V. S. Naipaul : In einem freien Land
Inhaltsangabe
(1) Prolog - aus einem Tagebuch. Der Tramp in Piräus
(2) Einer von vielen
(3) Sag mir, wen ich umbringen soll
(4) In einem freien Land
(5) Epilog - aus einem Tagebuch. Der Zirkus von Luxor
Kritik
Einer von vielen
Die Handlung der Geschichte beginnt in Bombay, wo der Erzähler, Santosh, als Bediensteter für einen Diplomaten arbeitet. Seinen Tagesablauf kann er weitgehend selbst gestalten. Nachts schläft er auf der Straße, weil es dort kühler als in seinem engen Zimmer ist; dort hat er auch mit Menschen gleicher gesellschaftlicher Zugehörigkeit seine soziale Verankerung. Als sein Dienstherr nach Washington versetzt wird, geht er mit ihm. Schon im Flugzeug erlebt er seinen ersten Kulturschock. In der amerikanischen Großstadt findet er sich nicht zurecht und verlässt deshalb kaum noch das Haus. Je mehr er seinen Herrn durchschaut, desto weniger versteht und achtet er ihn. Sein einziger Kontakt zu Menschen beschränkt sich auf eine in der Wohnung arbeitende Haushaltshilfe: eine hubshi, so nennt man in seinen Heimatland abwertend die Schwarzen. Als er sich eines Tages von ihr verführen lässt, ja, aus seiner Sicht geradezu vergewaltigt wird, fühlt er sich so gedemütigt, dass er ohne Kündigung seinen Herrn und die Wohnung verlässt. Zufällig trifft er einen Inder, der für sein Lokal einen Koch sucht. Gerne nimmt Santosh das Angebot an. Erstmals wähnt er sich frei und für seine Arbeit selbst verantwortlich. Was er allerdings nicht bedenkt: Er hat keine Greencard. Sein Arbeitgeber weiß das nicht. Bei einer amtlichen Kontrolle wird sein illegaler Aufenthalt aufgedeckt. Dem Restaurantbesitzer, der Santosh fast freundschaftlich zugetan ist, fällt nur ein Ausweg ein; er rät ihm, eine hubshi-Frau zu heiraten. Das bedeutet allerdings, dass Santosh sich – in seinen Augen – auf eine gesellschaftlich minderwertige Stufe herablassen muss. Aber es ist die einzige Möglichkeit, die amerikanische Staatsangehörigkeit zu bekommen. Nach Indien kann und will er nicht mehr zurück; dazu hat er zu lange in der „Zivilisation“ gelebt. Der Preis für die „Freiheit“ ist hoch; damit findet er sich fatalistisch ab. „Früher einmal war ich ein Teil des Stroms, ich empfand mich als ein selbstständiges Wesen. … Dann blickte ich in den Spiegel und beschloss, frei zu sein. Das Einzige, was meine Freiheit mit eingebracht hat, ist das Wissen, dass ich ein Gesicht und einen Körper habe und dass ich diesen Körper für eine gewisse Anzahl von Jahren ernähren und kleiden muss. Dann ist alles vorbei.“
Sag mir, wen ich umbringen soll
Der Erzähler – seinen Namen erfahren wir nicht – lebt bei seiner Familie in Trinidad. Schmutz, Krankheit, Lethargie, Verwahrlosung, schlechte Schulbildung kennzeichnen das Leben der hier beschriebenen Menschen. Dayo ist der ältere Bruder des Erzählers; er wird dafür auserkoren nach London zu fahren, um dort zu studieren. Er gilt als der intelligentere der Brüder und soll beweisen, dass er – und damit auch seine ehrgeizige Familie – es zu etwas Besonderem bringen kann. Der angeblich unbeholfenere Jüngere folgt seinem Bruder nach London und unterstützt ihn finanziell und moralisch.
Tag und Nacht arbeitet er in zwei Jobs und spart soviel Geld, dass er eine Imbissbude kaufen kann. Der Betrieb funktioniert aber aus verschiedenen Gründen nicht. Zudem wird sein Laden mehrmals von randalierenden, rassistischen Weißen demoliert. Er muss die Currybude aufgeben und verliert dabei sein gesamtes Geld. Außerdem gehen ihm mittlerweile die Augen auf, dass sein antriebsschwacher Bruder sich von ihm aushalten lässt, seinem Studium nicht mehr nachgeht, die Zeit verbummelt und immer mehr in seinem verschmutzten Rattenloch von Zimmer verwahrlost. Er konnte den Ehrgeiz seiner Eltern also nicht befriedigen und auch der Erzähler sieht ein, dass er das Ziel, seinen Bruder zu einem „Gebildeten“ zu machen, nicht erreicht hat. Dayo heiratet schließlich in London eine Weiße christlichen Glaubens. Resigniert nimmt der ältere Bruder an der erbärmlichen Hochzeitsfeier teil. „… nachdem was mir passiert war, wollte ich nicht, dass jemand davon erfährt, und ich hatte den Einfall, nach Hause melden zu lassen, dass ich tot bin. Und seit dieser Zeit bin ich ein Toter.“
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Vidiadhar Surgajprasad Naipaul wurde 1932 in Trinidad geboren. Schon 1950 hat er den karibischen Staat verlassen und lebt seither in Großbritannien. Er kann wohl aus eigener Erfahrung nachvollziehen, was es heißt, aus seiner gewohnten Umgebung in einen unbekannten Kulturkreis mit einer anderen Religion und fremden Sitten versetzt zu werden.
Jede der beiden besprochenen Erzählungen aus dem band „In einem freien Land“ ist der Bericht über eine Selbstfindung, die in der fremden Umgebung nicht gelingt. Die Individualität der Personen wird durch ihre Entwurzelung zerstört.
Die Geschichten sind in einfachen Worten, eben aus der Sicht der einfachen Menschen, geschrieben. Naipauls Stil wird so charakterisiert: „… keine Intellektuellenprosa, sondern ein lakonisches vor Trockenheit, die nicht mit Dürre zu verwechseln ist, knisterndes Englisch.“ Naipaul selbst bekundet seine Abneigung gegen „Stil“, Symbolik, Experiment.
V. S. Naipaul wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er starb 2018.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002
V. S. Naipaul: An der Biegung des großen Flusses