Monika Helfer : Löwenherz

Löwenherz
Löwenherz Originalausgabe Carl Hanser Verlag, München 2022 ISBN 978-3-446-27269-9, 191 Seiten ISBN 978-3-446-27335-1 (eBook) Taschenbuch dtv, München 2023 ISBN 978-3-423-14879-5
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Monika Helfers sechs Jahre jüngerer Bruder Richard ist Schriftsetzer, eine Künstlernatur, ein Mann ohne Ziel und Ehrgeiz, der die Dinge auf sich zukommen lässt. Als ihm Kitti, eine junge, verantwortungslose Frau, ihre drei Jahre alte Tochter "Putzi" aufhalst, lässt er es geschehen, ohne sich über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen – und entwickelt sich zu einem liebevollen Ersatzvater für das Mädchen.
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Kritik

Monika Helfer stellt den Sonderling "Löwenherz" nicht in einem von Anfang an klar umrissenen Bild dar, sondern nähert sich seinem Charakter aus verschiedenen Richtungen, fügt Erinnerungen wie in einem Kaleidoskop aneinander, denkt darüber nach, hinterfragt ihre Vorstellung und reflektiert zwischendurch über den Schreibprozess.
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Familie Helfer

Familie Helfer wohnt auf der Tschengla in Vorarlberg, im Kriegsopfererholungsheim, dessen Verwalter der Vater ist. Als die Töchter Monika und Gretel sechs bzw. acht Jahre alt sind, wird ihr Bruder Richard geboren. Davon erholt sich die Mutter nicht mehr; sie bringt noch eine Tochter auf die Welt, stirbt aber bald darauf. Der Witwer zerbricht dadurch, gibt die Anstellung – und damit auch die Wohnung – auf und zieht sich zurück. Während der inzwischen fünf Jahre alte Richard von Tante Irma und Onkel Pirmin in Feldkirch aufgenommen wird, kommen Gretel, Monika und Renate zu Irmas Schwester Kathe, die mit ihrem Mann Theo und den drei eigenen Kindern in der Südtirolersiedlung in Bregenz-Vorkloster wohnt.

Ich war dreizehn. […] Der Bruder gehörte nicht mehr zu uns. Wie unsere Mutter nicht mehr zu uns gehörte. Weil sie tot war. Wie unser Vater nicht mehr zu uns gehörte, weil er sich in einer Klosterzelle versteckte und sich dort Suppe servieren ließ zwischen seinen Büchern. Wir mussten das endlich einsehen, Gretel, Renate und ich!

Richard, Putzi und Kitti

Richard – vom Vater „Löwenherz“ genannt – absolviert eine Ausbildung zum Schriftsetzer, besteht im Alter von 17 Jahren die Gesellenprüfung und arbeitet in diesem Beruf. In seiner Freizeit malt der Außenseiter, und sobald er mit anderen zusammen ist, fabuliert er mit viel Fantasie Geschichten zusammen, bei denen er vielleicht selbst nicht mehr zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden kann.

Außer seinen Geschichten hatte mein Bruder nicht viel zu bieten. Kein Geld und auch keine Ambition, jemals viel davon zu haben, kein Ehrgeiz.

Er wurde zu einer Figur in den Geschichten, die er sich permanent ausdachte.

Ein Mischlingshund läuft ihm zu. Richard nennt ihn Schamasch. Eines Morgens, als er mit dem Tier unterwegs ist, entdeckt er am Bodensee eine Badewanne, die vermutlich als Pferdetränke dient. Er zieht sie ins Wasser, springt mit Schamasch hinein und lässt sich durch die Strömung des Rheins treiben – bis er ins Wasser fällt.

Durch sein Zappeln und Schreien wird eine hochschwangere Zwanzigjährige auf ihn aufmerksam. Nachdem sie ihrer dreijährigen Tochter eingeschärft hat, nicht wegzulaufen, rudert sie mit einer Kinderluftmatratze zu Richard und rettet ihn. Sie heißt Katharina („Kitti“) und nennt ihre Tochter nur „Putzi“.

Kitti möchte, dass Richard auf Putzi 1 aufpasst, während sie im Krankenhaus Putzi 2 zur Welt bringen wird. Wer Putzi 1 zeugte, weiß sie selbst nicht so genau. Beim Vater des Ungeborenen handelt es sich um ihren Vermieter. Der machte ihr aber bereits klar, das er alles abstreiten und keine Alimente zahlen werde. Bis sie sich von der Geburt erholt habe, könne sie noch in der Wohnung bleiben, dann müsse sie raus.

Bei der Sorge um Putzi wird Richard von seiner Schwester Monika und deren (ersten) Ehemann unterstützt. Monika weist ihren Bruder auf die prekäre Rechtslage hin: Er hat ein Kleinkind bei sich, ohne eine Berechtigung dafür vorweisen zu können und kennt nicht einmal den richtigen Namen. Richard zuckt mit den Schultern. Ohne über Konsequenzen nachzudenken, entwickelt er sich zu einem liebevollen Ersatzvater für Putzi.

Zwei Monate lang lässt Kitti nichts von sich hören. Dann steht sie plötzlich vor der Tür, schiebt Richard zur Seite und zerrt das schreiende Kind mit sich.

