Leonie Ossowski : Das Dienerzimmer

Das Dienerzimmer
Das Dienerzimmer Erstausgabe: Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999 Ullstein-Verlag, München 2003 ISBN 978-3-548-25606-1, 350 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Geschichte handelt von zwei grundverschiedenen Schwestern in den Kriegswirren Warschaus. Durch ihre Verschleppung nach Deutschland, wo sie als Zwangsarbeiterinnen in einem Schloss (im früheren Dienerzimmer) untergebracht sind, gerät ihre Beziehung aus den Fugen.
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Kritik

Der Roman "Das Dienerzimmer" ist eine flüssig zu lesende tragische Familiengeschichte, die trotz der ausschmückenden Beschreibungen nichts an Spannung verliert.
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Der Roman beginnt ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Mit einem zurückgezogenen Vater und einer pflegebedürftigen Mutter wachsen die beiden Schwestern Halina und Teresa auf.

Halina, die ältere, ist die fürsorgliche, stille Tochter, die sich immer mehr um andere sorgt als um sich selbst. Sie arbeitet in einer Bank und opfert sich auf mit der Pflege der an Herzasthma leidenden Mutter.

Halina die fleißige, Halina die gütige, Halina die verantwortungsvolle, zuverlässige und anständige, ältere Schwester.

Teresa, die feschere, mit ihren grünen Augen und dem roten Haar, versteht es, die häuslichen Pflichten ihrer Schwester zu überlassen. Nach Beendigung ihrer Ausbildung verlässt sie das Elternhaus und nimmt eine Stelle in einer Bibliothek in Posen an. Der Schritt ist von ihrem Naturell her zwar konsequent, bereitet ihr aber auch Schwierigkeiten. Sie leidet unter Angstattacken, und nur Halina gelingt es, sie aus ihrer Verkrampfung zu lösen.

… die Angst aus den Kindertagen, die in ihr wie ein nacktes Tier schlummerte. Es war mit den Jahren in ihr gewachsen, sprang sie an, raubte ihr den Verstand … Schon als Kind hatte sie gelernt, sich gegen diese Angst zu wehren, denn war das Angsttier schneller, sprang sie an und packte zu, dann war Teresa verloren. Es fraß sie auf, nahm ihr nicht nur die Sprache, sondern ließ auch keine Bewegung mehr zu. … Es blieb eine Starrheit, die die Eltern früher verstockt nannten, und nur Halina war es gelungen, die kleine Schwester aus diesem unerträglichen Zustand zu erlösen.

Da sich Halina um ihre immer kränker werdende Mutter kümmert und ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie nur etwas später vom Einkaufen kommt, geht sie nie aus. Manchmal ermutigt die Mutter sie, mit einer zur Floskel verkommenen Aufforderung, sie solle sich doch mal amüsieren.

Halina, sagte sie in immer der gleichen Tonlage, ich stehl‘ dir mit meiner Krankheit dein Leben. Du bist mit deinen vierundzwanzig Jahren viel zu jung, um ständig meinetwegen zu Hause zu bleiben. Geh wenigstens mal ins Kino.

Normalerweise lehnt sie das mit dem immer gleichen Satz ab: „Lass nur, Mama, es macht mir nichts aus. … Mir ist viel wichtiger, dass es dir gutgeht.“ Aber an einem Frühlingsnachmittag geht sie tatsächlich ins Kino – und lernt einen jungen Mann kennen: Radek, der sich vertrauenserweckend und einfühlsam mit ihr abgibt. Sie treffen sich häufiger; sie wird seine Geliebte und es dauert nicht lange, bis sie heiraten.

Bei der Hochzeit flirtet Teresa mit Radek. Sie ist aber eifersüchtig auf ihn, weil er ihr die Schwester weggenommen hat.

Um in der Nähe der alten Eltern zu sein, nimmt sich das junge Paar eine Wohnung in der Nähe. Halina hat nun den eigenen Haushalt zu versorgen, geht zur Arbeit und pflegt weiterhin die Mutter.

Teresa zieht in Posen in eine andere Wohnung um. Halina bittet Radek, seiner Schwägerin dabei zu helfen. Sie selbst kann die Mutter ja nicht allein lassen. Zögernd willigt er ein. Er traut sich wohl selbst nicht ganz, denn er fühlt sich von Teresa sehr angezogen. Und tatsächlich betrügt er seine Frau mit ihr.

