Colum McCann : Der Tänzer

Der Tänzer
Originalausgabe: Dancer Henry Holt, New York 2003 Der Tänzer Übersetzung: Dirk van Gunsteren Rowohlt Verlag, Reinbek 2003 ISBN 3-498-04476-1, 474 Seiten gebundene Sonderausgabe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2005 ISBN 3-499-24170-6, 474 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Rudolf Nurejew wird 1938 im sibirischen Ufa geboren. Während des Krieges führt er zusammen mit anderen Kindern in einem Lazarett Volkstänze auf. Die frühere Ballett-Tänzerin Anna Wasilewna erkennt seine außergewöhnliche Begabung und wird seine erste Ballett-Lehrerin. Mit 17 reist er nach Leningrad und vollendet dort seine Ausbildung. Von einem Gastspiel in Paris kehrt er 1961 nicht mehr nach Russland zurück, sondern bleibt im Westen, wo er glaubt, seine Homosexualität hemmungslos ausleben zu können ...
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Kritik

"Der Tänzer" ist keine Biografie über Rudolf Nurejew (1938 – 1993), sondern ein Roman. Colum McCann versucht, sich dem legendären Ballett-Tänzer nicht in Form eines psychologischen Porträts zu nähern, sondern mit einem polyphonen, multiperspektivischen Ansatz.
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Rudolf Hametowitsch Nurejew wird 1938 geboren. Er wächst mit seiner älteren Schwester Tamara bei seiner Mutter Farida Nurejewa im sibirischen Ufa auf. Sein Vater Hamet kämpft von 1941 bis 1945 gegen die Deutschen und dient anschließend noch eineinhalb Jahre als Besatzungsoffizier in Deutschland. Rudi ist acht Jahre alt, als der Vater zur Familie zurückkehrt und eine Stelle als Flößer bekommt. Die Mutter arbeitet in der Abfüllanlage einer Molkerei.

Rudi, der kleiner und mädchenhafter als seine Klassenkameraden war und deshalb viel gehänselt wurde, hatte während des Zweiten Weltkriegs zusammen mit anderen Kindern jede Woche in einem Lazarett Volkstänze vorgeführt, um die Verwundeten auf andere Gedanken zu bringen, und war dafür hin und wieder mit einem Zuckerstückchen belohnt worden. Die frühere Ballett-Tänzerin Anna Wasilewna erkennt die außergewöhnliche Begabung des Jungen und wird seine erste Ballett-Lehrerin. Mit vierzehn schickt sie Rudi zum Unterricht für Fortgeschrittene. Hamet Nurejew ist zunächst dagegen, dass sein einziger Sohn Ballett-Tänzer wird, aber er gibt nach und opfert am Ende das Geld, das er für eine Schrotflinte gespart hat, damit der Siebzehnjährige Anfang 1956 nach Leningrad fahren und sich dort an der Ballettschule bewerben kann.

In Leningrad wird Rudi fürs Erste von Annas Tochter aufgenommen. Julia wuchs bei ihren Großeltern mütterlicherseits in Leningrad auf, weil ihr Vater Sergej Wasilew aus politischen Gründen nach Ufa verbannt worden war und ihre Mutter bei ihm bleiben wollte. Julia hat ihre Eltern nur selten gesehen, denn Ufa ist eine verbotene Stadt, für die man kaum ein Visum bekommt. Die jetzt einunddreißigjährige Übersetzerin ist mit einem Physiker namens Josif verheiratet, hat zwei Fehlgeburten hinter sich und sehnt sich vergeblich nach einem Kind.

Dank seiner Begabung, aber auch seines Mundwerks wird Rudolf Nurejew von der Ballettschule in Leningrad aufgenommen und im dazugehörigen Wohnheim untergebracht. Obwohl er nicht bereit ist, sich in irgendeiner Weise anzupassen, nimmt ihn der berühmte Ballett-Lehrer Alexander Puschkin in seine besondere Obhut. Das hindert Nurejew nicht daran, vorübergehend eine Affäre mit dessen Ehefrau Xenia zu haben.

Nurejew befreundet sich mit der chilenischen Tanzschülerin RosaMaria, deren Vater Redakteur einer Untergrundzeitung in Santiago ist. 1959 reist RosaMaria nach Chile zurück. Die Nacht davor verbringt sie mit Nurejew. Zunächst drängt er sie, mit ihm zu schlafen, aber dann liegen sie nur nackt nebeneinander im Bett. (RosaMaria heiratet in Chile einen jungen kommunistischen Journalisten, der einige Zeit später bei einem Autounfall ums Leben kommt. Sechs Jahre lang tanzt sie, dann machen die Fußknöchel nicht mehr mit.)