Ein paar Monate später gibt Kitti das Baby Simone und Putzi bei Richard ab. Der bringt den Säugling am nächsten Morgen zu seiner Schwester, die gerade mit ihrem Mann und den Kindern Oliver und Undine beim Frühstück sitzt. Putzi verbringt nun die Arbeitstage mit ihm in der Setzerei.

Dann kommt Kitti zurück, und weil Putzi sich dagegen wehrt, nimmt sie nur Simone mit.

Tanja

Ein Jahr nach ihrer Scheidung heiratet Monika Helfer den Schriftsteller Michael [Köhlmeier]. Der hat sich auch mit seinem Schwager Richard Helfer angefreundet.

Kurz nach ihrem 30. Geburtstag [am 18. Oktober 1977) erfährt Monika, dass ihr Bruder eine Lebensgefährtin gefunden hat. Tanja, eine promovierte Wirtschaftsanwältin, ist dreieinhalb Jahre älter als er. Am 21. Juli 1978 heiraten die beiden. Aber die von Tanja gebuchte Hochzeitsreise – Inselhüpfen in Griechenland – kann nicht stattfinden. Richard schützt Flugangst und Seekrankheit vor. Der wahre Grund ist Putzi. Ohne Papiere kann er sie nicht mit über eine Staatsgrenze nehmen. Und dass er nicht Putzis Vater ist, wird Tanja auch erst später erfahren.

Bis zur Eheschließung wohnte Tanja bei ihren Eltern, obwohl sie eine eigene Luxuswohnung besitzt. Nun zieht sie dort mit Richard und Putzi ein, aber Richard lässt den Mietvertrag für seine Wohnung weiterlaufen.

Verlust

Am Silvester-Nachmittag 1978 streifen Richard und Putzi mit dem Hund durch den Wald. Verfrühte Feuerwerkskörper explodieren. Plötzlich ein Schuss. Schamasch wird in den Kopf getroffen. Ein Wilderer rennt davon. Richard trägt den toten Hund nach Hause und schläft dort erschöpft ein, während Tanja in der neuen Wohnung vergeblich auf ihn und Putzi wartet.

Seit sie weiß, dass Richard nicht der Vater des Kindes ist, plant sie juristische Schritte, um Kitti das Sorgerecht zu entziehen und eine Adoption vorzubereiten. Doch ohne den richtigen Namen des Kindes zu kennen, lässt sich kein Verfahren einleiten.

Tanja findet Kittis Adresse in Graz heraus und schreibt ihr. Wenige Tage später steht Kitti mit einem Rechtsanwalt und zwei Muskelprotzen vor der Tür. Richard öffnet. Er kann Kitti nicht daran hindern, das schreiende Kind – das sie nun Ayasha Roya nennt – in das vor dem Haus geparkte Auto zu zerren, in dem ein weiterer Mann gewartet hat.

Zu diesem Zeitpunkt ist Richard 25 Jahre alt.

Monika hört lange nichts von ihm und Tanja.

Ich dachte, obendrein haben sich die beiden scheiden lassen. Haben sie nicht. Tanja aus Beharrlichkeit und Treue nicht, Richard aus Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit nicht.

Im Alter von 30 Jahren nimmt Richard sich das Leben.

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„Löwenherz“, so nannte der Vater den Sohn Richard – und so lautet auch der Titel des Buches, das dessen sechs Jahre ältere Schwester Monika Helfer über ihren Bruder geschrieben hat.

Es ist keine Biografie, sondern ein Roman: Monika Helfer stellt den Sonderling in „Löwenherz“ nicht in einem von Anfang an klar umrissenen Bild dar, sondern nähert sich seinem Charakter aus verschiedenen Richtungen, hinterfragt ihr Bild von ihm und fügt Erinnerungen wie in einem Kaleidoskop aneinander.

Richard ist Schriftsetzer, eine Künstlernatur, ein Mann ohne Ziel und Ehrgeiz, der die Dinge auf sich zukommen lässt. Als ihm Kitti, eine junge, verantwortungslose Frau, ihre drei Jahre alte Tochter „Putzi“ aufhalst, lässt er es geschehen, ohne sich über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen – und entwickelt sich zu einem liebevollen Ersatzvater für das Mädchen.

Richard ist 25, als Kitti es sich anders überlegt und ihm das Kind entreißt. Davon erholt er sich nicht mehr; mit 30 nimmt er sich das Leben.

Monika Helfer entwickelt diese berührende Geschichte ebenso nachdenklich wie unprätentiös. Zwischendurch reflektiert sie über den Schreibprozess, in den sie ihren zweiten Ehemann, den Schriftsteller Michael Köhlmeier, einbezieht. Er ist es, der sie auf die Idee bringt, das Buch „Löwenherz“ zu schreiben:

Nachdem ich Bücher über meine Großmutter und meinen Vater geschrieben hatte, war ich eine Zeit lang sehr unruhig, da hat Michael zu mir gesagt, ich solle ein drittes Buch schreiben, nämlich das Buch über meinen Bruder.

Weil Monika Helfer kein unzutreffendes Bild ihres Bruders zeichnen möchte, lässt sie Michael Köhlmeier ihre Entwürfe lesen und befragt ihn über Richard, mit dem er befreundet war. Von ihm stammt der markante Satz:

Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war wie dem Richard.

Den Roman „Löwenherz“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Monika Helfer selbst.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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