Val McDermid : Nacht unter Tag

Nacht unter Tag
Originalausgabe: A Darker Domain HarperCollins, London 2008 Nacht unter Tag Übersetzung: Doris Styron Droemer Verlag, München 2009 ISBN: 978-3-426-19844-5, 540 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Misha Gibson meldet ihren Vater als vermisst. Der frühere Bergarbeiter sei vor 22 Jahren verschwunden, erklärt sie. Jetzt suche sie ihn, weil sie von ihm eine Knochenmarkspende für ihren schwer erkrankten Sohn Luke benötige. – Am Tag darauf zeigt eine Reporterin dem schottischen Industriellen Sir Broderick Maclennan Grant ein von seiner Tochter Cat entworfenes Theaterplakat, das sie in einem leer stehenden Bauernhaus in der Toskana fand. Cat starb bei einer Erpressung, aber vielleicht führt das Plakat zu ihrem verschleppten Sohn ...
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Kritik

Ruhig, unaufgeregt und ohne Effekthascherei erzählt Val McDermid in dem Kriminalroman "Nacht unter Tag" eine spannende Geschichte. Souverän entwickelt sie das Geschehen parallel auf zwei Zeitebenen und an verschiedenen Schauplätzen.
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Dave Cruickshank setzte sein gewohntes professionelles Lächeln auf. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
Die Frau schob den Kopf leicht zurücK, als wolle sie sich verteidigen. „Ich möchte jemanden als vermisst melden.“
Dave versuchte, sich seine Müdigkeit und Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Wenn nicht bitterböse Nachbarn, dann waren es sogenannte Vermisste. Die Frau war für ein verschwundenes Kleinkind zu gelassen und für einen weggelaufenen Teenager zu jung. Bestimmt ging es um einen Streit mit ihrem Freund, oder um einen senilen Opa, der ausgebrochen war. Also eine verflixte Zeitverschwendung – wie üblich. Er zog einen Block mit Formularen über den Schaltertisch zu sich heran, bis er akkurat und gerade vor ihm lag, und griff nach einem Füller. Aber er nahm dessen Kappe noch nicht ab. Es gab eine Schlüsselfrage, die beantwortet werden musste, bevor er Einzelheiten notieren würde. „Und wie lange ist diese Person schon verschwunden?“
„Zweiundzwanzig Jahre und sechs Monate. Genau genommen seit Freitag, dem vierzehnten Dezember 1984.“ Sie streckte das Kinn vor, und Entrüstung verdüsterte ihre Gesichtszüge. „Ist das lang genug, um es ernst nehmen zu können?“ (Seite 8f)

Am 27. Juni 2007 nimmt der Polizist Dave Cruickshank in Glenrothes in der schottischen Region Fife eine seltsame Vermisstenanzeige entgegen: Die achtundzwanzigjährige Michelle („Misha“) Gibson, geborene Prentice, aus Marchmont meldet, dass ihr Vater Michael („Mick“) James Prentice seit dem 14. Dezember 1984 verschwunden sei, also seit mehr als zweiundzwanzig Jahren. Detective Inspector Karen Pirie spricht mit Misha und erfährt, dass deren Sohn Luke wegen einer Fanconi-Anämie im Royal Hospital for Sick Children in Edinburgh liegt und ohne eine Knochenmarktransplantation nicht mehr lang leben wird. Weil die Ärzte glauben, dass es sich bei Lukes Großvater um einen geeigneten Spender handeln könnte, sucht Misha nun verzweifelt nach ihm.

Karen fährt mit Detective Constable Jason („Minzdrop“) Murray zu Mishas Mutter Jenny Prentice in Newton of Wemyss und lässt sich erzählen, wie ihr Ehemann verschwand. Während des Bergarbeiterstreiks 1984 verließ Mick am 14. Dezember das Haus, und weil er nicht wiederkam, erkundigte sich Jenny am nächsten Tag beim Wohlfahrtszentrum der Bergarbeiter nach ihm. Die Gewerkschafter erzählten ihr, eine Gruppe von Streikbrechern habe sich am Vortag auf den Weg nach Nottingham gemacht, und ihr Mann sei wohl einer von ihnen. Als Ehefrau eines mutmaßlichen Streikbrechers wurde Jenny in dem Bergarbeiterort von da an gemieden. Das verzieh Jenny ihrem Mann nicht. Sie trauerte ihm auch nicht nach, denn die Ehe war ohnehin in einer Krise gewesen. Im Mai 1985 zog der Steiger Tom Campbell, dessen zwei Jahre zuvor an Krebs gestorbene Frau Moira eng mit Jenny befreundet gewesen war, zu ihr und Misha ins Haus. Mitte der Neunzigerjahre erlag Tom einem Herzinfarkt.