Julia gelingt es, für ihre Eltern ein Visum für einen drei Monate langen Aufenthalt in Leningrad zu bekommen. Vier Wochen nach der Ankunft in Leningrad stirbt ihre Mutter an einer Hirnblutung, und ihr Vater kehrt daraufhin allein nach Ufa zurück. (Dort lebt er noch ein paar Jahre.)

Als Rudolf Nurejew von einem Gastspiel in Paris 1961 nicht nach Russland zurückkehrt, sondern im Westen bleibt, wird er in Abwesenheit zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Tamara, die in Moskau Lehrerin geworden ist, bleibt nichts anderes übrig, als sich anstelle ihres Bruders um die Eltern in Ufa zu kümmern, zumal die Familie mit Repressalien rechnen muss. 1964 stirbt Hamet Nurejew, ohne seinen Sohn wiedergesehen zu haben.

Rudolf Nurejew bekommt anonyme Morddrohungen in aus einer kommunistischen Parteizeitung ausgeschnittenen Buchstaben.

Die neunzehn Jahre ältere Ballett-Tänzerin Margot Fonteyn holt Nurejew nach London und verschafft ihm ein Engagement beim königlichen Ballett. An ihrer Seite entwickelt er sich zu einem der besten Tänzer der Welt. 1964 wird Margot Fonteyns aus Panama stammender Ehemann Roberto de Arias („Tito“) durch Schüsse so schwer verletzt, dass er querschnittgelähmt bleibt und nicht mehr sprechen kann. Um die Krankenhausrechnungen bezahlen zu können, muss die Fünfundvierzigjährige, die sich eigentlich schon von der Bühne verabschieden wollte, weiter tanzen.

Nurejew verkehrt mit den Größen des internationalen Showgeschäftes. Seine Manieren bleiben jedoch rüpelhaft.

Die Stewardess schien wenig begeistert, als sie mir sagte, ich solle die Füße vom Sitz nehmen, und ich erwiderte, dies sei doch die erste Klasse, ob sie meinen Fuß vielleicht woandershin haben wolle – zum Beispiel in ihren fetten deutschen Arsch. (Seite 273)

Gillian [Nurejews Managerin] sagt, dass sich mein Gebrauch schmutziger Wörter im Englischen, Französischen, Tatarischen, Russischen, Deutschen usw. zu einem regelrechten Virus entwickelt hat. (Seite 285)

Erik [Nurejews Geliebter] beschwert sich, dass ich mit jedem Tag mehr Scheiße rede. (Seite 298)

Im Westen, glaubt Nurejew, brauche er sich keine Schranken wie in seiner Heimat aufzuerlegen, sondern hier könne er seine Homosexualität hemmungslos ausleben.

Den ganzen Tag hatte ich gevögelt, geprobt, wieder gevögelt, dann war ich aufgetreten und hatte wieder gevögelt. (Seite 294)

Gillian fragte mich, wie ich nach dem Vögeln tanzen könne, und die einzige Antwort, die ich darauf wusste, war, dass ich ohne Vögeln überhaupt nicht tanzen könne. (Seite 301)

Ich sagte ihr [Margot Fonteyn], dass mir die unzähligen kleinen Teufel (Sex, Geld, Begehren) nichts bedeuten im Vergleich zu dem Engel des Tanzes. (Seite 303)

1975 lernt Nurejew bei einer Party in New York den Venezolaner Victor Pareci kennen, der wie er von ganz unten kommt, ebenso lebensgierig ist und offen Kokain schnupft. Zunächst fühlen sie sich wegen ihrer Ähnlichkeit gegenseitig abgestoßen, aber dann befreunden sie sich. Gemeinsam stürzen Rudolf Nurejew und Victor Pareci sich ins Nachtleben von New York.

[…] und alles fickt, überall Fleischsandwiches: sie ficken in den Zimmern und am Springbrunnen, unter der Dusche und in der Sauna, im Heizungsraum und in der Besenkammer, auf dem Klo und in der Badewanne, Faustficken, Zehenficken, Fingerficken, Rudelficken, ganz zu schweigen von Arschlecken – es ist ein regelrechtes Fickfest […] eine gewaltige Flutwelle aus rücksichtslosem, gnadenlosem Geficke […] (Seite 345ff)

Jeder kennt inzwischen Geschichten über Nurejew, von denen allerdings die meisten erfunden sind.