Die Furcht vor einem Krieg hatte in Warschau schon längere Zeit die Bewohner in Atem gehalten. Aufgrund der polnischen Mobilmachung, die kurz vor dem 1. September 1939 (als die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte) in Kraft trat, wird Radek zum Militär eingezogen.

In Posen werden Angestellte der Bibliothek, in der Teresa arbeitet, von den Deutschen verhaftet. Sie holt aus ihrer Wohnung das Wichtigste und geht auf und davon – zu Halina.

Teresa erlebt jetzt hautnah das Elend mit den alten verschreckten Eltern. Die Zerstörung der Stadt und die somit eingeschränkten Wohnverhältnisse sowie der Mangel an Lebensmitteln lassen die beiden Schwestern wieder in ihre frühere Vertrautheit zusammenfinden.

Mit jedem Tag zeigten sich wieder die alten Abhängigkeiten. Auf der einen Seite Teresas unbewusster Wunsch, Halina werde sie aus der Bedrängnis ihres augenblicklichen Lebens herausholen, auf der anderen Seite Halinas ungebrochenes Bedürfnis, Teresa zu beschützen. Radek spielte in dieser Zweisamkeit keine Rolle. Beide hatten jede auf ihre Weise von ihm Besitz ergriffen, und wenn sie von ihm sprachen, dann nur in der Erwartung, dass er am Leben sei und bald nach Hause käme.

Mager und verstört kommt Radek aus dem Krieg zurück. Er macht sich Vorwürfe, dass er beim Rücktransport im Zug mit verwundeten Kameraden als Einziger unversehrt davonkam. „Statt ihnen zu helfen, bin ich abgehauen.“

Er ist nicht in der Lage mit Halina zu schlafen. Auch von der Anwesenheit Teresas ist er irritiert. Es gelingt ihm, dem ehemaligen Heizungsingenieur, in einer Bäckerei eine Stelle zu finden, wo er Mehlsäcke schleppen muss. Halina arbeitet in einer städtischen Behörde. Zum Überleben muss Schmuck auf dem Schwarzmarkt verkauft werden. Etwas Gemüse bringt der kleine Garten der Großeltern. Radek sorgt für Mehl aus der Bäckerei und Teresa, die an der Pforte eines Krankenhauses arbeitet, kann Medikamente für die Mutter organisieren.

Immer war es Halina, die versuchte, gute Stimmung zu machen und die Familie aufzuheitern. Wir können froh sein, dass es uns geht,wie es uns geht, war ihr Lieblingsspruch. Dabei streichelte sie Radek über den Kopf oder küsste sein Ohr, egal, ob er darauf einging oder nicht. Es war, als spürte sie die Enge der Wohnung nicht, nicht den Geruch, der von der immer kränker werdenen Mutter ausging, der sichmit dem Dampf der Kohlsuppe mischte und für immer in die Tapeten zog.

An Halinas Geburtstag wollen sie abends zum Feiern ausgehen. Alle drei haben sich so schöngemacht, wie das möglich war. Auf der Straße bemerken sie eine Menschenansammlung und wollen einen anderen Weg nehmen. Aber da ist es schon zu spät. Es fallen Schüsse; die Straße ist durch Lkws blockiert. Radek wird abgedrängt. Halina und Teresa halten sich an den Händen. Teresa wird von einem Hieb auf den Kopf getroffen, aber Halina kann sie mit sich ziehen. Beide werden in einen Lkw gestoßen. Auf dem Bürgersteig sehen sie nur noch ein paar Erschossene. Ist Radek auch dabei?

Teresa denkt sich sofort Pläne für eine Flucht aus. Eingequetscht zwischen anderen kreischenden Frauen, erscheint dies jedoch nicht realistisch. Auf einen Güterzug umgeladen, treffen sie am nächsten Morgen in einer kleinen Stadt ein. Es ist eine deutsche Stadt!

Teresa hat sich während der Fahrt im zugigen Güterwaggon stark erkältet. Sie glüht vor Fieber. Dieser Umstand verhilft ihr und Halina, dass sie nicht mit den anderen Frauen aus dem Transport auf die Rübenfelder müssen. Der Traktorfahrer, Ludwik Janik, ein schon früher verschleppter Pole, zeigt sich hilfsbereit und bringt sie zu dem Gut, auf dem er als Zwangsarbeiter tätig ist. Der Gutsbesitzer, der Herr Major, und seine Frau, nehmen die beiden verängstigten Schwestern in ihrem Schloss auf, wo diese im ehemaligen Dienerzimmer wohnen dürfen.