Am 28. Juni 2007 verlangt die Journalistin Annabel („Bel“) Richmond auf Rotheswell Castle Sir Broderick („Brodie“) Maclennan Grant zu sprechen, einen der reichsten Männer Schottlands. Der Zweiundsiebzigjährige hat sich mit seiner halb so alten zweiten Ehefrau Judith und dem fünf oder sechs Jahre alten Sohn Alec auf Rotheswell Castle verschanzt. Mary, seine erste Ehefrau, hatte sich am 23. Januar 1987 mit einer Überdosis Tabletten das Leben genommen. Seine Assistentin Susan Charleson erklärt Bel, Sir Broderick gebe grundsätzlich keine Interviews, aber die junge, ehrgeizige Sensationsreporterin will ihm etwas zeigen: Sie fand während eines Urlaub in der Toskana in einem leer stehenden Bauernhaus bei Boscolata einen großen Blutfleck auf dem Boden und ein Theaterplakat mit der Signatur „Catriona Grant“. Als Journalistin weiß sie, dass Catriona („Cat“) Maclennan Grant 1985 einem Verbrechen zum Opfer fiel. Kidnapper entführten die Künstlerin und ihren sechs Monate alten Sohn Adam. Die Erpresser verwendeten exakt dieses Theaterplakat für ihre Nachrichten. Bel nutzt die Gelegenheit, um von Grant empfangen zu werden und hofft auf einen Scoop.

Nachdem Grant das Plakat gesehen hat, ruft er Chief Assistant Chief Constable Simon Lees in Glenrothes an und fordert ihn auf, am nächsten Morgen um 10 Uhr Detective Inspector Karen Pirie zu ihm zu schicken.

Karen wundert sich, dass auch eine Journalistin anwesend ist, als sie nach Rotheswell Castle kommt. Grant übergibt ihr das Plakat, erklärt ihr, wo Bel es fand und erwartet von ihr, der Sache nachzugehen, um vielleicht doch noch seinen seit der missglückten Geldübergabe spurlos verschwundenen Enkel Adam aufzuspüren.

Zur gleichen Zeit machen die Polizeibeamten Mark Hall und Femi Otitoju in Nottingham für Karen die Streikbrecher ausfindig, die Newton of Wemyss am 14. Dezember 1984 verlassen hatten. Stuart McAdam starb 2005 an Lungenkrebs; die anderen leben noch. William („Billy“) John Fraser und Johnny Ferguson sagen, sie hätten Mick nicht einmal dann mitgenommen, wenn er es gewollt hätte, denn er sei ein linientreuer Gewerkschafter gewesen. Logan Laidlaw bestätigt das. Iain Maclean war mit Mick befreundet. Er erzählt, er habe sich den Streikbrechern angeschlossen, weil seine Frau damals mit dem dritten Kind schwanger war. Mick verstand seine Beweggründe, wollte jedoch nicht mitmachen. Maclean nahm an, dass Mick und der mit ihm eng befreundete Kommunist und Gewerkschaftsfunktionär Andy Kerr nach Polen gezogen seien, um dort neue Arbeit zu finden.

Andy verschwand nämlich zur gleichen Zeit wie Mick. Es wird vermutet, dass er Selbstmord beging, aber seine Leiche wurde nicht gefunden. Nachdem die Eltern am 6. März 1987 beim Untergang der Fähre „Herald of Free Enterprise“ vor Zeebrügge ums Leben gekommen waren, ließ seine Schwester Angie Kerr ihn für tot erklären. 1993 bekam sie den Erbschein und zog nach Neuseeland. Die Klavierlehrerin heißt inzwischen Mackenzie.

Iain Maclean erzählt Hall und Otitoju auch, Mick habe am 29. November 1984 beobachtet, dass Ben Reekie, der Gewerkschaftsekretär der Ortsgruppe, eine eingegangene Spende für die Familien der Streikenden weder in den Safe legte noch in den Büchern verzeichnete, das Geld also unterschlug. Darüber sei Mick entsetzt gewesen.

