindung setzen.

Harald zögert seinen Besuch in der Klinik hinaus, und als er endlich dort ist, trinkt er erst noch in der Cafeteria einen Kaffee, statt gleich nach der psychiatrischen Abteilung zu fragen. Dabei fällt ihm eine schöne Frau auf, die von einer Kollegin mit „Angelika“ angesprochen wird. Er spricht sie an, kommt mit ihr ins Gespräch und lädt sie zum Essen ein. Danach nimmt sie ihn mit nach Hause und schläft mit ihm. Damit beginnt eine leidenschaftliche Beziehung.

Dass Angelika Ärztin ist, weiß Harald bereits. Nun erfährt er, dass sie geschieden ist und zwei Kinder hat: Kai und Svenja, 20-jährige Zwillinge, die in Marburg Theaterwissenschaft bzw. Medizin studieren.

Weil Lisa sich weiterhin jedem Gespräch mit der behandelnden Ärztin verweigert, erkundigt die Neurologin und Psychiaterin Dr. Angelika Dunkelmann sich noch einmal bei Lydia nach dem Mann, der ihr vielleicht etwas über Lisa sagen kann, das ihr einen Zugang zur Patientin verschaffen würde. Als Lydia den Namen nennt, stutzt die Ärztin: Harald Wiebke. Ihr Liebhaber!

Am Abend klärt sie ihn darüber auf, dass sie Lisas behandelnde Ärztin ist. In dieser Konstellation lässt sich die Liebesbeziehung nicht einfach fortsetzen.

Harald besucht Lisa von nun an täglich, und sie freut sich sehr darüber.

Als Harald wieder einmal bei Angelika klingelt, sind der Gynäkologe Holger Rembrandt und dessen geschiedene, eng mit Angelika befreundete Ehefrau Katja bei ihr. Holger und Angelika trainieren für ein Tanzturnier, bei dem die Ärztin für Holgers schwangere Lebensgefährtin und Tanzpartnerin Gesine einspringen wird.

Auf der Geburtstagsparty, zu der Katja Rembrandt Harald eingeladen hat, lernt er den 72-jährigen Maler und Bildhauer Herbert Fließ kennen. Der erzählt ihm, dass er seit 30 Jahren mit Angelika befreundet sei. Bei ihrer ersten Begegnung war Angelika erst 16. Ein väterlicher Freund also, denkt Harald.

Nachdem mehrere Versuche, die Liebesbeziehung mit Angelika fortzusetzen, gescheitert sind, schließt Harald sich einer Gruppe von Ornithologen an, die für sechs Wochen nach Norwegen reist. Lisa tobt, denn sie fühlt sich im Stich gelassen.

Allmählich öffnet Lisa sich in den Gesprächen mit der Patientin, mit der sie das Zimmer teilt und schließlich auch in den Therapiesitzungen mit Angelika Dunkelmann. Sie verliebt sich in die Ärztin, die ihr jedoch zu erklären versucht, dass es zwischen Therapeutin und Patientin keine privaten Kontakte geben dürfe.

Nach seiner Rückkehr aus Norwegen wird Harald von Herbert Fließ eingeladen. Dabei entdeckt er Aktgemälde von Angelika. Weil er daraus schließt, dass der Künstler für Angelika mehr als ein väterlicher Freund war, rastet er aus.

Hilfe sucht er bei der Psychoanalytikerin Dr. Sieglinde Donner in Hannover. Es dauert nicht lang, bis er glaubt, er habe sich in die Therapeutin verliebt. Weil sie jedoch Distanz zu ihm wahrt, versucht er sie durch sexuelle Angebote und Fantasien zu provozieren. Auch das gelingt ihm nicht.

In einer der Sitzungen erinnert Harald sich daran, wie er als Zehnjähriger bei seiner Mutter im Bett lag und mit ihr kuschelte. Plötzlich stand sein Vater im Schlafzimmer, zerrte ihn aus dem Bett, beschimpfte ihn als Schwein, warf ihm vor, an der Mutter herumgefummelt zu haben und schlug ihn blutig, während die Mutter nichts dagegen unternahm. Nie habe ihn die Mutter gegen den cholerischen und gewalttätigen Vater verteidigt, klagt Harald. Wenn ihr danach war, animierte sie ihn zu Zärtlichkeiten, aber wenn er von sich aus ihre Nähe spüren wollte, wies sie ihn zurück. Er habe Liebe als etwas Unbeständiges erfahren, erklärt Dr. Donner.