Halina wird als Putzfrau und – weil sie sich geschickt anstellt – auch als Hilfe im Haus eingesetzt. Die Baronin sorgt dafür, dass ein Arzt die noch immer hustende und fiebernde Teresa untersucht.

Nachdem Teresa sich von ihrer Lungenentzündung langsam erholt hat, erwartet man von ihr, dass sie sich ebenfalls im Hause nützlich macht. Sie hatte sich schon in Warschau geweigert, für Deutsche zu arbeiten – und diese Einstellung behält sie bei. Ihre kategorische Ablehnung bringt Halina in Erklärungsnot. Sie redet sich darauf hinaus, dass ihre Schwester nicht ganz klar im Kopf ist. Hatten die Küchenfrauen doch selbst gesehen, wie Teresa einfach umfiel und Krämpfe bekam, seinerzeit als man sie gegen ihren Willen Rüben putzen ließ.

Halina redet auf ihre Schwester ein, es ihr nicht so schwer zu machen. Durch ihren Trotz müsse sie für zwei arbeiten, und eigentlich sollte sie doch dankbar sein, hier bleiben zu dürfen. Durch die Fürsprache von Anna, der Tochter der Gutsbesitzer, werden die zwei Zwangsarbeiterinnen nicht auf der Ortspolizei gemeldet und entgehen damit einer Deportation in ein Arbeits- oder Konzentrationslager.

Durch die Untätigkeit in dem kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer wird Teresa immer unzufriedener und gereizter. Ihr Haar wird stumpf, und zugenommen hat sie auch.

Nicht dass sie dick geworden war, aber aufgeschwemmt, von Tag zu Tag weißhäutiger, nahm sie etwas Drohnenartiges an. Sie bewegte sich kaum, gab wenig Antworten, stellte keine Fragen, aß und schlief und schlief und aß.

Die Ungewissheit, ob Radek noch lebt und dass sie mit Halina nicht über ihn sprechen kann, bringt sie zur Verzweiflung. Sie hat es sich angewöhnt, nachts aus dem Zimmer zu schleichen und im Park herumzulaufen. Sie sucht Radek, sie halluziniert ihn herbei, sieht ihn in den Bäumen sitzen und hört ihn im Pferdestall zu ihr sprechen. Wenn sie sich dann morgens wieder in ihr Bett legt, steht Halina gerade auf.

Seit einem Jahr sind sie nun in dem Dienerzimmer. Mit Sorge beobachtet Halina ihre Schwester. Diese liest nichts, interessiert sich nicht für die Vorkommnisse im Schloss und die Arbeit Halinas; vom Verlauf des Krieges will sie ebenfalls nichts wissen. Ihre nächtlichen Ausflüge hat Halina mittlerweile auch bemerkt.

Deprimiert ist sie außerdem, weil sich die Gutsbesitzer überhaupt nicht über ihrer beiden Herkunft und Schicksal interessieren.

Sie fragten sich … nicht, warum Teresa nicht arbeiten wollte, keinen Gruß erwiderte und keine Frage beantwortete, ob sie nur halsstarrig war oder tatsächlich krank. Es genügte ihnen, dass die beiden ein Dach über dem Kopf hatten, zu essen bekamen und Halina im Haus arbeiten durfte. Alle … sahen damit das Menschenmögliche erfüllt.

Als Teresa wieder einmal nachts im Park nach Radek sucht, entdeckt sie, dass die Tochter der Gutsbesitzer und der polnische Zwangsarbeiter Ludwik Janik sich heimlich treffen und sich in einer der Kutschen lieben. Wie gebannt beobachtet sie den Geschlechtsverkehr und projiziert sich an die Stelle von Anna, und in Ludwik sieht sie Radek. Jedesmal wenn sie den beiden beim Liebesspiel zusehen kann, ist die Voyeurin fasziniert. Ihr Verlangen nach Radek nimmt immer deutlicher neurotische Züge an.

Eines Abends stellt Halina ihre Schwester wegen ihrer nächtlichen Herumtreiberei zur Rede. Teresa fragt, warum sie dies jetzt erst anspreche, wenn sie schon so lange davon wisse. Halina meint, es hätte bisher am richtigen Zeitpunkt gefehlt. Aber dieser Zeitpunkt sei jetzt da.