Wurde Mick vielleicht von Ben Reekie ermordet, damit er nichts verraten konnte? Karen und der mit ihr eng befreundete vierunddreißigjährige Detective Sergeant Phil Parhatka lassen sich am 30. Juni von Arnold Haigh, dem Schriftführer des Vereins zur Erhaltung der Höhlen von Wemyss, durch Court Cave, Doo Cave und Thane’s Cave führen, denn sie halten es für möglich, dass Micks Leiche in einer der Höhlen versteckt wurde. Der Verdacht erhärtet sich, als sie vor einem Einsturz stehen und hören, dass sich dieser zwischen dem 7. Dezember 1984 und dem 24. Januar 1985 ereignete. Karen bittet deshalb die mit ihr befreundete forensische Anthropologin Dr. River Wilde, sich Thane’s Cave mit ihren Studenten genauer anzusehen.

Um River Wildes Rechnung bezahlen zu können, obwohl Simon Lees nichts von ihren Nachforschungen über den Verbleib von Mick Prentice wissen darf, weil er davon ausgeht, dass seine Mitarbeiterin ihre ganze Kraft in den Dienst von Sir Broderick stellt, behauptet Karen, der Einsturz sei wahrscheinlich am 24. Januar 1985 erfolgt, einen Tag nach der Erschießung Cats. Möglicherweise hätten die Entführer die Höhle als Versteck benutzt.

Bel fliegt in Grants Auftrag noch einmal in die Toskana, um weitere Erkundigungen über die Bewohner des halb verfallenen Bauernhauses einzuholen. Es gehörte einem Mann namens Paolo Totti. Der starb vor zehn oder zwölf Jahren. Aufgrund von Erbstreitigkeiten steht das Haus seither leer. Hin und wieder nisten sich dort vorübergehend Leute ein, zuletzt eine Gruppe von Puppenspielern, die sich „BurEst“ (Burattinaio Estemporaneo) nennt: Matthias, Dieter, Maria, Rado, Sylvia, Peter, Luka, Ursula und Max. Matthias ist über fünfzig Jahre alt und leitet die Gruppe, die anderen Mitglieder sind deutlich jünger. Bel erfährt auch von einem mit Matthias befreundeten britischen Maler. Ihre Gesprächspartnerinnen in Boscolata erinnern sich nicht mehr an den Namen des Künstlers, aber daran, dass er einen etwa zwanzigjährigen Sohn hat, der Gabriel („Gabe“) heißt. Sie zeigen Bel Fotos von einer Party, und der Reporterin fällt sofort die Ähnlichkeit zwischen Gabriel und Sir Broderick auf. Offenbar ist sie Grants Enkel auf der Spur. Ein italienischer Junge erzählt ihr, er habe gesehen, dass Matthias und Gabriel während einer Sondervorstellung von „BurEst“ in Grosseto am 26. April 2007 allein in der Villa Totti waren. Unmittelbar danach verließ die Theatergruppe fluchtartig die Gegend.

Karen besucht ihren früheren Vorgesetzten James („Jimmy“) Lawson, der aufgrund ihrer Ermittlungen wegen Mordes vor drei Jahren zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde, im Gefängnis. Er leitete 1985 im Fall der Erpressung die Polizeiarbeit. Obwohl Lawson auf die Frau, die ihn überführte, noch immer wütend ist, spricht er mit ihr über seine damalige Arbeit.