[…] der Abend, an dem Rudi sich nackt an einen Kronleuchter im Wert von einer Million Dollar gehängt hat, die Party, auf der Rudi sich mit Warhols Rasierapparat die Genitalien rasiert hat – Warhol hat ihn später meistbietend versteigert –, der Tag, an dem Rudi für seine Freunde gekocht und ein bisschen Sperma in die Sauce hollandaise gegeben hat, angeblich ein russisches Rezept, oder die Galerie-Eröffnung, nach der Rudi mit drei Jungen in einer mit Murmeln und Hautlotion gefüllten Badewanne gevögelt hat […] (Seite 323)

Seine Schuhe lässt Nurejew nur von Tom Ashworth machen. Der fliegt eigens von London nach Paris, um Nurejews Schuhe zu reparieren. Dabei lernt er das nicht mehr ganz junge Hausmädchen Odile des Tänzers kennen, und die beiden heiraten in den Achtzigerjahren.

Obwohl Odile inzwischen mit ihrem Mann in London wohnt, begleitet sie Nurejew 1984 auf einer Reise nach Caracas, wo er Victor Pareci besucht, der inzwischen ziemlich heruntergekommen ist und wohl nicht mehr lang leben wird. (Es wird nicht explizit angesprochen, aber er ist wohl an Aids erkrankt.)

Im November 1987 erhält Nurejew von der Sowjetunion durch die Fürsprache von Raissa Gorbatschowa ein Visum für achtundvierzig Stunden. Das Gerichtsurteil gegen ihn wurde zwar inzwischen aufgehoben, aber es besteht trotzdem das Risiko, dass man ihn verhaftet. Nurejew will jedoch unbedingt noch einmal seine Mutter sehen. In Begleitung seines Leibwächters und Masseurs Emilio fliegt er nach Ufa, besucht seine Schwester Tamara, seine Nichte Nurija und sieht zum ersten Mal seinen Schwager Ilja. Dass ihn seine bettlägerige alte Mutter nicht mehr erkennt, macht ihm schwer zu schaffen. Auf dem Rückweg nutzt er einen Zwischenaufenthalt in Leningrad, um unangemeldet bei Julia vorbeizuschauen.

Sie ist jetzt zweiundsechzig. 1963 hatte sie sich von ihrem Mann scheiden lassen. Mit Hilfe einer verständnisvollen Beamtin namens Olga Wetscheslowa war es ihr 1976 gelungen, den sechsjährigen Nikolai („Kolja“) aus dem Waisenhaus zu holen. Sie durfte ihn zwar nicht adoptieren, erhielt aber die Vormundschaft für ihn und zog ihn wie eigenes Kind auf. Jetzt ist er siebzehn – so alt wie Nurejew bei seiner Ankunft in Leningrad gewesen war.

1991 wird Odile – sie ist inzwischen sechzig – von Tom verlassen. Verzweifelt lässt sie sich im Taxi nach Brighton fahren, wo Nurejew am übernächsten Abend auftreten wird. Als sie nach zwei Tagen zurückkommt, ist Tom wieder da.

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„Der Tänzer“ ist keine Biografie über Rudolf Nurejew (1938 – 1993), sondern ein Roman, und Colum McCann betont ausdrücklich, dass fast alle Figuren frei erfunden sind. Dennoch hat der irische Schriftsteller versucht, sich dem legendären Ballett-Tänzer zu nähern, allerdings nicht in Form eines psychologischen Porträts, sondern mit einem polyphonen, multiperspektivischen Ansatz. „Der Tänzer“ ist eine Collage aus fiktiven Tagebuchaufzeichnungen und vielen kurzen Erzählungen von und über Figuren, die Nurejews Lebensweg kreuzen. Auf diese Weise entsteht ein facettenreiches Bild nicht nur von Rudolf Nurejew, sondern auch von Weggefährten und sowohl von der russischen Gesellschaft als auch vom westlichen Jet Set. Die meisten Abschnitte sind in der Ich-Form verfasst; man weiß also zu Beginn erst einmal nicht, wer gerade spricht bzw. schreibt, aber zumeist dauert es nicht lang, bis es klar wird. Außer Rudolf Nurejew treten beispielsweise auf: seine Eltern Hamet und Farida, seine erste Ballett-Lehrerin Anna und ihr Mann Sergej Wasilew, deren Tochter Julia, Nurejews Partnerin Margot Fonteyn, deren Ehemann Roberto de Arias („Tito“), sein Freund Victor Pareci, sein Geliebter Erik Bruhn, sein Hausmädchen Odile und sein Schuhmacher Tom Ashworth. Mit Ausnahme der letzten beiden Kapitel verläuft die Darstellung chronologisch.

Hier ist eine Übersicht über die Kapitel in „Der Tänzer“:

  • Sowjetunion, 1941 – 1956
  • Leningrad, Ufa, 1956 – 1961
  • London, 1961
  • Ufa, Leningrad, 1961 – 1964
  • London, 1961 – 1971
  • New York, 1975
  • Leningrad, 1975 – 1976
  • Paris, London, Caracas, Achtzigerjahre
  • London, Brighton, 1991
  • Ufa, Leningrad, 1987

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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