Schließlich ist es ja auch mein Leben, das du ständig mit aufs Spiel setzt. Wenn wir deinetwegen noch vor Kriegsende hier weggebracht werden und in ein Arbeitslager müssen oder in ein KZ ,möchte ich wenigstens wissen warum.
Sie standen sich gegenüber, und zum ersten Mal spürten sie Hass aufeinander.

Als Teresa sagt, sie gehe nachts ganz einfach spazieren, verliert Halina die Beherrschung und ohrfeigt ihre Schwester.

Es dauert noch ein paar Tage, bis Teresa in einem verzweifelten Gemütsausbruch ihrer Schwester gesteht, dass sie Radek liebt und mit ihm ein Verhältnis hatte.

Ich weiß, wie unendlich ich dich damit verletzt habe, wie enttäuscht du sein musst und dass du mich jetzt für immer hasst. … Ich hätte mit dieser Lüge weiterleben müssen, so schwer mir das auch gefallen wäre. Aber plötzlich hatte ich das sinnlose Bedürfnis, mich davon zu befreien und dir die Wahrheit zu sagen.
Du warst fast vier Jahre lang, ohne es zu wissen, meine Rivalin. Radek hat nie etwas auf dich kommen lassen. Er war es auch, der nicht wollte, dass du etwas von unserer Liebe erfährst.

Seit diesem Geständnis spricht Halina nicht mehr mit Teresa. In dem kleinen Dienerzimmer können sie einander nicht ausweichen. Die nervliche Anspannung wird unerträglich, aber Halina gibt nicht nach, antwortet auf keine Frage. Zum erstenmal nimmt sie sich als Person wichtig.

Als absehbar ist, dass die sowjetische Armee immer näher kommt, entschließt sich die Gutsbesitzerfamilie, ihren siebenhundert Jahre alten Familienbesitz zu verlassen. Sie packen ein Fuhrwerk voll, spannen ein Pferd an und fliehen.

Teresa will heim nach Warschau. Allein zu gehen, hat sie Angst. Aber Halina will nicht mitkommen. „Und warum nicht?“, will Teresa wissen. „Weil ich den Heimweg nicht mit einem Menschen antreten möchte, zu dem ich kein Vertrauen mehr habe.“ Teresa nimmt sich ein paar warme Kleidungsstücke, die die Baronin zurückgelassen hat und macht sich auf den Weg.

Auf dem Schloss mussten viele Bilder, wertvolles Porzellan, Silberbesteck etc. zurückgelassen werden. Halina packt soviel wie möglich in einen großen Korb, lässt sich von dem noch ausharrenden Kutscher einen Wagen anspannen und den Weg erklären, auf dem sie ihre Herrschaft in dem Flüchtlingstreck finden kann. Es gelingt ihr auch, ihre Leute zu finden und ihnen die mitgebrachten Gegenstände zu übergeben. Sie bedankt sich für die Aufnahme im Schloss. Am nächsten Morgen ist sie ohne Verabschiedung verschwunden.

Teresa ist in Warschau angekommen. Und Radek lebt. Sie waren zwar zusammen, geheiratet hat Radek sie aber nicht. Teresa war zu weiteren Lebenslügen unfähig und hat Radek die Wahrheit erzählt.

Radek sprach es nicht aus, aber er begriff, dass Halina ihrer Schwester das Leben gerettet und wie zum Dank dafür seinen Betrug mit Teresa erfahren hatte. Von nun an stand ihr Verrat wie eine Hürde zwischen ihnen, die von Tag zu Tag wuchs und die weder Radek noch Teresa je bewältigten.

Halina ist wohl nicht in Warschau angekommen. Sie meldete sich jedenfalls nicht bei Teresa oder Radek. Es gab Hinweise, dass sie zwischen die Fronten geraten war und dabei umkam.

… Halinas Schicksal [blieb] ebenso umstritten wie ungewiss, wodurch die Erinnerung an sie stetig zunahm und nie ein Ende fand.

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Zwei grundverschiedene Schwestern, die – wie sie meinen – nicht ohne einander auskommen können, sind in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in Warschau mit einer Situation konfrontiert, die sie beide in eine persönliche Krise wirft. Der Vertrauensbruch einer der Schwestern zerstört ihre Beziehung.

Das Verhalten der Figuren in „Das Dienerzimmer“ ist sehr gut nachvollziehbar, und der Leser verfolgt mit Spannung, wie sich deren Leben weiterentwickelt.

Leonie Ossowski wurde 2006 mit der Hermann-Kesten-Medaille des PEN-Zentrums ausgezeichnet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2003
Textauszüge: © Hoffmann und Campe

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