Als Drahtzieher der Erpressung verdächtigt er Fergus Sinclair, den Sohn von Willie Sinclair, des Verwalters von Rotheswell Castle. Cat und Fergus, die sich seit ihrer Kindheit kannten, hatten sehr zum Missfallen des hochnäsigen Industriellen eine Affäre. Nach ihrem Kunststudium richtete Cat sich mit Unterstützung ihrer Mutter Mary, aber gegen den erklärten Willen ihres Vaters in einem alten Pförtnerhaus in Newton of Wemyss ein Studio und eine Wohnung ein. Fergus half ihr bei der Einrichtung und hoffte, zu ihr ziehen zu können, aber Cat erklärte ihm, sie wolle allein leben und ihn weiterhin nur sporadisch sehen. Am 14. August 1983 schlief sie wieder mit ihm. Als sie neun Monate später ihren Sohn Adam bekam, erkannte sie Fergus nicht als Vater an. Fergus ging nach Salzburg und wurde Jagdaufseher. Später arbeitete er in Frankreich und in der Schweiz; seit vier Jahren lebt er wieder in Österreich. Für die Zeit, in der Grant erpresst wurde, habe Fergus Sinclair kein überprüfbares Alibi, berichtet Lawson. Angeblich war er an verschiedenen Orten beim Skifahren und schlief aus Kostengründen in seinem Landrover. Lawson spricht auch über die Geldübergabe am 23. Januar 1985 in Lady’s Rock, bei der es zu einem für Cat tödlichen Schusswechsel kam. In seinem Bericht darüber verschwieg Lawson, dass Grant eine Waffe bei sich hatte und abdrückte. Man wagte es nicht, den mächtigen Mann wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz anzuzeigen, zumal die Polizei den Tod seiner Tochter und die Verschleppung seines Enkels nicht hatte verhindern können.

River Wilde und ihre Leute stellen fest, dass der Einsturz an Thane’s Cave keine natürliche Ursache hatte, sondern durch eine Sprengung erfolgte. Nachdem sie das Geröll fortgeräumt und den Boden dahinter untersucht haben, stoßen sie am 2. Juli 2007 auf ein menschliches Skelett mit eingeschlagenem Schädel. Handelt es sich um die sterblichen Überreste von Mick Prentice? Eine DNA-Analyse soll darüber Aufschluss bringen.

Bel fährt am 3. Juli 2007 auf der Suche nach dem britischen Maler nach San Gimignano. Von einer Galeristin erfährt sie seinen Namen – Daniel Porteous –, aber auch, dass er im April an Schilddrüsenkrebs starb. Ihr Kollege Jonathan, den sie telefonisch bittet, Material über Daniel Porteous zu beschaffen, findet heraus, dass dieser 1959 im Alter von vier Jahren starb, aber im November 1984 die Geburt eines Sohnes eintragen ließ. Als Mutter des Kindes ließ er „Freda Callow“ eintragen, offenbar einen von der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo abgeleiteten Namen. In Siena beschafft Bel sich den Totenschein, demzufolge Daniel Porteous am 7. April 2007 im Alter von zweiundfünfzig Jahren in der Poliklinik Le Scotte in Siena starb. Dem Certificato di Residenza zufolge wohnte er zuletzt in Costalpino. Bel fährt hin, aber das Haus steht zum Verkauf, und die Maklerin, die im Auftrag des Erben tätig ist, kann ihr dessen Adresse nicht geben, denn die hat sie selbst nicht: Gabriel ruft sie jeden Montag an und erkundigt sich nach Interessenten.

Am 4. Juli berichtet die Journalistin ihrem Auftraggeber, was sie in der Toskana herausfand. Weil der Blutfleck in der Villa Totti darauf schließen lässt, dass Grants Enkel möglicherweise in ein Kapitalverbrechen verwickelt ist, will der Unternehmer der Polizei keine Informationen mehr zukommen lassen und einen Privatdetektiv mit weiteren Nachforschungen in der Toskana beauftragen.

Karen redet mit Effie Reekie in Coaltown of Wemyss. Deren Ehemann Ben starb vor fünf Jahren an Lungenkrebs. Widerstrebend gibt sie zu, dass er während des Bergarbeiterstreiks Spendengelder unterschlug, aber sie versichert Karen, er habe es nur getan, weil die Gewerkschaftsgelder beschlagnahmt wurden. Die Mittel, die er heimlich auf die Seite brachte, ließ er notleidenden Familien zukommen.

Überraschenderweise zeigt der Vergleich der in Thane’s Cave sichergestellten DNA mit der Mishas keine Übereinstimmung. Entweder handelt es sich nicht um Mick Prentices Skelett, oder er war nicht Mishas Vater, überlegt Karen. Jenny Prentice könnte ja schon früher ein Verhältnis mit Tom Campbell gehabt haben. Weil damals auch Andy Kerr verschwand, ruft die Polizistin Angie Mackenzie an. Die Klavierlehrerin hinterlegte vor ihrer Auswanderung nach Neuseeland eine DNA-Probe bei Rechtsanwalt Alexander Gibb in Kirkcaldy. Damit wollte sie sicherstellen, dass nach dem Auffinden einer Leiche, bei der es sich um die ihres Vaters handeln könnte, die Identität unverzüglich überprüft werden kann. Tatsächlich beweist die DNA-Analyse, dass der Tote in Thane’s Cave Angies Vater war.