Einige Monate später hält Angelika Lisa für so weit gefestigt, dass sie die Klinik verlassen kann. Aber sie rät Lydia davon ab, die junge Frau wieder bei sich aufzunehmen. Stattdessen soll Lisa in einem Internat mit psychologischer Betreuung ihr Abitur nachholen. Die Ärztin hat Lisa auch bereits geholfen, einen Antrag auf Waisenrente zu stellen.

„Lisa, nun ist die Zeit des Abschieds gekommen. Wie fühlst du dich?“
Lisa, die vor Frau Dr. Dunkelmann saß, war blass. „Ganz gut, danke.“ Sie senkte den Kopf. „Ich habe natürlich Angst.“
„Das ist verständlich. Für dich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt. Alles wird neu, alles ganz anders sein. Hast du dir schon Gedanken gemacht, ob und was du nach dem Abitur studieren möchtest?“
„Ich möchte Kunst studieren.“
„Das hört sich doch gut an.“
Beide schwiegen.
„Werde ich Sie wiedersehen?“
„Nein, Lisa. Unsere Beziehung endet, sobald du die Klinik verlassen hast. Dann darf zum Schutz des Patienten zwei Jahre lang keine private Begegnung stattfinden, und danach hat der Patient meistens kein Bedürfnis mehr nach Kontakt.“
Lisas Augen wurden feucht. „Ich werde immer das Bedürfnis haben, Sie zu sehen.“
„Das denkt man beim Abschied immer, aber das wird sich verlieren. […]“

Harald, der seit einiger Zeit einen anderen Tierpfleger vertritt, freundete sich mit Angelikas Sohn Kai an, während er mit ihr zusammen war. Als er bei dem Studenten in Marburg übers Wochenende zu Besuch ist, steht plötzlich Angelika vor ihm. Kai hat sie beide eingeladen, um sie wieder zusammenzubringen.

Neuneinhalb Jahre später, im Mai 1998, fährt Lydia Kaufmann nach Köln, besucht eine Galerie, in der Lisa Stralsunds Gemälde ausgestellt sind und verabredet sich mit der Künstlerin.

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Im Mittelpunkt des Romans „verwundet“ von Constanze Kühn stehen zwei verzweifelte Menschen, die sich nach Liebe sehnen. Der 37-jährige arbeitslose Tierpfleger Harald Wiebke hält Liebe aufgrund traumatischer Kindheitserlebnisse für etwas Unbeständiges, und als die Psychiaterin Angelika Dunkelmann sich auf eine Liebesbeziehung mit ihm einlässt, dauert es nicht lang, bis er diese durch sein Verhalten ungewollt torpediert. Selbstzerstörerisch verhält sich auch die 18-jährige Lisa Stralsund, der zugleich die Irrungen und Wirrungen ihrer Adoleszenz und ihrer sexuellen Orientierung zu schaffen machen. Für beide Protagonisten geht es darum, die destruktiven Mechanismen unter Kontrolle zu bekommen, indem sie sich der psychischen Verwundungen und deren Auswirkungen bewusst werden.

Obwohl frustrierende und schmerzliche Erlebnisse überwiegen, klingt „verwundet“ hoffnungsvoll aus. Weil es an erfreulichen oder gar glücklichen Momenten fehlt, ist die Lektüre bis zum Ende bedrückend. Ein stärkerer Wechsel zwischen Höhen und Tiefen hätte dem Roman gut getan.

Constanze Kühn entwickelt die konfliktreiche Geschichte vorwiegend aus Haralds Blickwinkel. Auch wenn sie diese eingeschränkte und subjektive Perspektive als auktoriale Erzählerin durchbricht, erläutert sie das Geschehen nicht, sondern löst es in prägnante Szenen und Dialoge auf. Mit großem Ernst und sehr viel Empathie verfolgt sie die psychischen Vorgänge. Dabei lässt sie sich Zeit und bleibt nicht an der Oberfläche, sondern beschäftigt sich eingehend mit Ursachen und Wirkungen. Ohne Effekthascherei, ruhig und unaufgeregt geht sie den Veränderungen in „verwundet“ nach. Ihre eigene Klugheit und Bildung kommt Constanze Kühn dabei zugute.

Sprachlich hätte sich das eine oder andere noch feinpolieren lassen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Constanze Kühn

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