Von Capitano di Stefano, einem Carabinieri in Siena, der die Ermittlungen wegen des Blutflecks in der in Villa Totti bei Boscolata leitet, erfährt Karen, dass Bel noch einmal in der Toskana war. Daraufhin beschwert sie sich bei Grant und setzt der Reporterin so lange zu, bis sie deren Aufzeichnungen lesen kann.

Bel erhält am 5. Juli 2007 einen Anruf des italienischen Jugendlichen, der ihr erzählte, Gabriel und Matthias seien zuletzt allein in der Villa Totti gewesen. Nun will er Gabriel in Siena entdeckt und ihm zu einer Hütte gefolgt sein. Für die Wegbeschreibung erwartet er 100 Euro. Nachdem die Journalistin die Information an Sir Roderick weitergegeben hat, schickt dieser sie mit seinem Privatjet erneut in die Toskana.

Bel spürt Adam Maclennan Grant alias Gabriel Porteous in der von dem Jungen beschriebenen Hütte in Celadoria bei Greve auf.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Adam hatte geglaubt, seine Mutter, eine Kunsterzieherin namens Catherine, sei bei seiner Geburt gestorben. Kurz vor seinem Tod wies ihn Daniel Porteous darauf hin, dass Matthias – der wie ein Onkel für Gabriel ist – einen Brief für ihn habe. Nach der Beerdigung am 26. April 2007 nahm Matthias ihn mit zur Villa Totti und übergab ihm ein dickes Kuvert. Weil der Rest der Gruppe in Grosseto war, konnte Gabriel ungestört lesen, was sein Vater geschrieben hatte. Dazu trank er mit Matthias Rotwein und rauchte Joints.

Sein Vater hieß nicht Daniel Porteous, sondern Mick Prentice und arbeitete bis zum Streik 1984 als Bergmann in Newton of Wemyss. Er besuchte einen Malkurs des Wohlfahrtsverbandes und malte mit Wasserfarben. Dabei lernte er Cat kennen. Sie war vierundzwanzig, er vier Jahre älter. Er besuchte die Künstlerin in ihrem Studio, und sie verliebten sich. Als er erfuhr, wer ihr Vater war, wusste er, dass dieser ihn niemals als Schwiegersohn akzeptieren würde, zum einen, weil er bereits verheiratet war und eine Tochter hatte, vor allem aber wegen seines Standes. Deshalb beschlossen Cat und er, fortzugehen und ein neues Leben miteinander zu beginnen. Aber dazu benötigten sie Geld. Die Ereignisse überschlugen sich, als Mick von seinem Freund Andy Kerr dabei ertappt wurde, wie er in der Nähe von Cats Studio Holz hackte. Andy begriff, dass Mick seine Ehefrau Jenny mit Cat betrog und beschimpfte ihn deshalb. Der Streit eskalierte in einem Gerangel. Plötzlich tauchte Cat auf und erschlug Andy von hinten mit einer Axt. Mick begrub die Leiche in Thane’s Cave und löste zwei Tage später eine Sprengung aus. Cat überredete ihren früheren Kommilitonen Toby Inglis, ihnen bei einer fingierten Entführung zu helfen. Als am 14. Dezember 1984 fünf Streikbrecher aus Newton of Wemyss weggingen, verließ Mick seine Frau und versteckte sich mit Cat und ihrem sechs Monate alten Sohn Adam in Andys abgelegenem Haus. Es sollte so aussehen, als sei er ebenfalls nach Nottingham gezogen. Am 19. Januar 1985 informierten sie Grant auf einem von seiner Tochter entworfenen Theaterplakat über die angebliche Entführung und unterzeichneten mit „Anarchistischer Kampfbund Schottlands“. Zwei Tage später nannten sie auf dem gleichen Weg die Einzelheiten ihrer Forderung: 200 000 Pfund in gebrauchten Scheinen, 800 000 Pfund in ungeschliffenen Diamanten. Bei der nächtlichen Geldübergabe am 23. Januar 1985 in Lady’s Rock ging dann alles schief: Überall hatten sich Polizisten versteckt. Sir Broderick und seine Frau Mary kamen mit dem Lösegeld. Es war nicht abgesprochen, dass Toby eine Pistole bei sich hatte. Statt Cat das Geld und die Diamanten zu übergeben, wollte Mary die Tasche nicht loslassen, und Cat zerrte daran. Grant verlor die Nerven und zog eine Waffe. Toby schaltete darauf den mitgebrachten Scheinwerfer aus. Während Schüsse fielen, riss Toby die Beute an sich und floh mit Mick zu einem bereitliegenden Boot, in dem auch das Kind lag. Cat blieb liegen; sie war tot.

Der Inhalt des Briefes verstörte Adam. Man hatte ihn die ganze Zeit über belogen. Er hätte als Sohn eines der reichsten Schotten aufwachsen können. Und Toby alias Matthias, der für ihn wie ein Onkel war, hatte wohl seine Mutter erschossen. Adam beabsichtigte, seinen Großvater aufzusuchen, aber Matthias wollte ihn davon abbringen, denn er fürchtete Sir Broderick. Dieser habe Cat versehentlich getötet, behauptete er, werde aber alles tun, um ihn als Mörder festnehmen zu lassen. Adam und Matthias steigerten sich immer stärker in einen Streit hinein – bis Adam das Messer nahm, mit dem Matthias einen Haschisch-Block zerteilt hatte, und ihn erstach. Kurz darauf kamen Max und Luka als erste aus Grosseto zurück und sahen Matthias in seinem Blut am Boden liegen. Unbemerkt schleppten sie die Leiche zu den Schweinen des Bauern Maurizio Rossi, die nichts davon übrigließen.

Nun befürchtet Adam, dass die Reporterin mit einem Sensationsartikel alles aufdecken könnte. Das muss er verhindern. Adam ersticht sie.

Der Carabiniere Nico Gallo, der die Villa Totti bewacht, sieht nachts, wie ein Auto bei Maurizio Rossis Schweinen hält. Jemand zerrt etwas aus dem Wagen, das wie eine Leiche aussieht. Gallo ruft. Der Mann springt erschrocken ins Auto und rast davon.

Ein Foto des Gesichts der entkleideten Toten, die Gallo vor den Schweinen Maurizio Rossis rettete, schickt Capitano di Stefano seiner schottischen Kollegin, und Karen erkennt Bel Richmond. Obwohl sie weiß, dass es sie ihre Stellung kosten kann, beschwert sie sich bei Sir Broderick Maclennan Grant über den erneuten Versuch, die Journalistin für Nachforschungen über seinen mutmaßlichen Enkel einzusetzen, statt sich an die Polizei zu wenden. Sie beschuldigt ihn, seine eigene Tochter versehentlich erschossen zu haben und weist ihn darauf hin, dass James Lawson bereit sei, dies vor Gericht zu bezeugen. Grant wirft sie hinaus.

Am 6. Juli 2007 taucht Adam Maclennan Grant im Rotheswell Castle auf. Sein Großvater erkundigt sich nach Matthias und möchte wissen, wie Bel starb. Adam behauptet, nicht zu wissen, was mit Matthias geschehen sei und äußert die Vermutung, dass Matthias‘ Mörder die Reporterin wegen ihrer Recherchen umgebracht habe. Grant durchschaut Adam, aber er ist entschlossen, seinen Enkel zu decken. Die beiden werden zu Komplizen.

Karen, die durch eine E-Mail von Susan Charleson erfahren hat, dass Adam wieder aufgetaucht ist, weist ihren Vorgesetzten darauf hin, dass Grants Enkel in zwei Morde verwickelt sein könnte. Ein italienischer Jugendlicher habe ihn als den Mann identifiziert, der zuletzt mit Matthias in der Villa Totti war. Außerdem entsprechen sich DNA-Spuren dort und an Bel Richmonds Leiche. Sie schlägt deshalb vor, eine DNA-Probe von Adam damit zu vergleichen.

Am 13. Juli wird sie erneut zu ihrem Vorgesetzten gerufen. Diesmal sitzt Grant neben Simon Lees.

Ohne auf eine Aufforderung zu warten, setzte sich Karen. „Sie wollten mich sprechen, Sir“, sagte sie und ignorierte Grant.
„Karen, Sir Broderick war so nett, uns die notariell beglaubigte Erklärung seines Enkels zu den Ereignissen in Italien zu bringen. Er dachte, und ich stimme ihm zu, dass dies die beste Vorgehensweise wäre.“ Er wedelte mit zwei Blättern Papier vor ihr herum.
Karen starrte ihn ungläubig an. „Sir, ein einfacher DNA-Test ist die Art und Weise, wie wir vorgehen sollten.“
Grant beugte sich vor. „Ich glaube, nach dem Lesen der Erklärung werden Sie feststellen, dass ein DNA-Test eine eindeutige Verschwendung von Zeit und Mitteln wäre. Es hat keinen Sinn, jemanden zu testen, der offenkundig ein Zeuge ist, kein Verdächtiger. Nach wem auch immer die italienische Polizei suchen mag, es ist nicht mein Enkel.“
[…] Lees wedelte mit den Papieren und reichte sie Karen. „Hier, Inspector. Schicken Sie dies an Ihren Kollegen in Italien, und dann können wir einen Schlussstrich unter unsere gelösten Fälle ziehen.“ (Seite 526f)

Kochend vor Wut verlässt Karen das Büro.

Sie gibt allerdings nicht auf. Mick Prentice war der Vater sowohl von Adam als auch von Misha, überlegt sie. Die DNA der beiden Halbgeschwister müsste also große Übereinstimmungen aufweisen. Sie bittet deshalb River Wilde, Mishas DNA-Probe nach Italien zu schicken, damit man sie dort mit den sichergestellten DNA-Spuren vergleichen kann. Zu ihrer Verblüffung teilt Capitano di Stefano ihr einige Zeit später mit, dass die Sequenzen nicht zusammenpassen.

Nach diesem Fehlschlag telefoniert Karen am 18. Juli mit Fergus Sinclair in Österreich und ersucht ihn, bei der Polizei eine DNA-Probe abzugeben. Diese wird nach Italien weitergeleitet. Diesmal meldet di Stefano eine weitgehende Übereinstimmung der Proben: Adam wurde also nicht von Mick Prentice, sondern von Fergus Sinclair gezeugt.

Mit diesem Ergebnis wird Karen eine richterliche Anordnung erwirken und Adam zwingen, eine DNA-Probe abzugeben. Und dann wird nicht einmal Sir Broderick verhindern können, dass sich sein Enkel wegen der beiden Morde in der Toskana verantworten muss.

Aber als Knochenmarkspender für Mishas Sohn Luke kommt Adam nicht in Betracht.

Zum Glück findet Misha eine andere Spenderin: Laurel, die sechzehnjährige Tochter der geschiedenen Ehefrau eines Cousins von Mishas Ehemann John.

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Ruhig, unaufgeregt und ohne Effekthascherei erzählt Val McDermid (* 1955) in dem Kriminalroman „Nacht unter Tag“ eine spannende Geschichte. Souverän entwickelt sie das Geschehen parallel auf zwei Zeitebenen und an verschiedenen Schauplätzen in Schottland und Italien. Zum einen geht es in „Nacht unter Tag“ um Ereignisse zwischen dem 13. Dezember 1978 und dem 23. Januar 1985 in Schottland, ein anderer Handlungsstrang spielt vom 26. April bis 5. Juli 2007 in der Toskana, und die polizeilichen Ermittlungen vom 27. Juni bis 18. Juli 2007 bilden die Gegenwart. Die einzelnen Kapitel sind kurz und enden häufig mit einem Cliffhanger; immer wieder springt Val McDermid zwischen den Zeit- und Handlungsebenen hin und her. Allmählich setzt sich daraus ein klares Bild zusammen. Dieser komplexe Aufbau ist überzeugend gelungen; er macht den Reiz des Romans „Nacht unter Tag“ aus.

Den Roman „Nacht unter Tag“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Andrea Sawatzki (Regie: Vera Teichmann, Argon Verlag, Berlin 2009, 6 CDs, ISBN: 978-3-86610-637-6).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Droemer

Val McDermid: Ein Ort für die Ewigkeit (Verfilmung)
Val McDermid: Das Moor des Vergessens

Jon McGregor - So oder so
Jon McGregor reiht in seinem Roman "So oder so" mehr als 62 Episoden aneinander und springt dabei auch in der Chronologie hin und her. Aus den einzelnen Begebenheiten kann der Leser die Geschichte zusammensetzen, etwa so, wie sich historische Ereignisse aus Artefakten und Aufzeichnungen rekonstruieren lassen.
So oder so